Je ne suis p a s Charlie: ‚Paris‘ ff, nämlich Untriest 5. Am Montag, dem 12. Januar 2015.


Arbeitswohnung, 7.05 Uhr.


Gleich, Liebste, z w e i wichtige Gespräche stehen heute an, zum einen, worauf ich mich freue, mit meiner Lektorin zum >>>> Traumschiff; wir wollen den ungefähren Zeitrahmen absprechen, vielleicht auch schon den einen und/oder anderen Eingriff. Das Buch soll jetzt schon im März satz- und druckfertig sein. Das paßt dazu, daß ich meine Triestreise nicht schon im Februar unternehmen kann, auf der ich noch einmal alle Wege abgehen und auch nach Lenzens Grenzhäuschen schauen will, ganz ähnlich, wie ich es seinerzeit für Fichtes gelbes Kliff auf Sizilien tat, das ich dann wirklich fand. Es wird mich erleichtern, den Sterberoman da schon abgeschlossen zu wissen. Möglicherweise steht auch eine kleine Fahrt nach Hamburg an; ich würde gern mit dem Verlagsteam ein bißchen was besprechen.
Zum anderen das Gespräch, wegen des Hörstücks, mit meiner Redakteurin. Es kann aber gut sein, oder schlecht, daß sie sich erst morgen meldet; je nach der Richtung, in die ihre Kritik weist, werde ich handeln müssen, eventuell auf eine Weise, die mir nicht gefällt. Auf keinen Fall aber werde ich die Ästhetik des Stücks verändern.
Jedenfalls komme ich vorher nicht mehr an die >>>> Triestbriefe; den achtundzwanzigsen habe ich >>>> gestern eingestellt, nach seinem Abschluß einen nicht sehr kurzen Brief geschrieben, der einen mir wichtigen Kontakt wieder aufnimmt; dann war ich, Frau, beim Sport.
Frühabends mit meinem Sohn abermals über das Paris-Attentat und die Folgen gesprochen. लक्ष्मी, schon am Tag zuvor, hat Bedenken geäußert. Wie seinerzeit bei 9/11 scheint es auch für Paris Unklarheiten zu geben; man weiß nicht genau abzugrenzen, was an ihnen pure Verschwörungstheorie ist und was auf Tatsachen beruht, etwa der Hinweis auf im Netz kursierende Videos, worin bereits v o r dem Anschlag vermummte Leute eines Einsatzkommandos Position auf einem der Dächer beziehen und ihre Waffen in Anschlag bringen. Auch das können selbstverständlich Fälschungen sein. Fakt ist, daß die Morde der französischen Rechten imgrunde sehr zupaß gekommen sind, ebenso der gassierenden Fremdenfeindlichkeit insgesamt. Man kann das im Netz schlimm lesen. Es reicht bis zu Ausrufen, den Islam prinzipiell zu verbieten – eine völlig abstruse Vorstellung, zumal diese Haltung ganze Barrell Öls in das Feuer des Fundamentalismus gießt. Unterm Strich weiß keiner von uns genau zu sagen, welche Hintergründe die Pariser Attentate mitbestimmt haben; wir sind selbst, wie Hochreligiöse, auf Glauben angewiesen, bizarrerweise – als ließe sich, Geliebte, den Medien vertrauen, die uns zur Kirche geworden sind. – Kluge, gleichermaßen skeptische wie abwägende Worte fanden sich gestern >>>> bei TT.
Mir sind politische Slogans immer unangenehm, so auch „Je suis Charlie“. Wenn ich mir einige der Karikaturen ansehe, kann ich das nur, wie auch लक्ष्मी tut, verneinen. Sie sind oft billig, hämisch provokant und jedenfalls nicht im gringsten erkenntnisfördernd; künstlerisch überdies bedeutungslos. Hinter so etwas mag ich mich nicht stellen, würde sagen „gehässiger Schund“, es aber selbstverständlich dabei belassen. Daß nun auf so etwas die „Pressefreiheit“, sozusagen negativ, mitbegründet werden soll, empfinde ich als ebenso grotesk wie die Morde an ihren Urhebern entsetzlich: Allah, wenn es ihn gäbe, hätte schlichtweg beiseitegesehen. Wer mag sich denn den Tag mit geschmacklosem Zeug verderben? Man packt’s zum andern Altpapier, und gut is’. >>>> Žižek hat völlig recht: Wer meint, Allah sei von sowas wie diesen Karikaturen auch nur entfernt zu behelligen, hat einen b r ü c h i g e n Glauben. Sie würden ihn schlichtweg nicht interessieren. Also muß man nach anderen Gründen als den religiösen fragen, um die Attentate zu verstehen – und verstehen müssen wir, wenn wir weitere abwenden wollen. Dazu gehört, uns sehr genau die Psychogramme der Täter anzusehen, nicht aber einen Glaubenskrieg mitzuführen, der uns, von wem auch immer, aufgezwungen und einem Plebs auf seine Fahnen geschrieben wird, der nicht mal annähernd die eigene Kultur und Kulturgeschichte kennt, geschweige daß er über eine andere urteilen könnte. So liest sich denn auch der ausgeschriebene Name von Pegida geradezu mittelalterlich nach Kreuzzugsaufruf: „Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes“. – Wenn wir ein Vereintes Europa denn wenigstens hätten! Doch dieselben Leute, die jetzt „Abendland“ bellen, sind sehr dafür, etwa Griechenland aus der EU wieder hinauszuwerfen, dessen – in der Klassik verklärte – Rezeption mit am Anfang des Humanismus steht. Und was den Islam anbelangt, verdankt ihm nun gerade dieses „Abendland“ einigen wissenschaftlichen wie künstlerischen Fortschritt. Außerdem wird ganz bewußt nicht gesehen, daß der fundamentalistische Islam ein geradezu direktes Ergebnis der – diese ihrerseits eine Folge des Kolonialismus – westlich-kapitalistischen Machtpolitik ist; sie erst schuf seine Realität, sei es seinerzeit in Afghanistan, sei es im ehemaligen Persien. Selbst Israel läßt sich in dieser Bilanz mitbuchen. Insoweit also politische Slogans, ob bewußt oder unbewußt, Differenzierungen und genaue Hinsichten unterlaufen, kann ich für meinen Teil nur sagen: Je ne suis p a s Charlie. Daß selbstverständlich die Morde von Paris strafrechtlich verfolgt werden müssen, steht auf einem ganz anderen Blatt und hat da aber zu stehen. Doch sollten wir uns bewußt sein, daß die meisten von uns über die möglicherweise tatsächlichen Hintergründe nur spekulieren können. Wir müssen glauben, was wir lesen und was man uns sehen läßt, oder wir >>>> denken selbständig nach, unvoreingenommen. Um wiederum das zu können, müssen wir unsere Ängste kennen und sie ansehen, anstelle sie auf sogenannte Fremde zu projezieren und die dann zu bekämpfen.
*

68 thoughts on “Je ne suis p a s Charlie: ‚Paris‘ ff, nämlich Untriest 5. Am Montag, dem 12. Januar 2015.

    1. Genau, Löwin, dort erscheinen sie.
      Außerdem, sage ich mal in lebenspraktischer Weise, ist es sowieso, mit Verlaub, hirnrissig, alles Mögliche und Unmögliche zu tun, weil man sich auf dem Weg zum “Gipfel” wähnt.
      Es gibt keinen Gipfel. Was sollte das denn sein, der Gipfel? Gipfel von was? Sehen Sie hier irgendwo einen Gipfel? Das ist Blödsinn – von mir aus Gipfelblödsinn.

    2. Es gibt schon Gipfel und Berge, wie ich anderswo letztens anmerkte (um mich hier mal einzumischen), indem ich schrieb: “Es handelt
      sich bei den Prenzlauer Bergen um geistige Höhenzüge von variabler Höhe, von denen man umso leichter runterpurzeln kann, desto mehr man nach ihnen sucht. Die meisten stecken ohnehin tief drin im Prenzlauer Berg und sehen vor lauer Berg den Prenz nicht mehr.” Mit anderen Worten: Sie haben ganz recht!

    3. @PHG Sie haben ein beeindruckendes Plädoyer gehalten, unter einem der Triester Briefe. Haben Sie nun bitte die Güte, der Löwin Text mit angemessener Sorgfalt zu behandeln. Und Unfug zu unterlassen.

    4. @PHG & Norbert W. Schlinkert Mein Eindruck ist ja, Sie missverstehen den Kommentar der Löwin auf den Gipfelstürmer: Meines Wissens sind Irrlichter so ziemlich das Schlimmste, das einem Wanderer im Moor passieren kann, weil sie ihn in den Tod locken. Moment, ich schau’ schnell nach, ob das stimmt.


      Yep, hatte Recht. Auch “Narrenfeuer” oder, schöner, “Irrwische” werden sie genannt.

      Über allen Gipfeln hingegen, und seien’s auch imaginierte, ist Ruh’…
      Sagt der Altmeister.

    5. @Phyllis Ich ging allein auf den Begriff des Gipfels ein, ohne dem zugrundeliegenden Text Beachtung zu schenken, was ich jetzt aber hiermit nachhole, indem ich zumindest bestätige, daß dem Moorwanderer ein Licht aufgehen sollte, wenn er denn eines sieht.

    6. @Phyllis zu den Irrlichtern. Was wissen wir? Die Wanderer verschwinden. Das tat aber Tannhäuser auch und verbrachte Jahre im Venusberg. Vielleicht locken diese Lichter nicht in den Tod, sondern eine andere Art von Leben, eine innigere, als jeder Alltag zulassen mag.

    7. Ich habe heute schon drüben bei mir zugegeben, dass ich nichts weiß, ich tu’ es mühelos auch noch einmal hier.
      Doch den Lichtern folgen? Ich würde sieben Jahre im Berg jederzeit gegen einen innigen Tag im All eintauschen.

    8. Also ich, wenn ich mich da mal einmischen darf, bin gerne hienieden und trotzdem im siebten Himmel, so wie hier in diesem Lied mit feinster Lyrik beschrieben: http://www.youtube.com/watch?v=8QBSU3Sf2ho

      “I don’t need to take no trip to outer space
      All I have to do is look at your face,
      And before I know it, I’m in orbit around you
      I thank my lucky stars that I’ve found you,
      When I see your constellation, you’re my inspiration, and it’s you.”

    9. Es ist doch bei den Menschen nicht anders als im sonstigen BIOS: je weiter man nach unten kommt, desto mehr trifft man auf Leben. Die Gipfel sind nur etwas für Philosophen. Die Dichtet hingegen versteigen sich nicht. Es wäre das Ende vom Lied!

    10. “Man kann auch in die Höhe fallen, so wie in die Tiefe. Das letztere verhindert der elastische Geist, das erstere die Schwerkraft, die in nüchternem Besinnen liegt. Das Gefühl ist aber wohl die beste Nüchternheit und Besinnung des Dichters, wenn es richtig und warm und klar und kräftig ist. Es ist Zügel und Sporn dem Geist. Durch Wärme treibt es den Geist weiter, durch Zartheit und Richtigkeit und Klarheit schreibt es ihm die Grenze vor und hält ihn, daß er sich nicht verliert; und so ist es Verstand und Wille zugleich. Ist es aber zu zart und weichlich, so wird es tötend, ein nagender Wurm. Begrenzt sich der Geist, so fühlt es zu ängstlich die augenblickliche Schranke, wird zu warm, verliert die Klarheit, und treibt den Geist mit einer unverständlichen Unruhe ins Grenzenlose; ist der Geist freier, und hebt er sich augenblicklich über Regel und Stoff, so fürchtet es eben so ängstlich die Gefahr, daß er sich verliere, so wie es zuvor die Eingeschränktheit fürchtete, es wird frostig und dumpf, und ermattet den Geist, daß er sinkt und stockt, und an überflüssigem Zweifel sich abarbeitet.” (Friedrich Hölderlin, Reflexion)

    11. Verehrter Bersarin. Als Adornide wissen Sie doch, dass kein eleatischer Geist den Absturz verhindert hat. Und das Gefühl? Le pauvre Holterling.

    12. Sich selbst, noch oben stehend, zugleich schon unten als Leiche zu sehen, davon sprach Kierkegaard eindringlich (und auch Sartre, der alte Nachmacher, und auch viele vor Kierkegaard), weil dieses Bild dem Menschen seine Möglichkeiten offenbart, den Möglichkeitssinn schärft. Nach oben fallen indes nur Menschen, die in Seilschaften leben.

    13. Es war übrigens vornehmlich Baudelaire, der die Anwesenheit des Todes im Leben, also die sich vollziehende, nicht erst zu erwartende Katastrophe poetisch gezeigt hat. Bohrer hat darin seine Rehabilitation des Tragischen verankert.

    14. Mit den Franzosen bin ich literarisch nie recht warm geworden, abgesehen von Robbe-Grillet, Bataille, Céline, de Beauvoir, Camus und Pinget, aber ich nehme Ihren Hinweis mal als Anregung, den Baudelaire mir mal wieder vorzunehmen. (Französisch müßte man können, so als Zweitsprache.)

    15. Wenn man nicht französisch Muttersprachler ist sollte man mit (gebildeten) Franzosen nur lateinisch sprechen, da können sie einem nicht am Zeug flicken.

    16. @ tom
      Ich schrieb diese Passage – nein, nicht ich schrieb sie, denn ich bin und war niemals Hölderlin –, ich zitierte sie in einer Geste der Verdichtung und Aufsteigerung. Wegzehrung sozusagen. Auf das „In die Höhe fallen“ kam es mir an. ANH hat das gut – hegelianisch fast – formuliert: um zu sehen, ob man sich verstiegen hat, muß man überhaupt erst den Weg nehmen. Präliminarien zu setzen, Wege im Kopf nur zu beschreiten und über bzw. auf die Bedingungen zu denken, reicht (meist) nicht hin.

      Allerdings huldigt und hymnisiert Hölderlin in dieser Passage nicht blind das Gefühl als solches, so wie wir es in der Dumpfbackenart der Unmittelbarkeitsfanatiker/innen kennen, die die Herzensergetzungen lieben, sondern er liefert zugleich dessen Erweiterung. Es sind Hölderlins Äußerungen über das Gefühl zu lesen wie auch jenes „Älteste Systemprogramm des Deutschen Idealismus“, das allerdings, wie neue Forschungen zeigen, eher nicht von Hölderlin, sondern von Hegel stammt: daß die Ideen sinnlich (ästhetisch) gemacht werden müssen. Dazu bedarf es des Sentiments.

      Wie kommen Sie darauf, daß ich Adornit sei? Genauso gut könnte ich – als Substanzmetaphysiker im Augenblick des Sturzes von Metaphysik – Aristoteliker sein. Oder Schüler Derridas. Ich halte nichts von Ismen. Philosophie ist keine Weltanschauung.

    17. Hegel hat’s verfaßt? Gewagte Vorstellung, denn erstens ist der Text ja zumindest vorne ein Fragment, und zweitens ist es wohl kaum vorstellbar, daß Hölderlin und Schelling und dieser Engländer, der auch noch dabei war, nichts dazu beigetragen hätten. Klar, da spricht ein Ich, aber so wie ein Du ein Wir sein kann, so auch ein Ich. Obwohl, ist ja auch eigentlich gleich.

    18. Das gewisse Ebbes Die Autorenschaft ist insofern gleichgültig, als zu jener Zeit im Tübinger Stift die Gedankenwelten von Hölderlin, Hegel und Schelling sich in ähnlichen Sphären bewegten. Insofern steht der Text für drei Namen. Hegel jedoch schrieb ihn. (So zumindest sagt es die Forschung.). Durchaus ist aus dem Ton des Textes auch Schelling herauszuhören, der der Kunst in seinem „System des transzendentalen Idealismus“ die höchste Position einräumte, während sie im Text Hölderlins mit der Philosophie sich paarte.

      Der klügste Kopf freilich, da läßt sich nicht dran kratzen oder schaben,
      bleibt Georg Wilhelm Friedrich Hegel aus dem schönen Schwaben.

    19. Hegelschaben können Sie vergessen, der hatte ein Faible für so holländische Genremalerei mit saufenden Leuten und so. Schelling hatte keine Faibles, soweit ich weiß, aber Kierkegaard war enttäuscht von ihm, während letzterer ein Frauenproblem hatte, das Nietzsche zu Ehre gereicht hätte. Am besten kratzen läßt sich meiner Ansicht nach immer noch am Kant.

    20. @bersarin Ich habe mir einen Besuch auf Ihrer Netzseite erlaubt und habe dort einige, besser gesagt nicht wenige Texte zu und um Adorno gefunden. Diese stellen eine, wie ich meine auch angebrachte, Distanz zum Absoluten und dessen Herunterkommen in der Zweckdienlichkeit her. Den Titel „Adornide“ hätte ich weglassen sollen, insofern er missverständlich die Fixierung auf eine bestimmte Weltanschauung meint.
      Indessen bedeutet das Bild vom Gipfel hier ja das Ganze (auf das einer geht oder nicht geht). Ihre Anspielung auf die eleatische Problematik hat mich dabei etwas verwundert. Das on he on, ens qua ens, das Seiende (oder Sein) als solches war ja seit dem Eleatismus immer im Gegensatz zum Werden, d. i. nicht prozessual gedacht worden. Denkansätze wurden ausgebildet bei Leibniz und Herder (dieser naturphilosophisch, jener logisch), den Seinsbegriff in einen Begriff von Bewegung und Entwicklung zu überführen. Gefolgt ist ihnen die Schulphilosophie dabei nicht.

    21. @tom
      „Das Werden im Vergehen“. Die große Ausnahme der Philosophie: das ist Hegels Denken, seine Philosophie ist eine des Werdens, darin sich Wahrheit nicht statisch konzipiert, sondern als Prozeß. Allerdings terminiert dieser Gang des Wissens und der Wahrheit, ob nun in der „Phänomenologie“ oder in der „Logik“, bei Hegel im absoluten Geist als Identität des Verschiedenen: der Punkt, wo die Vermittlung absolut sich setzt. Dazu schön zu lesen der Schlußteil der „Phänomenologie“, Schiller zitierend: “Aus dem Kelche dieses Geisterreiches//schäumt ihm seine Unendlichkeit.” Adorno rügte an diesem Ende, daß dem Leser etwas postuliert wird, um es ihm in der Realität jedoch zu versagen. Aber auch das Ende kann man als Prozeßhaftes lesen: ein Kreis von Kreisen in einer Spirale, wie Hegel selber es in seiner „Logik“ darstellte. Der Widerspruch bleibt bestehen, solange er nicht aufgelöst ist. Das Negative ist negativ, bis es verging, wie Adorno negativ-dialektisch Hegel in die Moderne des 20. Jhds überführte.

      Sein und Werden scheinen mir aber als Kategorien der Philosophie nur bedingt noch zu taugen, um die Bewegung der Philosophie zu skizzieren oder zu pointieren. Das Verhältnis von Sein und Werden scheint eher in der vorsokratischen Philosophie bedeutsam. Es verliert sich mit Platon und Aristoteles. Dort taucht es als Dynamis-Konzept auf – unter vielen anderen Aspekten. Was den Seinsbegriff anbelangt, müßte man aber vermutlich Heidegger davorschalten. Und ganz anders sieht das „Programm“ der Philosophie bei Kant aus: hier ist, in erkenntniskritischer Absicht, nicht mehr das Paar Sein/Werden der Maßstab, sondern die Frage nach den Möglichkeiten der Metaphysik: genauer geschrieben: wie synthetische Urteile a priori möglich sind.
      Aber für die Metapher des Gipfels und der Irrlichter, die ich so sehr liebe – man nehme nur die herrliche Walpurgisnacht-Szene im Faust (und auch ich schrieb aus besonderem Anlaß am Sonntag von den Irrlichtern) – gibt das Begriffspaar Sein/Werden einen guten Rahmen der Referenz ab. Andererseits kann man ebenso sagen: wenn eine/r auf oder über dem Berg ist, dann geht es wieder bergab. Das Werden-Konzept von Nietzsche wäre in diesem Zusammenhang bedenkenswert. Wie wenn jeder Augenblick noch einmal käme? Wir immer wieder den Gipfel besteigen, jedesmal neu und immer wieder in dieser Welt und in der nächsten?

      Wenn ich es recht bedenke, gefällt mir der Adornide doch gut, denn als Anagramm ergibt sich: Androide. Und das bin ich fürwahr. Das Menschliche zu tilgen und als reinen Text die Bezüge aufzulösen.

    22. Ein Prosit der Gemütlichkeit – diadorim zugeeignet Am Ende werden Kantameisen
      Ihr Fleisch mit Spaß und Lust verspeisen.
      Es bleiben nichts als fahle Knochen,
      doch die wird sich Bersarin kochen.

      Transzendental ausgeweidet,
      Suppengrün hineingeschneidet,
      wird‘s Bersarin köstlich munden.
      Schreib ich mal so: Unumwunden.

    23. @Baserin.-
      Vielen Dank für die profunde Antwort. Man kann daraus viel lernen, muss aber auch schon viel gelernt haben.
      Hegel habe ich nicht genannt. Der Gang der Entwicklung von Leibniz hin zu Hegel führte über die Wofflsche Metaphysik (und erst recht über Kants Auseinandersetzung mit den Angelsachsen. Kants Leistung besteht gerade in der Darlegung der Erfordernis transempirischer Inhalte für das Denken. Er nennt solche Inhalte, insofern sie für das Denken notwendig sind I d e e n: „Ich versehe unter der Idee einen notwendigen Vernunftbegriff, dem kein kongruierender Gegenstand in den Sinnen gegeben werden kann.“). Allerdings bleibt für eine am Kritizismus festhaltende Philosophie ein „bloß spekulativer“ Gebrauch der Vernunft notwendig ein unentrinnbarer, wenn auch verführerischer Schein. Dieser eher umwegige Gang führt zu Hegel. Dessen Deduktion der Mannigfaltigkeit der `existierenden Welt` aus dem Begriff ist logisch wohl zwingend. Zwar akzeptiert er Kants Einschränkung des Begriffes des Ganzen als Vernunftidee, gewinnt allerdings diese Vernunftidee als Ergebnis der universellen Fortbestimmung des Begriffs, der in jeder seiner endlichen Bestimmung eben doch als Begriff von einer Sache, d. i. als Ausdruck einer „realen Wirklichkeit“ sich darstellt.
      Das Unbefriedigende dabei –und darauf haben Sie ja auch hingewiesen- ist, dass es eine Vermittlung des Denkenden mit der „realen Wirklichkeit“ (die doch die reelle und ideelle Voraussetzung der Bestimmung und Fortbestimmung des Begriffs ist) in der Methode nicht gibt. Diese beginnt gewissermaßen `ortlos` in der Vielheit der Welt. Es ist, anders formuliert, ein Weltpunkt, von dem die Begriffsdialektik ihren Weg antritt, nicht zu bestimmen. Daher muss über die begriffsdialektische Konstruktion des Ganzen ein weiterer Schritt gegangen werden.

    24. @ Tom
      Es ist schade, daß sie keinen Blog betreiben, es ließe sich darin sicherlich vieles lernen und lesen. Gewiß wäre ich ihr erster Leser. Ich schätze Ihre Verknüpfungen von Literatur und Philosophie.

      Nein, eleatisch bin ich nicht gestimmt. Eher Heraklit und schöner noch in Hölderlins “Andenken” geschieht das Werden. Den Lauf des Flusses schaute auch in in Bordeaux (1992) und verpaßte die Ewigkeit eines Blickes durchs Zögerliche.

      @Norbert W. Schlinkert
      Die niederländische Genremalerie schätze er mir nicht zu gering. Wobei ich Saufen den doch realiter und nicht im Bilde präferiere. Hegel übrigens trank pro Tag eine Flasche Wein. Da bin ich zum Glück nur halber Hegelianer. Na Prost Mahlzeit, werden manche da stöhnen. (Hoffen wir mal: lustvoll, laut und Luise.) Über Kierkegaard schweige ich mal, und meine Lou Andreas-Salomé verpaßte ich in HH, ein Jahr nach Bordeaux. Nun imaginiere ich an manchen jener Tage diese wunderbare und kluge Frau im Rausch der Nächte. Ich und sie und Solipsie.

    25. @bersarin Aber nein, ich schätze ja diese Malerei, allein schon als Beweis dafür, daß der Mensch nur da Mensch ist, wo er säuft (und tanzt und frißt und vögelt, weint, lacht, wütet …) Wieso schweigen Sie über Kierkegaard? Er verdient die selbe Leseaufmerksamkeit wie Nietzsche, denke ich, wird aber in Deutschland leider sehr vernachlässigt, obgleich auch er ein leidenschaftlicher Denker ist und, anders als Nietzsche, auch ein sehr guter literarischer Autor, man lese einfach mal sein “Die Wiederholung”, da wird das mehr als offenbar. Und nicht zuletzt hat er auch Epochales zur Entstehung des poetischen Ich beigetragen, und das nicht als Philosoph, was aber leider erst einmal (von mir) entdeckt werden mußte: http://www.wehrhahn-verlag.de/index.php?section=01&subsection=details&id=523 Daß Kierkegaard sich als Mann zu gering achtete, um mit seiner Regine Olsen wirklich zu leben (der Idiot), hat uns Leser jedenfalls sehr bereichert.

      Ja: tom und auch diadorim müssen zwingend sich ein eigenes Blog gestalten!

    26. Kierkegaard verdient dieselbe Leseaufmerksamkeit wie Nietzsche – völlig richtig. Mein Schweigen bezog sich nicht abwertend auf Kierkegaard, sondern weil ich diese komplexe Biege zu Kierkegaard hier nicht auch noch hinlegen wollte.

      Da ich mich wesentlich mit Ästhetik bzw. der Philosophie der Kunst beschäftige, gehört Kierkegaard naturgemäß zum Kanon. (Sofern ihn die Hegelschaben nicht angenagt und sich einen Haps abgebissen haben.)

  1. Prankenhiebe, wuchtige,
    enthält dieser Text.

    Gespürt, Löwin, werden sie.
    Doch nur das.
    Leider.
    Ω

    (über das Ergebnis der Textbefragung will ich schreiben, sobald sich die Nebelschwaden der Ignoranz verzogen haben)

    1. @Textflüsterer Hinter der Tinte tummelt sich’s besser – klassischer Octopus-Reflex.
      Aber sei’n Sie doch nicht bös’, Textflüsterer. Die Dschungel sind freizügige Kulisse für alle, die sich hier versammeln. Wenn ein Text stark ist, gültig, ist er nicht vernebelbar, sollte es zumindest nicht sein.
      Man schickt, was man geschrieben hat, nach draußen, mitten in die Aktualität der Anderen, deren Bedürfnisse, Reflexe, Zerstreutheiten, Fixierungen. Niemand außer mir liest m i c h in meinen Texten, niemand ist ihnen verpflichtet, die Dschungel sind keine Schule, die Kommentierenden bekommen keine Kopfnoten.

      Ich freue mich auf Ihre Befragung.

    2. Ein Biss. Ungeschüttelt und ungerührt.
      Wer dieser Sprache mächtig ist, vernimmt das Knacken.

      Kopfnote:
      Cephalopoden – scheissen energisch Tintenwolken ins Wasser, um in deren Deckung einer drohenden Gefahr mit dem Rückstoß zu entkommen

  2. HochMut (Versuch einer Auffaltung) Wie sich HochMut, der Mut zur Höhe, mit Hochform verbinde,
    frage ich den Text und breche die Hochform entzwei.

    Hoch | Form

    Setze sie neu zusammen.
    Zum Formhoch, vorübergehend,
    soweit der Vernichtungsglaube trägt.

    Gibt es den Mut zur Form, der Hohen, noch dazu?
    Was, wenn der Glaube an Vernichtung. Sich verflüchtigt?
    FormTief? KleinMut, gar? Nicht mit mir, meint der Text.

    Nehm’ er das Scheit
    Und knie er
    Am Fuß des Venusberges

    Der das Scheitern nicht wagt

    Eher denn ist
    Verstieg’nen
    Zu glauben als sedierten
    (Wichten)

    *

    Und deins keins.

    Keins. Wahrlich. GroßMut beansprucht ihn nicht, weil Raum er i s t.
    Wie GroßMut zu HochMut sich verhalte, frage ich den Text und breche nicht dessen [Schweigen]. Doch horch!, geflüstert: “Komm’ morgen wieder”.

    Gut, so komm’ morgen ich wieder.
    Und befrage dann auch die Libhe.
    Wird sie mir antworten?
    Sie wird.

    Wenn sie kann.
    Ω

    1. @Textflüsterer
      Aus der Reserve locken
      geht mir durch den Kopf, während ich Ihre Replik lese: Andere mit einem Text aus der Reserve locken zu können.

      – Wie ich den Ihren lese?
      Ich lese ihn nicht, ich brühe ihn mir auf. Hab’ doch gleich gemerkt, er enthält Wirkstoffe, denen ich keinen Umweg übers Gehirn zumuten will.

    2. @die Löwin
      Ich wünsch’ mir weitere Einträge von Ihnen. Trotz Ihrer Schmerzen, die während des Entfaltens der Texte deutlich spürbar werden für mich.

      Ihre Texte hinterleuchten die nach Triest bereits versendeten Briefe mit einer ergreifend strahlenden Wärme, bringen sie nachträglich noch einmal auf Temperatur. Auf aber! Ihre. Das zu beobachten und nachzuvollziehen: Ich empfinde tiefen Respekt dabei.

      Durch Ihre sich unter die Briefe schiebenden Bilder werden Übergänge sichtbar, die anders nicht zu erahnen wären. Für diese Randzonen interessiere ich mich – jene Bereiche, in denen sich Abgezogenes abzeichnet wie “tan.lines”. Und mich interessiert der Einfluss Ihrer Einträge auf einen laufenden Schaffensprozess. Er wird bereits deutlich.

      Eine derart aufwühlende und intensive Perspektive, wie ich sie hier erlebe, ist einzigartig. Ich bin dankbar dafür und verneige mich, Löwin, in Demut.
      Ω

    3. @Textflüsterer. Dem schließe ich mich sehr gerne an, kann Ihnen auch versichern, daß weitere Texte von ihr folgen werden. Was Sie und aber auch kaum jemand sonst wissen kann, ist, daß die Löwin und ich tatsächlich allezeit in intensivem Gespräch geblieben sind, auch direkt nach der Sìdhe Erscheinung und weiter nach ihrem nunmehrigen, für mich, Verglühen. Ich habe immer versucht, den Einfluß der Löwin auf mich auf keinen Fall zu unterschlagen, deshalb auch immer von ihm erzählt. Selbst im Fall einer faktisch neuen Bindung, wie ich sie mir aus ganzer Seele gewünscht habe, wäre sie, die Löwin, präsent geblieben, in welcher Form nun auch immer; in künstlerischer aber ganz sicher.

    4. twoday@Textflüsterer. Es scheint mal wieder der Wurm din zu sein; auch neu etwas einzustellen, dauert ewig. Minuten, bis eine Site sich aufbaut. Nervt auch mich. Ich kann es aber nicht ändern.

      (Sicherheitshalber formuliere ich im OpenOffice immer alles vor; danach kopier ich es ein.)

  3. Intermezzo Ein Geliebter schreibt leidenschaftliche Briefe an seine Geliebte, unterdessen Briefe der Liebenden eintreffen. Diese besondere und atemberaubende Form von Intertextualität wird man lange suchen müssen im Netz.

    Herbst hat Recht. Spätere Generationen an Literaturwissenschaftern werden sein Werk mit akribischer Genauigkeit untersuchen. Dass er in der Gegenwart keine angemessene Beachtung erfährt, ist Faktum. Frappierend indes, wie ihm offenkundig wohlgesonnene und literarisch gewandte Zeitgenossen sich in belanglosen Plaudereien ergehen – unterhalb eines nicht eben unbeachtlichen Ereignisses.

    Ich frage ernsthaft, was diese Leute mit Herbsts Literatur tatsächlich zu schaffen haben wollen, im Moment, da sie sich ereignet. Und ich frage weiter, welche Schlüsse daraus zu ziehen sind für Herbsts Werk.
    Ω

    1. Ich halte es für ganz und gar nicht angemessen, die Fallhöhe mit Null anzusetzen. Ob nun akribisch genau oder über den feuchten Daumen gepeilt.

    2. es ist ganz einfach, wer was wann wo akribisch genau untersuchen wird und für wert befindet, die belanglose plauderei oder das tief ausgelotete gespräch, das unterliegt moden, von denen wir heute noch nicht erahnen können, in welchen farben sie morgen durch künftige hirne spazieren. es hat so gar keinen sinn, das hier vorab festlegen zu wollen. und, ohne profanierung keine intensitäten, da könnense jezze mal drüber nachdenken, heute, oder morgen, bei kaffee oder tee.
      oder sie lesen das noch mal nach bei musil mit dem möglichkeitssinn und dem wirklichkeitssinn.

    3. klar, bleibt nur die frage, wer hat und wie nimmt man einfluss auf die macher. in der behauptung, dass dies und jenes einmal künftige literaturwissenschaftler beschäftigen wird eher weniger, nehme ich an.

    4. @diadorim das ist ein wichtiger aspekt stimmt der könnte ins gegenstemmen der >>>statthalter passen gleich nach dem ersten punkt gegen die billige beliebigkeit sollte ich ihn nennen wie auch immer ich hab schon nachgedacht darüber fällt bloß niemandem auf trotzdem dank für die freundliche aufforderung ich mach auch gleich weiter selbstverständlich bleibt nicht am ende noch die frage zu klären ob profanierung unmittelbar an der sache ansetzen muss um deren profil plan geschabt zu bekommen oder reicht schon die erinnerung an bei hegel gehörtes oder bei musil nicht verstandenes aus dafür wobei ich nicht angedeutet haben wollte dass sie ihren musil nicht kennen wie ihre westentasche also nicht ganz so einfach die sicht aus meiner sicht
      ,,,,,,..””?

    5. sie müsste unmittelbar an der sache ansetzen, klar, aber dafür müsste sie sich ja einer gewissen akribik bedienen und die wendet jeder narziss doch am liebsten bei sich selber an. das steht sich dann etwas im weg, stimmt. sprich, anh und ich müssen beide auf die kommenden literaturwissenschaftler hoffen, gegenseitig werden wir nicht unsere besten ausleger werden, vermutlich :).

    6. ja, wissen wir längst, alban. ist müßig, du segelst nicht außerhalb der radare, ich tue es auch nicht. shake hands. ist kein wettsegeln, wir kommen schon beide wo an, da muss man sich nicht sorgen.

  4. Zur „Verschwörungstheorie“ VERSUS selbständig denken. Strategien des Meinungenkriegs. (Verschwörungstheorien 3).

    Das Problem des selbständigen Denkens, wenn es nicht den für allgemein richtig geltenden Annahmen, bzw. Glaubens„sicherheiten“ folgt, besteht darin, daß man ihm mit wiederum für allgemein gesichert gehaltenen Begriffen begegnet, etwa dem der Verschwörungstheorie. Es reicht dieses Wort als Vorwurf völlig hin, um einen unabhängigen Gedankengang grundsätzlich zu diskreditieren. Damit kann einer tatsächlichen Diskussion auf das leichteste ausgewichen werden, und dennoch behalten die Ausweicher öffentlich recht.
    Etwa für das folgende Gedankenspiel:
    Es kann mit der Terrorgefahr durch den fundamentalistischen Islam einiges nicht stimmen. Eine Handvoll radikaler, marxistisch orientierter Leute hielten fast zehn Jahre lang die Bundesrepublik Deutschland unter quasi Dauerbeschuß; die politischen Folgen sind bis heute zu spüren. Damit verglichen sind durchgeführte fundamentalislamische Attentate geradezu spärlich – obwohl der, sagen wir, orthodoxe Islam auf Hunderttausende zurückgreifen könnte; wie viele „Schläfer“ er in den westlichen Gesellschaften geparkt hat, läßt sich nur schätzen. Ginge es also wirklich um einen Heiligen Krieg zur Islamisierung des Westens, müßten kaum hundert Kämpfer aktiviert werden, um in Europa und den USA quasi alles, was unsere Zivilisationen nährt, in Schutt und Asche zu legen. Einer Organisation, die ein solches strategisches wie vor allem techniklogistisches Unternehmen wie 9/11 zuwegebrachte, sollte solch eine Aktivierung nicht gelingen? Man muß sich wohl fragen, warum. Wir können logischerweise nur spekulieren. Tun wir das aber, sind wir Verschwörungstheoretiker.
    Dieser Begriff hat gleich zwei Funktionen. Zum einen wird – nur, indem man ihn anführt – die Möglichkeit einer „Verschwörung“ – mithin eines politischen Zusammenspiels von Interessen – als prinzipiell abwegig hingestellt und dann von den Menschen als abwegig auch geglaubt, obwohl die Geschichte solches Zusammenspielen immer wieder belegt. Zum anderen wird der Begriff der Theorie-selbst desavouiert, also die intellektuelle Leistung, die Fakten kombiniert und Schlüsse aus ihnen und nicht aus dem zieht, was geglaubt werden soll.

    (Siehe auch >>>> dort.)

    1. Verschwörungstheorie ist ein anderes Wort für Lüge und kann daher im Rahmen der Argumentationskunst nicht funktionieren. Der Lügner muss nicht widerlegt, sondern überführt werden.
      Etwas anderes ist der Irrtum. Wer irrt kann widerlegt, seine Aussage kann falsifiziert werden.

    2. “Ein anderes Wort für Lüge” @Tom Verschwörungstheorie ist ein anderes Wort für Lüge : Das greift zu kurz. Am Begriff der Verschwörungstheorie hängt immer auch etwas von Wahnhaftigkeit, sogar geistiger Gestörtheit, indessen “Lüge” prinzipiell zu einer durchaus realistischen und nachvollziehbar zweckbezogenen Absicht gehört. Es ist ja sogar so, daß die “Verschwörungstheoretiker” offizielle Stellen des Lügens bezichtigen, mit oder ohne Recht; in den meisten Fällen führen sie – eben zur Überführung – ihre Gründe an. Die aber nun nicht diskutiert, sondern mit dem rhetorischen Argument vom Tisch gewischt werden, so etwas lasse sich nicht für voll nehmen; wer das vertrete, sei halt verrückt.
      Im übrigen zeigt unsere Wirklichkeit, wie gut das Argument funktioniert, etwas sei lediglich das Ergebnis einer Verschwörungstheorie.

    3. Terrorgefahr Das Gedankenspiel ist viel zu westlich gedacht, lieber Freund. Wozu sich über Gebühr ins Zeug legen, wenn sich das Problem «Westen» aufgrund seiner «moralischen Verkommenheit» auf kurz oder lang von selbst erledigt und man zudem in gänzlich anderer Zeitperspektive denkt, nämlich der von Gottes Ewigkeit. Es ist aus Fundamentalistenperspektive u. a. völlig irrelevant, ob es noch 5, 10, 100 oder 1000 Jahre dauert, bis der Islam (bzw. das was die betreffenden dafür halten) gesiegt hat. Und das ist nur *ein* Faktor. Dazu u. a. noch ein regionalstrategisch gänzlich anderer Fokus (nämlich auf die eh schon mehrheitlich islamischen Weltregionen), ggf. innerorganisatorische Konflikte, und nicht zuletzt die Tatsache, dass sich «alles was unsere Zivilisationen nährt» vielleicht doch nicht ganz so leicht in rauchende Schutthaufen verwandelt lässt: *so* unfähig sind die westlichen Sicherheitsapparate schließlich auch nicht, schon 9/11 war *so* nur durch einige Pannen möglich (was systemisch schon alleine komplexitätsbedingt vorkommt – aber eben bei weitem nicht so häufig, dass sich Anschläge dieser Größenordnung einfach mengenmäßig skalieren ließen).

      Verschwörungstheorien ist im übrigen gemeinsam, dass sie beharrlich die Regeln solider Argumentation und Beweisführung verletzen, angefangen bei der Unfähigkeit Koinzidenz und Kausalität zu unterscheiden. Sich mit Rabulisten und Paranoikern auseinanderzusetzen, ist m. E. wenig erkenntnisfördernd, dafür hochgradig frustrierend und somit schlichtweg Zeitverschwendung. Das heißt nicht, dass Verschwörungstheoretiker *grundsätzlich* Unrecht haben müssen (auch wenn sie es mehrheitlich immer hatten – die Quote historisch verifizierter Verschwörungstheorien geht gegen Null). Aber selbst *wenn* sie es hätten: es macht für das (eigene) politische Handeln keinen Unterschied. Nicht den geringsten. Sowohl aus praktischen wie aus erkenntnistheoretischen Gründen. Wir agieren nämlich eh mit schwer beschränktem Horizont. Und die interessanteste Frage dabei ist die nach den «unknown unknowns» (Rumsfeld hätte für diesen gern verlachten Teil seiner damaligen Rede eigentlich eine philosophische Auszeichnung verdient gehabt).

    4. Verschwörungstheoretiker… …verhalten sich aber *tatsächlich* wahnhaft. Selbst wenn sie zumindest in Details faktisch Recht hätten, ließe sich das Verhalten schlecht von Psychotikern unterscheiden, das macht sie per se unglaubwürdig. Und damit haben sie – für mich bestens nachvollziehbar – politisch verdammt schlechte Karten auf Gehör. In den meisten Fällen, mit Blick auf die transportieren Weltbilder: zum Glück.

    5. @brsma. *so* unfähig sind die westlichen Sicherheitsapparate schließlich auch nichtSorry, ich habe bereits oben von den RAF-Jahren geschrieben. So etwas sollte einem fundamentalen Islamismus nicht möglich sein?
      Aber, wie gesagt, Verschwörungstheorie. Doch unterm Strich beurteilen wir alle nur das, was wir zu hören und zu sehen bekommen, das heißt: wir konstruieren uns unsere Wirklichkeiten, und zwar je nach dem, was wir schon “glauben”. Genau deshalb hat Lévi-Strauss von “bricolage” gesprochen. Erkentnistheoretisch unterscheidet sich das Konstrukt eines normalen Beobachters – also eines nicht direkt in die Vorgänge Eingeweihten – von dem eines Verschwörungstheoretikers nicht, nur hat er die Mehrheit auf seiner Seite. Allein aus ihr wird die Aussagedignität gewonnen.
      Übrigens sind die Hintergründe von 9/11 nach wie vor nicht geklärt. Als was dieses Attentat gilt, wird durch Meinungs-Einschleifung geschaffen. Es braucht manchmal Jahrzehnte, bisweilen Hunderte von Jahren, bis die wirkenden Interessen geschichtlich klargeworden sind, und auch dann noch wird oft weitergestritten.

    6. Die RAF… … war aber nicht erfolgreich, sondern ist kläglich gescheitert. Warum sollte man das also wiederholen wollen, selbst wenn man es möglicherweise könnte? Terrorismus ist und bleibt vor allem symbolhaft, das ist das einzige Feld, auf dem er Wirkung entfaltet. Und nehmen wir dazu mal an, dass die Strategie der Attentäter von Paris tatsächlich eine der Polarisierung und Spaltung sei. Erhöhten diese nun die Frequenz der Anschläge und deren Tragweite, würden sie in kürzester Zeit auch die ihnen gegenüber zumindest Ambivalenten *gegen* sich haben, vom Rest der vermeintlichen(!) Glaubensbrüder und -schwestern mal ganz abgesehen. Kurzum: kontraproduktiv. Dann doch lieber kleinere Schnitte machen, und den Westen sich in der Folge selbst vergiften lassen.

      Abgesehen davon war der Westen nüchtern betrachtet zu keiner Zeit wirklich vom linken Terrorismus gefährdet, allemal nicht in seinen Machtstrukturen. Leider durchaus bezüglich seiner behaupteten Werte, wie angesichts der seitdem anhaltenden Hochrüstung der Sicherheitsapparate gepaart mit der Demontage von Bürgerrechten bis heute zu sehen ist.

      Zum anderen Themenstrang: Die mangelnde Glaubwürdigkeit von Verschwörungstheoretikern basiert wie vorhin schon gesagt nicht nur auf ihrem Minderheitenstatus sondern auf ihrem Kommunikations- und Argumentationsverhalten. Notabene: das heißt nicht, dass das Urteilsverhalten der Mehrheit rational wäre. Beiden Seiten mangelt es i. d. R. an der Bereitschaft, das Geglaubte auch in Frage zu stellen. Und je weiter man sich dabei vom mehrheitlich Geglaubten entfernt, desto geringer diese Bereitschaft, aus simpler geistiger/psychologischer Ökonomie. Damit entfalten die Zweifler an der mehrheitlichen Wirklichkeit aber eine deutliche Tendenz zu psychotischen Denkmustern und Konsorten: ein möglicherweise berechtigter Zweifel geht im Wahnhaften unter. Und das Fischen im letzteren nach dem ersteren bereitet leider wenig Freude.

    7. @brsma zum “Wahnhaften”. Gut, bin ich gewöhnt. Ich bin ein Irrer. (Immerhin kann man aus dieser psychischen Grundkonstitution, Pynchon zeigt es, auch Eco hat es gezeigt, vorzügliche Romane schreiben.)

      Und je weiter man sich dabei vom mehrheitlich Geglaubten entfernt, desto geringer diese Bereitschaft, aus simpler geistiger/psychologischer ÖkonomieIch hin ja der Meinung, daß das mehrheitlich Geglaubte das Irre ist. Der Satz widerspricht übrigens dem vorherigen. Den “Verschwörungstheoretiker” zeichnet gerade aus, daß er das allgemein Geglaubte in Frage stellt; überhaupt nur deshalb wird er “Verschwörungstheoretiker” genannt. Es ist mir vollkommen schleierhaft, wie man das absichtsvolle Zusammenspiel der großen Kapitalinteressen (“Multis”) nicht mit ins Kalkül einbeziehen kann. Dazu gehört u.a. auch die Bereitstellung der Waffen, mit denen der fundamentalistische Islam versorgt wird. (Als Parallele zu denken an die Unterstützung sowohl Hitlers als auch Stalins durch die Rothschild-Bankiers; hätte man seinerzeit dergleichen offen ausgesprochen, wäre man ebenfalls Verschwörungstheoretiker genannt worden.)

      Im übrigen gilt: Was gedacht werden kann, geschieht.

    8. @anh Das ist zu kurz gegriffen: dass der Verschwörungstheoretiker gerade deswegen als solcher bezeichnet würde, dass er Allgemeingeglaubtes in Frage stellt. Das ist nicht hinreichend. Ein wesentlicher zusätzlicher Aspekt ist das bedingungslose Festhalten an Kausalität und, wichtiger noch, Intentionalität, und zwar in allem.

      Die Rothschild-Hitler-Unterstützungsgeschichte ist nach wie vor Humbug. Der einzige mir bekannte «Beweis» bezieht sich auf einen angeblichen Brief des Ex-Kanzlers Brüning. Da ist von der Finanzierung durch zwei der größten berliner Banken mit jüdischen Eignern die Rede. Rothschild hatte nie eine Dependance in Berlin, die letzte Rothschild-Bank auf deutschem Boden stand in Frankfurt a. M. und schloss 1901. Die einzige Unterstützung Hitlers durch Rothschild war 100% unfreiwillig: durch die Beschlagnahmung des noch im Deutschen Reich vorhandenen Vermögens. Im übrigen hatten die Rothschilds zwar auch Geld im Waffenhandel, der weitaus größere Teil des Vermögens steckte aber in der Börse. Für den Börsenhandel sind Kriege und andere massive politische Instabilitäten allerdings größtenteils ungünstig. Deswegen die Rothschild-Intervention nach dem Französisch-Preussischen Krieg, als das Haus erhebliche Forderungen Preussens übernahm, um Frankreich zu stabilisieren und nicht zu einer neuen Kriegserklärung zu veranlassen. Eine mögliche Quelle des antisemitischen Mythos von der Unterstützung der Nazis durch Rothschild. (PS: der Aufstieg der U. S.-Börse an der Wall Street zum ökonomischen Machtzentrum ist nicht zuletzt den beiden Weltkriegen geschuldet, gerade nach dem ersten Weltkrieg kam es deswegen zu einem erheblichen Machtverlust des Hauses Rothschild.)

      Teilweise d’accord was das Irre der Mehrheitsglaubenden betrifft. Das macht Verschwörungstheoretiker aber nicht weniger irre. Ich halte gegen beide mit dem einzigen erwiesenermaßen halbwegs zuverlässig funktionierenden Prinzip für Erkenntnisgewinn, das wir kennen: Wissenschaftlichkeit. Unter Berücksichtigung von Thomas Kuhn und Konsorten, selbstverständlich.

      Glücklicherweise geschieht nicht alles, was gedacht wird. Allemal nicht so, wie es gedacht wird. Dafür haben wir nicht zuletzt Romane. Auch wenn das Gedachte massiven Einfluss auf die Realität haben kann (alleine die so hartnäckige wie penetrante Vorstellung «Gott» sollte als Beweis dafür genügen) und sich Fiktion und Wirklichkeit potenziell gegenseitig durchdringen.

  5. Noch etwas zu Charlie Hebdo Die Cartoons in Charlie Hebdo kann man nicht ohne viel kulturellen und politischen Kontext verstehen. Dazu gehören die spezifischen Ereignisse und Personen, auf die sie Bezug nehmen, dazu gehört das Wissen um die sehr französische kulturelle Form, mit der sie hantieren. Da spielt nicht nur «gouaille» gehörig mit hinein, sondern auch die Verpackung von «hohen» Themen in bewusst «niedere» Bildästhetik. Öfters in der Form, dass z. B. zwei aktuelle politische Themen zusammen in ein Bild gepackt werden, mit neuer Aussage. Häufig wird dabei eine reaktionäre Position aufgenommen und durch Überzeichnung bloßgestellt: Die Affendarstellung der frz. Justizministerin zitierte ein → rassistisches Bild von ihr im Kontrast damit, dass sich der Front National fast gleichzeit öffentlich dagegen verwahrt hatte, eine rassistische Partei zu sein. Und das absurde (sic!) Titelbild mit den hochschwangeren Boko-Haram-Sexsklavinnen als Sozialschmarotzerinnen führte ebenfalls FN-Aussagen mit tagespolitischen Ereignissen zusammen. Die einzigen echten Gehässigkeiten sind die in der Tradition des französischen Anarchismus und seiner Losung «Ni dieu, ni maître!» stehenden. Dementsprechend wurde Charlie Hebdo übrigens auch öfter von der Katholischen Kirche verklagt, als von anderen Religionsverbänden.

    Das ist insgesamt alles andere als Schund ohne künstlerischen Wert, das ist gelegentlich sogar verdammt gut. Wer das alles nicht weiß und die Zeichnungen auch noch außerhalb des Kontexts betrachtet, läuft allerdings Gefahr, zu völlig falschen Urteilen zu gelangen. Wie in den letzten Tagen leider viel zu oft zu beobachten war.

    1. @brsma zum “verdammt Guten”. Meinetwegen. Ist halt nicht meine Tadition, auch nicht mein Geschmack. Auch bewußt, also absichtsvoll primitive Bildästhetik stört mich; ich mag mir sowas nicht ansehen. Das galt auch schon bei Robert Crumb, auch bei Chlodwig Poth. Sagen wir’s s o herum: Ich spüre die Absicht und bin verstimmt. Insgesamt mag ich politische Agitation nicht, auch dann nicht, wenn ich ihren Aussagen zustimme. Deshalb bin ich nach wie vor nicht Charlie und schließe mich dem Slogan auch nicht an. Schon seine “Klebkraft” ist mir verdächtig.
      Daß ich zugleich nicht auf Seiten einer “Rechten” stehe oder überhaupt fundamentalistischer Bewegungen, sollte über meine Schriften hinreichend klar sein. Ich glaube aber, daß vergröbernde und also auch bestimmte satirische Darstellungen nicht zur Aufklärung, sondern eben zur Vergröberung beitragen, und zwar prinzipiell. Sie fördern nicht den Dialog, sondern verhärten die Fronten, anstelle sie aufzuweichen, um für etwas Neues Platz zu schaffen, mit dem es sich besser leben läßt.

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