[Geschrieben für die >>>> horen.]
Natürlich sind heutzutage auch die Tische und Stühle, die nach der durchgesetzten Planbebauung statt der alten Liegestühle bereitstehen, immer zu schnell belegt, weshalb ich lieber früher komme, als verabredet ist, so daß ich den Vorteil wahrnehmen kann, oft bis zu einer ganzen Stunde, manchmal sogar länger, alleine für mich und von Meises Erregungen, auf die ich mich damit vorbereite, ungestört zu sein, so daß ich meine Beobachtungen anstellen kann, vor allem von Frauen, bevor endlich auch er eintrifft, der, während ich die öffentlichen Verkehrsmittel nutze, meist mit dem Auto herfährt, weshalb es, wenn er angekommen ist, oft noch eine Viertel- ja halbe Stunde zusätzlich braucht, bis er einen Parkplatz gefunden hat, womit er sich dann regelmäßig für die Verzögerungen entschuldigt, die aber ein Teil seiner, meine ich, Überspanntheiten sind, seines Blutes, möchte ich sagen, denn er kommt grundsätzlich zu spät, auch ohne Auto, weil er, so hat er mal behauptet, die Pünktlichkeit hasse, die man den Deutschen nachsagt, so daß er den Eindruck machen will, er wolle sie an sich selbst als eine falsche sozusagen Legende überführen, als eines dieser, so nannte er es gestern, Mißverständnisse, man komme um diesen Begriff gar nicht herum, wenn man von Deutschland spreche. Wie so viele Philosophen hat Meise, Sie merken es schon, eine wirkliche Meise, die sich bei ihm dankenswerterweise nicht nur in seiner Lebensfremdheit, sondern, so daß sogar Unvorbereitete gewarnt sind, auch in seiner Kleidung ausdrückt, für die er stark gemusterte Hosen voll bunter Karos bevorzugt, zu denen seine Jacketts auch deshalb niemals passen, weil er zudem Hemden mit dicken farbqueren Streifen trägt, welche seinen besonderen Bauch, gerade weil er ansonsten ein gelehrtentypisch hagerer Mann ist, ganz besonders betonen; er trägt ihn wie einen Ausstulp, den er, wie ich den bisweilen fiebrigen Eindruck hatte, abnehmen, vor allem aber öffnen könne, um darin zu verstauen und drin zu verschließen, was ihm, Meise, nicht angenehm ist, wozu Götter & Helden, 1934, ganz sicher auch gehörten, seiner Familie wegen, ich sagte das schon, die seinerzeit eine ziemlich böse Rolle gespielt, zumal die dem Buch beigegebenen ausgesprochen rohen Strichzeichnungen, von einem anderen Hans, Sauerbruch mit Namen, die Dimensionen des Bauches noch betonen, seine, sozusagen, ungeahnten Tiefen, wiewohl ich ihm, Meise, seine Verspätungsneigung als politische Inszenierung natürlich nicht abnehme, sondern eben meine, daß es sich schlicht um einen Zug seines Charakters handelt, um professorale Zerstreutheit, wenn Sie so wollen, die aber nicht ohne eine gewisse Nachlässigkeit gegenüber dem Freund ist, doch eben kein böswilliger, sondern allenfalls versponnener Tick, man könnte sogar Spleen dazu sagen, nicht jedenfalls, wie er vorgibt, Ausdruck einer bewußten politischen Provokation, die mit den, wie er das nennt, Mißverständnissen aufräumen will, in diesem Fall dem speziellen unserer, führte er aus, deutschen Pünktlichkeit, als am Nachbartisch zwei Freundinnen Platz nahmen, Mexikanerinnen vielleicht, vielleicht Argentinierinnen, Frauen jedenfalls romanischer Herkunft und jung, vor allem aber schön, so daß ich immer wieder hinsah und, während Meise plötzlich von Tragik sprach, was eine für ihn typische Übertreibung war, für die er sogar schon die Stimme hob, weil ihm jeder noch so banale Anlaß Grund zur Dramatik werden kann, den Blickkontakt aufzunehmen versuchte, so daß wirklich eine von beiden aufmerksam wurde und hersah, was mich derart durchzuckte, daß ich die Augen senken mußte und gar nicht richtig mitbekam, wie es Meise fertigbrachte, die mir nun tatsächlich eigene Pünktlichkeit, und Pünktlichkeit an sich, in eine an sämtlichen Haaren und Schöpfen, die in der Strandbar zugegen waren, herbeigezogene Verbindung mit den anderen von ihm so genannten Mißverständnissen zu bringen, zum Beispiel mit der deutschen Exaktheit oder dem, Sie lesen richtig, Sauerkraut, das, ereiferte er sich, als Choucrout doch mindestens ebenso Bestandteil der französischen wie der deutschen Küche sei, ja, Boudin zu Choucrout sei geradezu eine besonders Pariser Spezialität, und überhaupt habe es sich bei Deutschland noch nie um eine Nation gehandelt, sondern um einen, das rief er für alle hörbar und wie wenn er das Wort beschwören wollte: Kulturraum!, den mit einer Nation zu verwechseln sowieso schon Grund des Furchtbarsten gewesen sei, beziehungsweise, sagte er, es als eine Nation zu, sagte er, dekretieren. All das zwischen den trinkenden Gästen, die teils amüsiert, manche aber auch gestört zu uns herübersahen, und zwischen den Flaneuren und den Besuchern des hölzernern Amphitheaters, das Volpone spielen wollte, von Shakespeares Konkurrenten Johnson, dem, also jenem, holte Meise ohne Übergang aus, Roland Emmerich mit Anonymous ein wirklich großartiges Denkmal gesetzt habe, eines, das sich zu einem Nationalbewußtsein nun wirklich besser geeignet hätte und, wäre der Dichter nicht leider ein Brite gewesen, immer noch eigne als ausgerechnet die Nibelungen, die doch nichts anderes seien als die rohe Verherrlichung von Gewalt, ein, sagte er, Thrillerstoff, der Recht dem schlimmsten Schläger gebe, sofern er außerdem noch Betrüger sei wie – es war mir überhaupt nicht recht, daß Meise, weil er noch immer lauter wurde, uns derart auffällig machte – George W. Bush!, rief Meise, wobei mir schon der Zusammenhang nicht klarwar, nicht der zu diesem Altpräsidenten, den, sagte Meise, Wagner schon deshalb nicht hätte entlasten können, wenn es einen solchen Bush zu seiner Zeit schon gegeben hätte, nämlich weil der Mann viel zu alt gewesen wäre, viel zu wenig blond, rief Meise, um sich für einen Siegfried zu eignen, und als ein möglicher Ludwig zu wenig phantastisch und ohne jedes Kunstverständnis, das, sagte Meise, nicht ohne die Gnade auskommen könne, indessen er, Wagner, diesen selbst, Siegfried, so dumm gemacht habe, daß sich der Betrug ihm – noch gar, wie Hagen, Tückischkeit – nicht einmal verübeln lasse; (…)
Nun steht auch der Titel. „Spreetöchter“ heißt jetzt der ganze Text.