Odo.

Außer Musik entspricht kaum etwas meiner Vorstellung von poetischer Flüssigkeit so sehr wie das Netz. Meine Figuren sind seit je gemorpht, sie haben eine ungefähre Identität, verschleifen sich ineinander… das ganze bürgerlich-ökonomische Konzept der rechtsfähigen Person wird durch Verschleifung unterlaufen und durch mythische und/oder allegorische Konstellationen versuchsweise und immer nur zeitweilig ersetzt. Es sind Erkenntnisspiele, die den gegenwärtig so seltsam neue Urständ feiernden Realismus (und der von ihm abgeleiteten Ideologie des autonomen Persönlichen) der Absurdität überführen.




Dem entspricht eine Auflösung fester, normierter Hierarchien, auch solcher innerhalb des eigenen Ichs. Es kommt dann zu dem Paradox eines identifzierenden Lesens, das die Grundlage der Identifikation gerade auflöst und in dem landet, was ich den Ungefähren Raum nenne. Dieser zeichnet sich durch ein Höchstmaß möglicher plausibler Erzählungen aus, die einander durchaus widersprechen, jede für sich aber „wahr“ sein können, und zwar intensiv wahr; sie könnten aber auch sämtlichst „lügen“: Unter anderem macht eben dieser Widerspruch eine jede von ihnen plausibel; die Struktur ist polymorph (was zugleich das Unbehagen wie den Reiz dieses „realistischen Experimentierens“ ausmacht) und damit der Gegenwart hochgradig angemessen. „Polymorphe Allegorie“, ja, das wäre ein Begriff, mit dem sich diese vorläufige Ästhetik abschließen läßt, – vorübergehend, nein: zeitweilig, ganz wie es Ungefähren Räumen entspricht.
ANH, Poetologische Thesen (2003)

14 thoughts on “Odo.

  1. die polymorphe allegorie ließe sich wohl zusammenfassend durch HEINE’s satz ausdrücken, unter jedem grabstein liege eine weltgeschichte begraben. nicht der text ist polymorph, sondern die mittlerweile milliarden menschen, die – ein jeder für sich – einen, viele, tausend texte lesen. je mehr menschen, desto ungefährer. ein roman ist nach ECO insofern plausibel (sinngemäß, aber ich lasse mich gern belehren (das gedächtnis muß nicht immer zuverlässig sein)), wenn er wahrscheinliches zum ausdruck bringt, mit dem eine identifikation entsprechend den jeweiligen kulturellen mustern (dies nun meine erweiterung) möglich ist.

    1. “Der Text ist polymoph”. Das bezieht sich auf die semantischen Formen, die ein Roman konstelliert. Er – als sein eigenes Material kann sehr wohl auch unabhängig von Identifikationsmustern polymorph sein… vorausgesetzt, man gesteht ihm zu, daß er ohne Rezipienten überhaupt ist. Aber es gibt Texte, deren Vielgestalt gegenüber “simplen” auf der Hand liegt. Sie müssen nur ein so planes Ding wie “Sonnenallee” mit einer Arbeit… nun, etwa Arno Schmidts vergleichen… oder Peter Kurzecks, um in der unmittelbaren deutschsprachigen Gegenwart zu bleiben.

    2. das wäre wieder eine umkehrung von urheber und rezipient. also rezipient im sinne von “wahrnehmer”, “leser” usw. zum einen kann der urheber sich selbst oder alle anderen als bezugspunkt nehmen, oder er kann aus “sich selbst” schöpfen, um es dann allen anderen zu übergeben. die jeweilige weltgeschichte entsteht darum dennoch und immer voneinander unterschieden in den einzelnen köpfen (ob urheber oder nicht).

    3. Cherubino All I experience, I`ll tell you true, I`am bewildered,/ it`s all so new./
      I feel affection, /longings so strange,/ now bringing pleasure,/ now bringing pain;/ freezing one moment,/ then all afire,/ then in a second/ I`m freezing once more;/ something I`m seeking/ outside of me …

      non trovo pace/ notte nè di,/
      ma pur mi piace,/ languir cosi.

      Und auf diese sich selbst verzehrende Klage dann der pur-aesthetische Kommentar der Contessa als Rezitativ:

      “Bravo! che bella voce …”

    4. non so più cosa son’ cosa faccio or di fuoco or sono di ghiaccio ogni donna cangiar di colore ogni donna mi fa’ palpitar…
      wienerisch!
      “Von vergessenen schirmen (blauen, violetten, seegrünen) zu träumen, deutet auf einen trockenen sommer hin, sowie auf die zahl dreiundvierzig, derer du an gewitternahen juliabenden eingedenk sein sollst. Darüber hinaus zähle alle von dir gesehenen schwäne, töte den dreiundvierzigsten und du wirst finden in seiner bitteren galle eine perle von seltener größe. Sie macht dich unsichtbar.” H.C. ARTMANN: Grünverschlossene Botschaft

    5. Aesthetik pur Sich einfühlen in folgende Situation:

      Cherubino windet sich auf der Couch seines Psychoanalytikers in Krämpfen, schreit sich die fleischgewordene unerfüllte Sehnsucht
      aus dem Leib.
      Der Analytiker bewundernd lächelnd: ” Welch einmalig schöne Stimme Sie doch haben! Sie sind zu beneiden”

    6. Odi et amo Hassen und lieben zugleich muß ich. – Wie das? – wenn ich’s wüßte?
      Aber ich fühl’s, und das Herz möchte zerreißen in mir.

      CATULL / MÖRIKE

    1. “Odo”… … (englisch ausgesprochen) ist eine Figur aus dem Enterprise-Ableger Deep Space 9, und zwar ein Geschöpf, das “Gestaltwandler” genannt wird, sehr gerne in Papierkörben schläft und im übrigen höchst angestrengt menschliches Verhalten (und Aussehen) nachzuahmen versucht. Wobei es höchste Intelligenz hat. Letztlich ist Odo eine politisch nicht ganz unbedenkliche Verschmelzungsfantasie. Wer sich seiner und ihrer Problematik bewußt wird, nähme ihn gern in einen Text der Hochliteratur hinein.

    2. Ich hätte hier gern Odos Bild hineingestellt. Aber dann habe ich garantiert wieder eine international tätige Anwaltskanzlei auf meiner Website… dem ist ja nun schon die schöne ANH-Mortgage-Aktie zum Opfer gefallen. (Ich stell mir seither oft Wolf Vostell vor, wie er bei Mercedes drum bittet, den hübschen, an das Gebiß von Blutegeln erinnernden Stern in seinen Bildern verwenden zu dürfen. Ich insistiere: Ein Maler, der zufällig Magenta mischt, wird zukünftig in Bedrängnis geraten.)

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