8.15 Uhr:
[Arbeitswohnung. Bruno Maderna, Improvvisazione 2.]
Die Zwillingskindlein zur Schule gebracht.
Auf dem Schreibtisch steht, in der Espressotasse, noch ein Rest Whisky. Aus Rom habe ich je eine Flasche Averna und Limoncello mitgebracht, was letztres, fiel mir aber zu spät ein, eigentlich dusselig war, weil ich ihn in Neapel, woher dieser Likör stammt, ganz sicher besser bekommen werde. Es gibt übrigens einen „Limoncello di Capri“, der >>>> von der Sphinxinsel aber gar nicht daher stammen muß, sondern es ist nur der Markenname. Schon frech, wie man Leute für dümm verkauft.
Lange nach einem Hotel in Neapel gesucht, dann eines gefunden. Wir werden standesgemäß logieren, in einem restaurierten Gebäude aus dem 16. Jahrhundert, mit Deckenfresken, altem Mobliar, sogar je Balkon: >>>> Le Stanze del Vicerè, nahe an meinen Lieblingsgebieten, südliche Altstadt, Unterstadt selbstverständlich, die „Beaux Quartiers“ sind >>>> für Spaziergänge gut.
Also herumgesucht, herausgeschrieben, kopiert. Dann kam mir die Idee mit der Stimmüberlagerung von O-Ton-Dokumenten, keine neue, nein, aber hier wird sie eine notwendige sein. Parallel trieb mich mein Trieb durchs Netz, immer wieder mal ein Filmchen; dieses, sagen wir, „Hobby“ hatte ich mir in Amelia verkniffen: Ich bin, für andre, diskret. Daß mich des Sexus so leitet… na gut, manchmal auch voranpeitscht, mich jedenfalls so, wie es neulich im Chat eine entfernte Freundin ausgedrückt hat, „verspielt“ sein läßt, stört mich auch dann nicht, wenn es objektiv von der Arbeit abhält; ich habe vielmehr das Gefühl, er hält mich lebendig, quirlig, erregbar, neugierig und neugierig auch ohne „neu“: für Schriftsteller:innen ist das Bedingung – und erst recht, wenn es ihnen um Poesie geht.
Also weiter mit dem Hörstück heute. Spätnachmittags Fußpflege, was auch Zeit wird, dann wieder Hörstück. Telefonate, wie gesagt, aber auch Briefe sind zu schreiben, unter anderem an meinen >>> Mare-Verleger. Und der Giacomo Joyce ist auf den Typoskriptweg zum Verleger zu bringen; ein paar Korrekturen muß ich noch übertragen.
Später vielleicht mehr. Guten Morgen. Seit Viertel vor sechs bin ich auf. Zweiter Latte macchiato, dritte Morgenpfeife.
Dichtern ist, und dann auch noch prinzipiell, nicht zu trauen? Weil sie der Droge des Schreibens verfallen sind? Das immerhin ist leicht zu verstehen.
Nein@Schlinkert. Sondern, weil sie berufshalber lügen, und zwar auch oder gerade dann, wenn sie das Wahre sagen.
Dichter Das verstehe ich jetzt nicht: „sie lügen, wenn sie das Wahre sagen“. Wie kann lügen, wer das Wahre sagt?
Hoch hinaus. Die Dichter sind auch Hochstabler. Aber nur, um den Fängen des Naturalismus zu enkommen. Sie erzählen wahre Geschichten von einem Ort, der nicht ist.
Lieber Cellofreund, Louis Aragon nannte es „Le mentir vrai“, das Wahrlügenn und schrieb >>>> ein ganzes poetisches Buch darüber. Ich habe das Paradox immer wieder erwähnt, vor allem auch in meinen theoretischen Schriften, sowohl im >>>> Kybernetischen Realismus als auch in der >>>> Kleinen Blogtheorie.
Das sagt uns ja auch Felix Krull. Der Roman ein Fragment, wie sollte es anders sein?
Felix Krull Daher hat Bloch diesen Roman auch als den Künstlerroman sui generis bezeichnet; im Gegensatz zum Kriminalroman, der die Spuren zurückverfolge, gehe dieser den Spuren nach vorne nach.
Ach, es müsste ja „jener“ lauten.
„Den Spuren nach vorne nachgehen“. Ist eine wahnsinnig gute Bescheibung für das, was geschieht ( – jedenfalls das, was geschehen sollte; unterdessen werden aber auch Romane schon nach Treatments beauftragt).
Dichter sind auch nicht verläßlich. Denn Inspirationen, was immer sie seien, sind nicht treu. Es kommen immer neue, oft gleichzeitig, und wollen, daß man sie vögelt. Das ist ihr Recht. Die Dichter haben dem nachzukommen, sonst werden sie mit Ideenlosigkeit bestraft und siechen, mal alimentiert und mal nicht, nur noch dahin.
Im schlimmsten Fall ist der Dichter, das sollte man nicht vergessen, auch der Lügenbold, der den herrschenden Tugendbolden die Munition liefert für ihr Treiben auf der Bühne des Lebens. Lügen, ohne zugleich allzu billig die Katharsis mitzuliefern, das ist die Kunst der Dichter!
Auf die billigen Formen der Katharsis kommt es nicht an. Da sind die Dichter grosszuegig, da schmeißen sie noch etwas hinterher.