Der Sanfte (3). Die brutale Abwesenheit.

Nun ist alles zerrissen, zwar das Metallgatter wie immer geschlossen, und von draußen ist keine Bewegung zu erkennen. Aber kaum habe ich es angehoben und stapfe durch den leichten Regen nur zweidrei Meter voran – klamm weht es aus den klaffenden Garagentüren heraus –, kommt mir ein erster Stadtstreicher entgegen. Nicht der von gestern, sondern ein wieder anderer. Und abermals der mißtrauische Blick eines getretenen Köters, nunmehr allerdings zu sofortigem Kläffen bereit. Auch heute also kein Abschied, n i e m a l s mehr Abschied von hier, nicht die leise liebende Melancholie, die am Platze wäre. Dafür ist die Zeit verpaßt. Sondern nun sind gleich d r e i Garagen besetzt, und die Heimstatt des Sanften wurde geplündert: Heruntergerissen das Schild NUR FÜR FREUNDE, ich sehe es nirgends am Boden, man wird es ins Gebüsch geschmissen haben. Die Tür so gewaltsam aufgebrochen, daß beide Flügel kaum noch in der Angel hängen. Herausgezerrt von innen alles, was verwertbar war, und gefleddert und mit anderem Zeug wieder hineingewuchtet. Es mag einen Streit gegeben haben nachts, vielleicht Schlägereien. Jetzt sitzen ein paar Leute um den niedrigen Tisch auf gekürzten Stühlen, eine Batterie Bierflaschen über die Platte verteilt, es riecht nach altem Tabak. Aufgequollene Matratzen sind drinnen übereinandergeworfen. Und aus einer hinteren Garagentür kommt ein wiedernächster Miserabler.
„Give me a cigarette!“
Ich muß bedauern, habe die Packung auf meinem Schreibtisch liegenlassen: „Sorry, I don’t have any with me.“
“Ye can bye some!” ruft er. “Or give me money!”
Ich drehe mich um.
„Bye some!“ ruft er mir nach.
Ich reagiere gar nicht mehr. Ich fühle sie Witterung nehmen.

(Nachts, wäre mein Sanfter noch dagewesen, hätte die Horde sich an die Brache herangeschlichen, still hätte Mann für Mann das Gatter durchschlüpft, auf Stiefelspitzen, die sich schon schärften für ihn, hätten sie sich vorsichtig durchs Gestrüpp bis an seine Tür, NUR FÜR FREUNDE, gedrückt, um sie dann mit gewaltigen Rucken aufzureißen und über ihn herzufallen. Er wäre kaum dazugekommen zu schreien, aber wenn doch… die Bewohner der angrenzenden Häuser hätten schleunigst die Fenster geschlossen und sich die Decken über die Ohren gezogen. Während ich die Straße überquere, begreife ich: Es war für ihn auch symbolisch an der Zeit. Denn die Geister der Hyänen hatten sich zusammengefunden, der Sommerfrieden war für ihn in Berlin auch anderweitig vorüber. Er hatte flüchten müssen. Denn auch einer wie ich hätte ihm nicht helfen können.
So nehme ich das Bild eines geschlachteten und aufgebrochenen Hühnchens, dessen Eingeweide zur Abschreckung, NUR FÜR FREUNDE, um einen drohend ins Gestrüpp gebohrten Stock gewunden sind, mit mir in die Analyse hinein.)

Daß Menschen einen Ort v e r w a i s e n können! Daß Verheerung Verwaisung wird!

>>>> 4
2 <<<<

[Hans Pfitzner, Das dunkle Reich op. 38.]

3 thoughts on “Der Sanfte (3). Die brutale Abwesenheit.

  1. Der Sanfte (3) Wo ist denn das Bild der geplünderten Stätte von gestern Nachmittag geblieben? Falls damit nicht jede Anmerkung gegenstandslos geworden ist, hätte ich gesagt, Also doch Beckett (aber nicht der als miesepetrig verstandene). Das Ende dieses Textes bringt einen aber wieder zurück zum “Verwaiser”. WM

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahren Sie mehr darüber, wie Ihre Kommentardaten verarbeitet werden .