Im Web-Tagebuch fallen die Tage wie Blätter.
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Indem man sie von den Bäumen scrollt, kehrt der Begriff in sein Zeichen zurück und fällt in lose, sich lockernde Erde. Wer sich auf diese Weise rückwärts durch die notierte Zeit bewegt, fällt mit. Und zerfällt.
Dieses Zerfallen gilt intessanterweise, jedenfalls in Den Dschungeln, fast nur für das „Tagebuch“, aber gilt für sämtliche „Plauderblogs“. Man wird in ihnen seiner Unausgefülltheit, wird sich der halb-, ja leergebliebenen Tage bewußt. Wie wenig war oft erreicht und wie vieles vorgenommen, doch vernichtend flach gelebt. Wir spüren das als entfernten Schmerz: Das ist ein anderes Wort für Melancholie. Sie nimmt sie physikalisch wahr, etwa nach Art einer Hintergrundstrahlung. Die holt, wer zurücksurft, nach vorne. Er nähert sich der Trauer in den Cyberräumen. Wir zerfallen m i t den Blättern und spüren uns als Verlust, nämlich als Vergangenheit. Als eine Möglichkeit, die ungenutzt verging. Zu vergehen bedeutet, sich aufzulösen.
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Nach hinten zu „blättern“ bedeckt das, was verging, mit der Zukunft, dem Tod. Weil sie das spüren, weil sie das ahnen, vermeiden die Leser den älteren Beitrag und halten sich rein am Aktuellen. Das aber a u c h schon zurückfällt. Dagegen schreibt der Blogger an.
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Das Literarische Weblog versucht, sich n i c h t festzuhalten. Aber es fängt auf.
Immer wieder das Vergangene überprüfen, es wenden, umformulieren: Manches, so merkt man, fiel gleichfalls. Dann gehört es ins Tagebuch oder ins „Camp“, jedenfalls nicht in den ästhetischen Text; es muß gelöscht oder neu bearbeitet werden. Der Vorgang hat eine deutliche Analogie zu den Traumversuchen um Desnos, Crevel, Breton: Die schrieben ihre Träume auf und strichen dann alles aus dem Text, was erklärlich war; nur das scheinbar Unerklärliche wurde zur poetischen Wahrheit. Das Erklärliche h i e r ist der (meistens private) Zeitbezug und wird aus dem Sprach- und Erkenntnisteppich herausgenommen.