Der vierte auf den fünften Tag, an dem es weiterregnet. In den Abend (9)/Traumschiff 16. PP141, 4. (ff) und 5. April 2014.

[Sonnabend,
9.06 Uhr.]

Noch immer fünf Tage Meer vor uns, bis wir Mauritius erreichen werden. Das Gleichmaß der Abläufe bringe es mit sich, daß ich mich zunehmend wie daheim fühle – als wäre man schon immer hiergewesen. Erster Kaffee um sieben (deshalb hat es wenig Sinn, früher zum Arbeiten aufzustehen, weil eben noch gar kein Kaffee da ist, auch kein Tee), dazu der Gang erst an Achtern, dann über die Treppe zum Brücken- und noch eins weiter aufs Sonnendeck, dort den schmalen Joggingpfad, der um die Schornsteine führt, entlang bis vorn an den Bug und in Richtung Westen geschaut, einige Minuten, bis ich auf backbards zurückgeh, vielleicht noch ein Schwätzchen mit einem der Passagiere halte, der mir erzählt hat gestern nach, er sei einst selbst zur See gefahren – Fischerflotte, solche Dorsche!, die dann gesalzen auf Gestänge bordquer gehängt und getrocknet, Stockfisch… und damals… das waren T a u s e n d e Delphine! – als das Meer noch nicht überfischt war… oh, ob ich mir einen Bart stehen ließe, „you got the permission?“: scherzhafte Anspielung auf einige complaints, die bei der Rezeption eingegangen, meiner eCigarillos wegen, „der raucht! der raucht!“, so ward gepetzt – doch dazu später etwas mehr, oder auch nicht: ‘s sind halt alte Leute, ich ergab mich drein und dampfe nun nur noch draußen oder in meinem Raum. (Und oben vielleicht, wenn niemand sonst da ist, in der kleinen Hansebar, Sugar, mein Barkeeper, schüttelte nur den Kopf, und mein Seebärenfreund von heute morgen, mit dem ich gestern nach den Stern des Südens gesehen, bemerkte dahin: „Some people always have to complain, it‘s the purpose of their life.“) – Dann, um halb neun, frühstücken. Auch hier schon schränke ich mich jetzt ein: paar Früchte, Haferflocken, Joghurt. Denn kaum hat man danach etwas getan oder auch nur gelesen, ist bereits Lunchtime. Die ich nicht mehr wahrnehme, sondern statt dessen geh ich in den Fitnessraum und trainiere. Ich kann das nur jeder und jedem empfehlen, wer immer solch eine Kreuzfahrt mitmachen möchte: Sparen Sie mindestens eine Mahlzeit aus, Sie werden sonst fett. Weil aber das Essen so gut ist, muß man etwas finden, das den Appetit reduziert. Also an der Grenze der Leistungsfähigkeit trainieren, dann ist an Hunger nicht zu denken, nicht-Trainierte bitte aerob, Trainierte leicht darüber. Man will danach allenfalls schlafen, jedenfalls ruhen. Und hat man das getan, tja, gibt es bereits Kaffee, bzw. Tee und Kuchen. Auch darum mach ich einen Bogen, aber erlaube mir gegen fünf den ersten Martini (shaked, ye know?, not stirred) und einen „echten“ Cigarillo. Und ab sieben gibt es Dinner, entweder als Buffett im Übersee-Club oder à la carte im Waldorf-Restaurant, wobei man auch, allerdings nur bei Vorbuchung, im „Romantic Dinner“ oder „Ristorante Toscana“ speisen kann. Das „Romantic“ bietet heuer ein fernöstliches Menü an; ich habe für heute abend reserviert.
Ja, und dann ist‘s bereits neun, und entweder Sie gehen in die Astor Lounge, um sich entertainen zu lassen, oder Sie sitzen draußen, wenn‘s nicht zu arg regnet, und süffeln wie ich Ihren Whisky. Wenn ich unterdessen – nach nur, ich bitte Sie!, vier Tagen – in der Hansebar aufkreuze, hat Sugar bereits die Flasche in der Hand und schenkt mir nach Maß seiner Augen ein, das dem seines Herzens entspricht. So lange unten, am Kopf des Promenadendecks, die Bespaßung, ist es bei Sugar nahezu leer. Klart das Wetter auf, wird Tanzmusik gespielt, draußen vor der Bar, und gestern nacht tanzten auch vier Paare. Wer seine Ruhe möchte, geht sanft gen Bootsdeck ab und schaut nach, ob dort Herr Lanmeister sitzt.
Noch sah ich ihn nicht, aber ich bin mir sicher, in irgend einer Kabine, da lebt er. Will nur noch nicht in den Text. Statt dessen sammle ich Typen – das ist nicht abfällig gemeint, sondern meint Repräsentanten bestimmter Typologien. Und da nun wird man fündig.
Ich vergaß zu erzählen, daß nach 22.30 Uhr immer noch ein Abendsnack gereicht wird. Jetzt werden Sie die absolute Notwendigkeit begriffen haben, hier den Körper heftig zu fordern. – Nach 22 Uhr sind die Laufbänder im Fittnessbereich auch dauernd in Benutzung – durch die Crew, nicht uns, die wir dann ja trinken.

Auch die Offiziere essen:
Stilleben nachts auf Achterdeck.

Notate im Notizbücherl:Zwei Herren, die allabendlich ihren Brandy trinken, der in weiten Cognacschwenkern serviert wird. Der eine Herr weißhaarig und weißkurzbärtig; sein dazwischen leuchtendes Gesicht wird immer röter und röter, glüht fast schon, nun, am fünften Tag der Reise.

Wie der Himmel wechselt Bootseck, 1805 Uhr. Über die Wolken etwas schreiben.

Tatiana Bespalova, die Geigerin, jeden Tag mehrere Stunden üben, zusammen mit ihrer Partnerin am Klavier, Kateryna Rodina; sie spielen sogenannte Klassik, auch davon, freilich, nur die Evergreens. Tun sie‘s im Captain‘s Club, Mitte Promenadendeck, ist das bisweilen herzrührend, weil oft kaum dreivier Leute zuhören, wenn es hochkommt, zehn. Ein Schicksal erzählt sich hier, eines von vielen Schicksalen, denen wir an Bord begegnen – bei der Besatzung, die Passagiere sind so und so privilegiert. Als Charlie gestern nacht Ray Charles sang und, klar, grauslich wie immer, Elvis, aber auch das Lied eines schwarzen Sängers, dessen Name ich vergessen habe, egal, nein, nicht egal…


… wie auch immer: es war ein Sehnsuchtslied für alle fern der Heimat, da stand neben mir eine der ukrainischen Serviererinnen und sang leise mit. Und plötzlich liefen ihr die Tränen – wie hatte sie erzählt? bereits zwei Jahre fort von daheim? und einen fünfjährigen Jungen… – So sei das – sagte sie‘s nicht so? – Leben? Immerhin d i e Kraft hat er, der Kitsch, den Pragmatismus auszuhebeln. Und täuschen wir uns nicht! Das funktioniert nicht nur bei „einfachen“ Menschen.

Wie der Bespalova die Sehnen hervortreten, rechts am Hals über die Schlagader dort hinweg, fast ein Wellenstrang, selbst, wenn sie zur Seite gewendet mit besonderem Kraftstrich spielt.

Und andere rührende Bilder:
Das alte, sehr alte Ehepaar, im bereits Dunklen am Bootsdeck, Hand in Hand, beide können gar nicht mehr recht gehen, aber er, so Kavalier!, hält ihr die schwere Tür auf: ein Ritus, der wirklich Zeit braucht. Diese Reise hier gibt den alten Menschen, was Sie vielleicht nicht mehr haben, gibt ihnen davon eine gefühlte Unendlichkeit: eben Zeit. (Sehen Sie? Wieder hat mir Herrn Lanmeister auf die Schulter getippt: zu sanft allerdings, um mich erschauern zu lassen.)

„Manchmal“, notiert Herr Lanmeister in seinem Kopf, „springt eine sehr kleine Reiterin auf eine der Wogen und läßt sich hinauftragen oder gibt ihr die Sporen, um sich hinauftragen zu l a s s e n. Dabei winkt sie uns zu, vielleicht auch nur mir, vielleicht kann alleine ich sie sehen. In den letzten Tagen, oder waren es Wochen, scheint sie mir sich immer häufiger zu zeigen.“

Heute ist das Gesicht des Kurzbartmannes n o c h etwas röter geworden. Es glüht nicht nur mehr, sondern strahlt.
BILD WELLE

Die bisweiligen Ungewißheiten, wenn das Schiff schlingert: surreal. Man weiß nicht, ob Einbildung oder Realität – besonders übrigens beim Sport, weil sich da nicht mehr sicher entscheiden läßt, ob nicht nur der eigene Kreislauf etwas überfordert wurde.

Und wieder die Bespalova, gestern nacht, „klassisches“ Konzert in der Astor Lounge, diesmal nun endlich vor vielen Leuten. Wie wunderschön, wenn sie die Waden streckt bei einer Bogenführung, die der gesamte Körper mittut: aus der Wade sich drehend hinauf ins dreifach gestrichene c oder d. Beide Damen, übrigens, auch die Pianistin, tragen ausnehmend schönen hohe Pumps unter ihren schmalen Fesseln. Der Rotgesichtige – unterdessen gleißt er – hat dazu sein linkes Bein über die hölzerne Sessellehne gelegt. (Wie halten wir, als Musikerinnen, die ständige Wiederholung aus? und aus, was wir spielen? Welch eine Wohltat war unser Bach, vorgestern, das Air, und füllt nun heute das Ave Maria den Raum! Wir spielen darüber, Zigan!, hinweg, lösen all die Wehmut auf in unser Temperament: zu küssen, als ränge man um Luft.)

Es wiegt sich das Schiff zu Straussens Blauer Donau. Und die Conferencière spricht „Massenet“ „Me‘sse-nett“ aus und „Fauré“ wie die englische Vier: „Gay(!)briel Four“. Besonders hübsch war auch, daß das Programm aus „Après un rêve“ ein „Apres Unreve“ (Ey‘press A‘nreyve {Unrave}) gemacht hat.

Meine erste Sternschnuppe. Unter dem Kreuz des Südens. Nachdem das Konzert vorbei war.
Und wieder auf dem Bootsdeck, allein, der Nachtsog des Meeres. Darüber werde ich eigens schreiben: gesondert.Vielleicht ein Gedicht. Die Reiterin, die Gregor Lanmeister sieht, hat auch ein d u n k l e s Gesicht. Wie schrieben mir einige Leser? „Kommen Sie wieder zurück!“

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