Dorothea Dieckmann, 3. September 2004, 12.26 Uhr:
Lieber ANH,
„Sprengstoff“ … Was sagen Sie zur ZEIT-Rezension? Wer ist eigentlich
dieser Falcke – Lohnschreiber, Erfüllungsgehilfe? Wer führt hier Krieg?
Radisch gegen … Herbst?
Ich finde, sie hätte – selbst wenn es „Zufall“ wäre, daß ihr hier einer nach
dem Mund redet – so viel Schamgefühl haben müssen, diesen Artikel nicht zu
drucken: um allein den Verdacht nicht aufkommen zu lassen, daß hier nach
Direktive geschrieben wird.
Häng’s aber tiefer, als es jetzt klingt.
Herbstlich,
DD
ANH, 3. September 2004, 13.23 Uhr:
Das hab ich noch gar nicht gelesen. Und will das auch erst einmal nicht… zu sehr dräut mein Buchverbots-Prozeß, das ist alles eklig genug. Und ich sitze an einer Erzählung, nach der ich seit drei Wochen suchte und für die ich gestern – einfach, weil ich die Notiz einer Beobachtung ins Weblog übertrug – den Anfang fand — „Dionysos in Linz“ wollt ich das Ding erst nennen, aber jetzt heißt es „Isabella Maria Vergana“ und reiht sich in eine Reihe halbrealer, halb mythischer Frauenfiguren ein, die mich seit Jahrzehnten begleiten. Da muß ich konzentriert sein und kann mich nicht von anfallenden Depressionen wegen der üblichen Betriebsmieserei ablenken lassen.
Aber Radisch gegen Herbst, ganz sicher. Iris rächt sich für einen Irrtum ihrer Partnerwahl vor nun bald 22 Jahren. Herrn Falcke hingegen kenne ich nicht. Sollte er in seinem Artikel mich und meine Rezension erwähnt haben, dann dürfte das nur ein Zeichen dafür sein, wie genau ich den Schmiß schlug, der den Wohlgerechten nun an der Wange schmerzt. [Aufgrund von Anobellas hierunter stehendem Kommentar grundlos geworden und also gestrichen.]
Daß Sie von Schamgefühl innerhalb des Literaturbetriebs sprechen, schockiert mich allerdings fast. Auch Sie – wie ich – glauben also noch an ästhetische Wahrheit im Feuilleton…
Herzlich
ANH
Der Artikel von Falcke ist einfach nur ein Verriss. Falcke steht auf dem Standpunkt, dass das Buch Dieckmanns menschelt und es ihr NICHT gelingt, sich überzeugend in das Innerste eines Gefangenen auf Guantanamo zu begeben. Ich denke, dieser Kritik (der Mitnahme eines Themas, das in der Luft liegt) wird sie sich mit diesem Guantanomo-Bezug immer wieder aussetzen – das hat auch nichts mit politisch oder unpolitisch zu tun, wie sie in Klagenfurt unterstellte. WARUM der Bezug? Es wäre genausogut ohne Guantanamo gegangen. Das hätte meiner Ansicht nach aber auch der Verlag voraussehen können.
Und von Ihnen ist nicht mit einem Wort die Rede …
Hoffentlich wird meine Schrift nicht so klein wiedergegeben, wie ich sie sehe.
A.
Guantánamo ist auch im Titel richtig gewählt. Und es handelt sich um ein großartiges Buch, das nur nicht in den politisch US-schleimenden Bezug paßt, da unsere Feuilletonisten halt nicht gern auf Ihre gelegentlichen Leeraufträge in dem derzeit die Menschenrechte furchtbar mißachtenden Land verzichten. Aber lesen Sie den Roman einfach. „Gemenschelt“ – übrigens ein Nazi-Wort – wird in dem Text nicht eine Zeile lang. Ich habe darüber geschrieben und meine Ansicht mehr als belegt.
Lasen S i e es?
Und wieso sollte ein Verlag, wenn ein Titel richtig ist, ihn zensieren, nur weil er Protest voraussieht? Das fehlte ja nun noch!
Und was den letzten Einwand anbelangt: An dem Roman ist derart viel recherchiert, daß man ihm ganz sicher nicht vorwerfen kann, er habe ein Thema gewählt, das im Zeitgeist am Rande mal so mitgenommen werden konnte.
Lieber ANH, ich will den Text nicht lesen, zumindest im Moment nicht. Da liegt genug auf meinem Nachttisch. Aber ich sage Ihnen gern, dass ich von dem Text nur jenen Teil kenne, den sie selbst gelesen hat in Klagenfurt. (siehe Link, ich kann das allerdings immer noch nicht so schön wie Sie). Und ich dachte genau das (salopp gesagt): Schade Mädel, warum hast du das Wort „Guantanamo“ nicht rausgelassen, dann würden jetzt alle nicht so über dich herfallen. Und eine Stunde später dachte ich: Schade Mädel, dass du die „Klagenfurt-erträgt-keine-politischen-Texte“-Keule (!) geschwungen hast, das klingt irgendwie vergrätzt. Und jetzt denke ich „Schade, Mädel, dass du einem Kritiker gleich den Erfüllungsgehilfe andichtest und in einer Mail gleich auf einen Konflikt Radisch gegen Herbst hochpokerst. (Obwohl ich das Gefühl habe, dass mich dieser Brief IM GRUNDE nichts angeht): das klingt jetzt irgendwie SEHR vergrätzt.
Im Übrigen finde ich den Text – zumindest jenen Teil, den ich kenne – für sehr gelungen. Nur den Guantanomo-Bezug nicht.
Mein erster Impuls war, Ihnen drunter zu schreiben „Schreib über das, was du kennst“. Da ich jedoch „Lagergeschichten“ aus meiner eigenen Familie kenne und weiß, dass keiner von uns auf die Idee käme, sie aufzuschreiben, spricht das vielleicht für diesen Roman. Aber ich kenne ihn wie gesagt nicht. Das was ich kenne, fand ich gut. Das mit dem Titel halte ich für unklug – jeder wäre sowieso darauf gekommen.
Das ist alles.
Schönen abend noch, A.
http://bachmannpreis.orf.at/bachmannpreis/texte/stories/13392/
Es geht auch darum, Position zu beziehen. Und genau das geht ohne den Vorwurf der Menschenrechtsverletzung nicht, den dieses Buch – neben seiner großen künstlerischen Qualität a u ch darstellt und der sich eben genau darin äußert, daß b e n a n n t wird. Ich würde umgekehrt argumentieren: Hätte Dieckmann das Buch anders genannt, wäre das ein Ausdruck von Selbstzensur gewesen, die vor der Öffentlichen Meinung kuscht. Eine Autorin oder ein Autor, die oder der das tut, hat aber alles poetische Recht verloren und schlägt sich in bestem Fall auf die Seite einer „inneren Emigration“, die tatenlos zusieht, wie nebenan gemordet wird. Daß jetzt einige Feuilletonisten auf das – ich wiederhole: großartige – Buch einschlagen, hat ausschließlich damit zu tun, daß es deren eigene, zu nahezu jeder Form von Heuchelei bereite Haltung bloßstellt.
Ich gehe sogar weiter und meine, daß es Verpflichtung gerade einer deutschen Autorin oder eines deutschen Autors ist, in diesen Dingen nicht zu kuschen; wenn wir aus unserer furchtbaren Geschichte denn überhaupt etwas gelernt haben müssen, dann eben dies: Haltung zu zeigen. Auf die Gesetze des Marktes ist da in jedem Fall zu scheißen. Um es n o c h anders zu sagen: Ein Land, dessen Repräsentanten sich expressis verbis gegen den Volkerrechtsverstoß eines Kriegs im Irak gewandt haben, aber denen, die ihn führten, dennoch die Überflugrechte genehmigten, hat Dichterinnen wie die Dieckmann bitter, aber s e h r bitter nötig.
Was „sowieso auf dem Nachttisch liegt“ halte ich in diesem Zusammenhang für, verzeihen Sie schon, arg uninteressant. Jedenfalls wenn man in dieser Sache mit Recht den Mund auftun möchte und auftut.
wenn man das wettlesen im tv gesehen hat, weiß man etwa, worum es geht. den zeit-artikel kann ich nicht nachlesen, finde ihn nicht auf der zeit-site und auch nicht verlinkt.
ich sehe beide standpunkte; meine, es will eine insiderdikussion sein. würde trotzdem gerne den artikel des anstoßes lesen.
falcke tut wohl das, was viele rezensenten tun: sie erfinden sich schnell – für die dauer ihres schriebs – eine super-moral, die sie zu anwälten der wahren sichtweise und zu wissenden über die wirklichen moralischen verhältnisse macht. daß sie dabei zum zweck der selbsterhebnung schriftsteller und ihre werke mißhandeln, ist sitte und üblich geworden; leider. was für einen peinlichen, dummen beruf sich falcke und seinesgleichen doch gewählt haben.
ich werde dieckmanns roman lesen, aber auch erst später, weil eben … 🙂
edit:
daß „menscheln“ ein nazi-wort ist, war mir neu. wird es doch auch in wien oft verwendet. und so wunderts mich dann doch nicht. aber leichte übelkeit macht sich schon breit.
„gutmenschen“ ist auch ein wort, daß in österreich von rechtsstehenden (regierung, mehrheit der bevölkerung) gern verwendet wird, wenn sie ihre eigene passivität und verlogenheit rechtfertigen wollen und opferlämmer suchen; und finden, nämlich engagierte und mutige zeitgenossen.
Ich helfe gerne http://www.zeit.de/2004/37/L-Dieckmann
Der Artikel des „Erfüllungsgehilfen“ steht online auf zeit.de unter der rubrik literatur. Ich würde ihn nicht einmal so sehr als Verriss auffassen, gebe aber zu, dass auf meinem Nachttisch auch ziemlich viel herumliegt, das darauf wartet, gelesen zu werden, und erlaube mir auch, hier meine eigenen Prioritäten zu setzen und dennoch den Mund aufzutun, da es in diesem Beitrag hier nicht primär um das BUCH ging, sondern um die Rezension und hinzu kommt: Es ging auch nicht darum, ob Deutschland dieses Buch bitter nötig hat oder nicht.Es ging um den Tenor der Rezension. Oder eigentlich, um den Tenor eines Briefwechsels über diese Rezension. Deutschland hätte so vieles bitter nötig, das ist wohl wahr.
„Der auf den ersten Blick so dichte, gekonnte Text selbst bekommt schnell etwas Zwielichtiges. Gewiss war es ein schriftstellerisches Exerzitium, all diese Einzelheiten von Einschließung und Schmerz imaginativ aus sich hervorzuholen. Umso merkwürdiger mutet es an, wie schnell der Eindruck äußerster Beschreibungsintensität zerfällt. Ohne die geringste Irritation durchgezogen, kippt der drängende Stil um ins Virtuosenstück, in Manier und Masche. Schließlich verwandelt die beinharte erzählerische Selbstgewissheit den Text in eine hohl klappernde Litanei.“ (Falcke’s Rezension) – Fazit: Der schriftsteller macht mal eben ein exerzitium, das gelingt ihm sehr gekonnt mit seinem drängenden stil. aber er soll sich doch bitte nicht in selbstgewissheit baden, schließlich gibt’s ja auch andere probleme auf der welt en masse. und erst all die schmerzduselei. bah! wie hohl dies „vivisezieren“ des körpers! alles nur masche! alles quark! und dann war der schriftsteller selber gar nie in guantanamo. alles lüge! die selber mal in gefangenschaft waren, die dürfen. ansonsten darf man sich nicht mit beschäftigen. hohl! kz’s hat’s wahrscheinlich auch nie gegeben: oder waren Sie mal in einem solchen?
Gott, entschuldigung aber ich verabschiede mich hiermit aus der Diskussion und von diesem Blog.
Bitte um Nachsicht.
Widerspruch AUCH in Ihr Projekt einbauen Ihre Ausführungen über Iris Radischs Privatdispositionen sind jedoch INTERESSANT? (Da scheint mir der EMPFINDLICHE Dichter etwas nicht zu Ende gedacht zu haben). Private (Insider-) Korrespondenzen über Dritte (Personen des öffentlichen Lebens/oder NICHT) haben im www nichts verloren. Das macht Leser Ihres Weblogs, die ANDERE Rubriken zu schätzen wissen, zu unfreiwilligen Voyeuren. A.
Nun ja. Voyeure können auch Wissende werden. Und bisweilen ist es gerade das vermeintlich Private, das eine öffentliche Diskussion untergründig bestimmt. Ihre Einlassung impliziert, daß die Zumutung, die der Arbeitgeber seiner Sekretärin privat widerfahren läßt, wenn er ihre Beförderung von einer gemeinsamen Nacht abhängig macht, verschwiegen gehört. In der Hinsicht bin ich völlig anderer Ansicht.
Das Problem ist: Nahezu jede Form der Korruption ist höchst privat motiviert. Wenn ich – wie bisweilen geschehen – von homosexuellen Radakteuren billet-doux‘ bekam, so ist das sicher eine private Angelegenheit, die wirklich nicht ins Literarische Weblog gehört; wenn ich aber dann aber, nachdem ich die Angebotsbrieflein abschlägig bescheide, keinen Auftrag mehr erhalte, so ist damit jede Privatheit verloren gegangen, da der Vorgang etwas Öffentliches über Produktionsverhältnisse aussagt. Ja, die Veröffentlichung ist in solchem Fall die einzige Möglichkeit, sich zu wehren.
@ElsaLaska: Weshalb Nachsicht? Sie sind doch völlig frei. Auch wenn Gott (welcher?) n i c h t entschuldigen sollte.
Dorothea Dieckmanns Antwort auf diese Diskussion. Per email an mich geschickt, damit ich sie hier einstelle.
So, Mädels.
Mein Mailchen mit der Spekulation, ob und in welchen Hintergrund „Krieg“ Herr Falcke sich hat schicken lassen, ist nicht auf meinen Wunsch ins Weblog gestellt worden – wenn ich auch gar nichts dagegen habe. Es enthält eine spontane Reaktion und Spekulation auf die Lektüre des Verrisses, der mich natürlich nicht kalt gelassen hat (das „vergrätzt“ zu nennen, ist, Verzeihung, dickfelliges pädagogisches Gehabe).
Für einmal und nicht mehr:
1. In Klagenfurt habe ich nie formuliert, man sei da gegen politische Texte (zumal ich meinen nicht einfach als “politischen Text” begreife). Solches Partisanengetue liegt mir fern. Ich habe im Interview gesagt, daß es symptomatisch ist (für die literaturkritische [Im]Potenz der Juroren), daß angesichts solcher Themen nicht über die Texte, sondern über die Wirklichkeit gesprochen wird. So war bei Juli Zeh die Frage, ob es wirklich so auf den Schulhöfen zugeht, wie sie es beschrieb. Und bei mir, ob man wissen kann, wie es in Guantánamo wirklich zugeht.
2. Schade also, heute noch auf die jedem Deutsch-Schüler geläufige Erkenntnis hinweisen zu müssen, daß es im Medium Literatur nicht um Wissen geht, sondern um (subjektive) Gewißheit, nicht um die Wirklichkeit, sondern darum, jede Wirklichkeit, z.B. die medial vermittelte, anzuzweifeln. Deshalb steht literarische Wirklichkeit nie in “Konkurrenz” zur wirklichen Wirklichkeit; genau das haben aber, in unheimlicher Gleichsinnigkeit, “Klagenfurt” und die ZEIT-Rezension von meinem Text behauptet.
3. Trotzdem ist es überhaupt nicht verwunderlich, daß der Titel diese Kategorien wieder einmal zum Tanzen bringt. Das kann ja nur gut sein – obwohl nicht beabsichtigt, als ich den Titel wählte, denn da fiel noch niemandem etwas Reales dazu ein. Tja, es wäre “klug” gewesen, den Titel (etwa nach Abu Ghraib) noch schnell zu ändern. Strategisch klug, um Anwürfe, ‚um Mißverständnisse zu vermeiden‘. Gerade so jemand wie ich, die sich bisher “verläßlich in … deutschen Literaturgefilden bewegte” (Falcke) … und jetzt – so wenig verläßlich! Wie ärgerlich! – Warum also dieser Titel? Weil das Wort Guantánamo mit seinem für unsere Ohren exotischen (!!) Wohlklang, der an Orchideen, Schmetterlinge, meinetwegen die Guantanaméra erinnert, einen so entsetzlichen Ort bezeichnet. Naiv? Na, zum Glück wird es immer mehr zur Regel, daß Autoren vor jeder Entscheidung verläßliche Literaturagenten fragen, ob’s denn dem Markt und seinen Protagonisten auch genehm ist. Genehm wäre es gewesen, wie Cotzee (Warten auf die Barbaren) oder Ransmayr (Morbus Kithara) oder oder … den exemplarischen Ort namenlos bzw. anonym zu belassen. Wenn es aber wirklich daran hängt, dann ist die ganze Diskussion nur ein Scheingefecht.
4. Genau diese Berechenbarkeit, die man da von mir erwartet, ist das Kennzeichen der “betrieblichen” Reaktionen, und ich empfinde sie wie so oft als billig, langweilig, peinlich. So komme ich nochmal zu der ZEIT-Rezension. Mich wundert es, naiverweise, daß weder Herr Falke noch Frau Radisch den Eindruck vermeiden wollen, daß es sich hier um Auftragsschreiberei handelt. Wie herrlich unberechenbar wäre es gewesen, gerade in der ZEIT nicht Radischs Meinung (plus Folgerungen aus der Kenntnis des ganzen Textes) zu lesen! Daß so plump nachgekartet wird, lädt naturgemäß zu Spekulationen ein. Meine Vermutung “Radisch gegen Herbst?” bleibt da, wo sie hingehört, an der Oberfläche, und besagt: Falcke könnte ihr Sprachrohr sein, und sie könnte sich zudem von Herbsts Lob provoziert gefühlt haben. Nicht von Herbst; das ist wiederum seine Vermutung. Für Fragen nach affektiven, unbewußten Motiven gibt es naturgemäß unendliches, unendlich schwammiges Material, zumal in einem so inzestuösen Nest wie dieser Zunft, aber die haben hier für mich keine Bedeutung.
5. “Parallalie” hat oben den Subtext der Falcke-Schlüsselstelle wunderbar enthüllt. Trotzdem hat der Rezensent an dieser Stelle eine Gefahr gekennzeichnet, die ich auch (an)erkenne. Das „zu Virtuose“, das ja ans Glatte und damit Hermetische rührt, könnte mir vielleicht hier und da nachgewiesen werden. Das Thema verbietet solches unfreiwillige Form-Beschönigen oder Veredeln so sehr, daß auch die Ahnung dieser Verfehlung schon zu viel sein könnte. Aber damit müßte sich jemand anderes beschäftigen; jemand, der sich nicht den Blick verstellen läßt, sondern jemand, der ihn öffnet (indem er vielleicht einmal in eins meiner andern Bücher guckt, etwa Sprachversagen, das sich mit Haut, Papier, Schmerz und Körper beschäftigt …), doch das zu erwarten, ist: naiv. Und das ist fast immer synonym mit: zu viel verlangt.
DD
Liebe Dorothea Dieckmann,
ich verstehe diese „Furcht“ vor dem Perfekten nicht. Jeder Künstler strebt genau das an. Etwa käme heutzutage kein Mensch mehr auf die Idee, Picasso die Perfektion seines „Guernica“s vorzuwerfen, das, fällt mir gerade auf, vielleicht nicht zufällig, sondern aufgrund einer inneren (seelischen) Verbindung, an „Guantánamo“ assoniert. Vielmehr handelt es sich um eine besonders für die deutsche Ästhetikdebatte ziemlich typische Berührungsangst, die möglicherweise ihre Ursache in verdränger Schuld hat, damit sie nämlich verdrängt b l e i b t, weil sich nur dann aus ihr ein wiewohl negatives Selbstbewußtsein destillieren läßt.
Ein Künstler, bzw. in diesem Fall eine Künstlerin, die das ihr zu Verfügung und Gebot stehende Rüstzeug aus sagen wir Bescheidenheit oder Demut nicht auf ihr Material anwendet, verrät dieses Material. Und als künstlerisches Material müssen die Personen, Gegenstände und Sachverhalte der künstlerischen Betätigung angesehen werden, das ist Crux und Chance jedes künstlerischen Berufes. Künstler gehen deshalb mit sich selbst ganz ähnlich um. Es gibt keinen Schutzraum, weder moralisch noch ideologisch, wenn denn das Kunstwerk eines werden soll. Eine ganz andere Frage ist es freilich, ob die Darstellungsmittel tatsächlich an das Dargestellte heranreichen; aber das ist, wie ich wiederholt schrieb, bereits bei einem Glas Wasser der Fall und liegt gänzlich außerhalb des Bestimmungsbereichs der Künstlerin, bzw. des Künstlers selbst.
Jedenfalls ist, einer Künstlerin und/oder einem Künstler seine Perfektion vorzuwerfen, restlos pervers: daß oder ob sie oder er etwas n i c h t geschafft habe, das ist der Ansatzpunkt für eine besonnene Kritik. Z u perfekt – ein Vorwurf, dem sich nahezu zwanghaft immer einer wegen eines vorgeblichen Manierismus‘ anschließt – kann ein Kunstwerk gar nicht sein.
[Deshalb wäre, etwa Rilkes Vortrag zu beherzigen, demzufolge in jedes gute Sonett ein Fehler einzubauen sei – so, wie persische Teppichknüpfer die Perfektion Gottes sein lassen (aslaam) -, eine rein kunsthandwerkliche Haltung. Gerade eine solche und nicht etwa das Streben nach Perfektion wäre deshalb, gemessen an den Themen „Guantánamo“, „Guernica“ oder auch Auschwitz, eine Reduzierung und posthume Schändung der Opfer.]
Helmut Schulze hat gerade bei den LiTLiNks eine Dieckmann-Seite – http://www.litlinks.it/d/dieckmann_d.htm – ins Netz gestellt, damit vielleicht ein etwas vollständigeres Bild der Autorin entstehen kann. U.a. sind 8 Guantánamo-Rezensionen vertreten, die nicht alle dem Falcke-Grundton folgen (der auch in Klagenfurt angeschlagen wurde).
So schreibt beispielsweise Ingo Arend:
„Wenn die Untersuchungsausschüsse des US-Kongresses, die kürzlich die Rolle der Geheimdienste bei Nine-Eleven untersucht haben, feststellten, dass die US-Regierung bei der Bekämpfung möglicher Gefährdungen des Landes einen erschreckenden „Mangel an Vorstellungskraft“ bewiesen habe, dann dürfen wir Dorothea Dieckmann bescheinigen, dass sie eine bessere Amerikanerin als George W. Bush ist. Mit dieser Vorstellungskraft hat sie ein Bild der Gefährdungen des Menschen geliefert. Wenn Michael Moores Waffe das grell bemalte Plakat ist, dann ist Dorothea Dieckmanns Waffe die entwickelte Sprache. Auch wenn der allzu realitätsmächtige Titel ihrer komprimieten Imagination immer wieder in die Quere kommt: Man liest diesen Roman, als würde man in einer poetischen Hochdruckkammer sitzen – einer Zelle, der man nicht entfliehen möchte.“
Perfektion. Lieber ANH, das Problem der Perfektion schwelt, ist nicht zu Ende gedacht.
Zahllos – gerade gestern wieder bei einer Lesung – sind die Äußerungen gegenüber meinem Guantánamo-Text, er sei „zu gelungen“, „zu brillant“, „zu gekonnt“, „zu vollkommen.“ Dieser Vorwurf eines „Euphemismus der Sprache“ wird damit begründet, daß die ästhetische Perfektion das Textgebilde gegen (Mit-)Gefühl in der Rezeption abweisend mache, oder anders: seine zu glatte Oberfläche das Eindringen in den beschriebenen Schmerz abdichte. Zwar berichten viele andere das Gegenteil – der Text habe ihnen so zugesetzt, daß sie physischen Schmerz empfunden hätten, Verkrampfungen, Schlaflosigkeit etc. -, aber ich begreife die Einwände und verstehe das dahinter steckende Argument so:
Wenn (und das glaube ich) Verzweiflung / Schmerz ein Zustand der Formlosigkeit, der Sinnlosigkeit und damit der Absenz von Schönheit ist, dann sind runde (logische, logisch paradoxe, rhythmische, klingende, singende …) Sätze unangemessen, denn sie bringen das Unmaß maßvoll, das Sinnlose sinnvoll, das Häßliche schön zur Darstellung. Statt Mit-Leiden ensteht Genuß; das Leiden (anderer) ästhetisch genießbar statt in seiner Häßlichkeit / Fragmentarisierung abzubilden, ist obszön.
In meinem Essay „Sprachversagen“ gibt es zum Thema Schmerz-Sprache zwei entgegengesetzte Aussagen: 1. „Jede Schilderung einer Gewalthandlung ist – wie die Bezeichnungen von Gewaltinstrumenten, Folterpraktiken etc. – ein Euphemismus, der den Körper Lügen straft und die Tat wiederholend verschärft. Das Opfer wird zur Verharmlosung seines Schmerzes gezwungen, gleich, ob es selber die Verletzung versprachlichen oder der Versprachlichung, etwa im Gerichtssaal, beiwohnen muß“ – Versprachlichung als „nachträglicher Verrat.“ – 2. „Worte haben viele Gebrochene gerettet, und sei es nachträglich, als Ausweg aus dem stummen Körper.“
Andererseits hat mir die Unterscheidung zwischen Realität und Material sehr geholfen. Die Identifizierung des Umgangs mit dem literarischen Gegenstand und dem Umgang mit den realen Opfern, den Gefangenen, Gefolterten ist eine Moralfalle. (Schon vor 10 Jahren bezichtigte mich eine ZEIT-Redakteurin der „Verhöhnung der Opfer“, als ich einen Gewaltakt als intime Beziehung zwischen Täter und Opfer beschrieb. Also genau die Haltung, die Sie zitieren: Die einfühlende, exakte, „perfekte“ Darstellung sei eine zweite Mißhandlung des wirklichen Opfers!). In der Tat, es ist ungeheuer wichtig, diese systematische Kategorienverknotung zu zerschlagen. Sie führt etwa bei Herrn Falcke zu dem absurden (und eines, der sich mit Literatur zu beschäftigen vorgibt, unwürdigen) Argument, ich schriebe, und ich schriebe „zu gut“, bevor die realen Opfer für sich selbst sprechen könnten.
Ich gebe zu, auch ich sehe in dieser Argumentation ein Verdrängungsinstrument. (Es wird ja auch immer vage-idiosynkratisch vom „Unbehagen“ geredet!). Vielleicht steckt dahinter die Haltung der Täter-Nachfolger, die als Opfer-Anwälte auftreten, um nicht hinsehen zu müssen. Diese Last übertragen sie den echten Opfern (Kertész!!): die sollen weiterzahlen, mit ihrem Schmerz, mit ihrer Schmerzdarstellung. Der Schmerz „bloß Mitfühlender“ wird ausgegrenzt, denn das könnte man ja selber sein (müssen). Dazu paßt, daß die Protagonisten des Unbehagens gegen die ästhetische Perfektion sämtlichst älter sind und so wirken, als hätten sie die Schulddiskussion (auch die ästhetische) in den 70ern voll aufgesogen, während diejenigen, die sich von „Guantánamo“ (körperlich) beeindrucken lassen, jünger, offener und verletzbarer sind.
Was soll ich sagen, lieber ANH? Ich habe meine Schreibexistenz unter anderem damit zugebracht, gegen die bildungsbürgerliche Tendenz zur Veredelung anzukämpfen, die ich ins Schreiben mitbrachte. Ich glaube, ich bin damit weit gekommen; den Drang nach Vollkommenheit habe ich aber nie ablegen können. In „Guantánamo“ habe ich gewagt, noch den Ausnahmezustand zu ERZÄHLEN, d.h. nicht ins pure Sprach-, Perspektiven- etc. Experiment auszuweichen, also reflexive Sicherungsmaßnahmen / Schlupflöcher / „Fehler“ in den Text einzubauen, die mich oder die Leser vor der Nähe zum Gegenstand schützen. Hätte ich das tun müssen? Vorläufig möchte ich meine Zweifel so abschließen: Möglicherweise bedeutet Schönheit in der Darstellung des Schreckens kein goutierbares Leiden, sondern Trost – und wenn es ein trostloser ist. Das wäre eins der höchsten Komplimente für das Buch: trostloser Trost.
Soweit erst einmal; ich denke weiter nach.
Danke für diese sehr schöne Antwort. Ich gehe weitgehend konform, in einem aber nicht:
Statt Mit-Leiden ensteht Genuß; das Leiden (anderer) ästhetisch genießbar statt in seiner Häßlichkeit / Fragmentarisierung abzubilden, ist obszön.
Die von Ihnen benannte „Obszönität“ ist eine moralische Kategorie, die auf das gesellschaftliche Leben Anwendung zu finden hat, gerade aber nicht auf die Kunst. Wenn Borges Homer zitiert – „Die Götter schaffen Ungemach, damit die Menschen etwas zu singen haben“ -, liegt das eben auf der von mir gemeinten Linie. Dazu noch einmal Camille Paglia:
Die unablässigen Morde und Katastrophen in der Literatur sind fürs betrachtende Genießen da, nicht zur moralischen Erbauung. Ihr Status als Dichtung, ihre Entrückung in einen heiligen Bezirk, erhöht unser Vergnügen, weil dadurch sichergestellt ist, daß Betrachtung nicht in Handlung umschlagen kann.
Kunst i s t obszön. Oder mit meinen Worten: ein Akt befreiender Perversion. (Das erklärt übrigens sehr gut, weshalb auf gesellschaftliche Emanzipation gerichtete politische Bewegungen und Parteien von Kunst absolut keine Ahnung haben, und das gilt wie für die SPD so auch für die Grünen. Vom sozialistischen Realismus einmal zu schweigen.) Insofern Kunstfiguren aus Opfern (aus wem denn sonst?) entstehen – und auch ein Auschwitz-Opfer ist im Roman Kunst-F i g u r – unterliegen sie genau dieser Wandlung. Das reale Opfer ist davon nicht betroffen, denn es ist nicht gemeint; gemeint ist das Unheil als Allegorie. Und nur als solche ist Unheil eines, das sich verarbeiten läßt. Verarbeitet man Unheil aber nicht, wird es perpetuiert – klassische Erkenntnis des Psychoanalyse. Der Begriff „Perversion“ ist also anwendbar nur in Bezug auf ein r e a l e s Verhältnis von Kunst und Realität. Dieses reale Verhältnis existiert aber nicht, bzw. allenfalls in Form einer Analogie. Die gesamte klassische tragödische Literatur hat genau d a s gestaltet, und so, n u r so, kommt es zur Katharsis, die ja nicht n u r schön, aber erlösend ist.
Unsere Theater und unsere Literatur sehen heute so aus, weil man das vergessen hat und vergessen wollte. Es ist nämlich nicht marktfähig, da es sich nicht zurichten, normieren läßt.
Um noch etwas beizufügen: Dem Marktgesetz entspricht die Fetischisierung. Das heißt, Kunst darf nicht Kunst sein, weil sie aus dem Fetisch – dem Marktgegenstand – etwas Flüssiges und damit Erschreckendes macht.
Zum Thema der Perfektion: Dorothea Dieckmanns Mail gibt indirekt schon eine Erklärung dafür, warum diese Perfektion zum Vorwurf gemacht wird, und zwar ex negativo dadurch, daß nämlich „seine (des Textes) zu glatte Oberfläche das Eindringen in den beschriebenen Schmerz abdichte“. Ex negativo nicht deshalb, weil die glatte Oberfläche das Eindringen abdichtet, sondern deshalb, weil m.E. der beschriebene Schmerz nicht herangelassen wird, daß also nicht die Textoberfläche abdichtet, sondern der Leser. Solch einen „perfekt“ beschriebenen Schmerz mag er nicht an sich heranlassen (und ganz richtig gibt es auch andere Leser mit einer offeneren Sensibilität). Der ganze Vorwurf der Perfektion fällt so auf den Vorwerfenden zurück. Denn er als Leser ist es doch, der sich seinen Text herausliest. Eine alte Geschichte! Zumal – wenn ich es recht verstehe – diese Vorwürfe bei Lesungen laut werden, zu denen ja wohl nicht in erster Linie Literaturwissenschaftler, sondern Leser kommen.
Ich habe das Buch selbst noch nicht gelesen, nur die im Internet verfügbaren Ausschnitte „angelesen“. Aber das Thema der Perfektion ist mir zu grundsätzlich, als daß ich darauf warten müßte, das Buch selbst zu kennen.
Dieselbe Gefahr besteht auch bei rhythmisierter Sprache z.B., man denke an den Schul-Schiller: das leere Herunterbeten solcher Texte beeinflußt da fast schon das normale Sprechen. Aber warum werden diese Texte dann als leer empfunden, als bloße da-dàm-da-dàm-da-dàm-Texte (wahrscheinlich denke ich jetzt eher an den Erlkönig, den ich neulich wieder am Wickel hatte: ein tolles Gedicht! im Rhythmus, in der Dialogisierung, in der Dramatik (und das läßt sich alles „ganz glatt“ runterlesen)). Das liegt doch aber nicht am Autor, es liegt immer beim Leser!
Und gerade die Schmerz-Beschreibung scheint in „Guantanamo“ zu einer Arbeit beim Leser aufzufordern, der die Sprache scheinbar beistehen will (das „scheinbar“ schreibt hier immer der Noch-Nicht-Leser, also ich), aber nicht gänzlich abnehmen kann, da es um etwas geht, das über die bloße Sprache hinausgeht (aber geht es nicht immer um etwas, das über die Sprache hinausgeht?). Mehr kann Sprache nicht leisten, sie braucht einen „empfangsbereiten und -fähigen“ Empfänger. Aus den Reaktionen zu dem Buch aber geht für mich hervor, daß die Sprache hier das geleistet hat, was sie leisten kann (ich wollte erst sagen „in extremis“, aber zuviele Literaturmodelle und -experimente stellen sich dem in die Quere – aber das ist ein ganz anderes Thema).
Aus all diesen Gründen sollte sich Dorothea Dieckmann (und auch sonst niemand) nicht um das Problem der Perfektion sorgen: Je perfekter (und darum zuweilen auch leichter) ein Text, desto schwieriger die Arbeit an ihm (von Seiten des Autors, von Seiten des Lesers). Und solch eine Perfektion möchte ich nicht missen!
Das ist nun, parallelie, wirklich einmal im Dschungel-Sinn argumentiert. Es kann ja nun nicht um sozialpädagogische Anleitungen gehen.