Die WeihNacht. Im ersten Weihnachtsjournal dieses Jahres, nämlich des Dienstags, dem 25. Dezember 2012. Weihnachten 2012 (2).

10.10 Uhr:
[Arbeitswohnung. Strauss, Der Rosenkavalier (Lindenoper 1996, Aikin unter Runnicles).]


Daß ich dies zweimal mitgeschnitten habe! Damals noch mit dem Professionell auf Cassette. Daß ich dieses legendäre Cassettendeck habe, Nakamichi CR 3E, über den vor Jahren ein Techniker, der es wartete, staunte: „Was hat d a s Ding denn für einen Frequenzgang?! Wir haben gedacht, uns fliegen die Ohren weg -“. Eines Tages, wenn ich nicht mehr dasein werde, wird jemand meine Musiksammlung sorgfältig weiterbetreuen müssen, die ich aus rechtlichen Gründen unter Verschluß halte. Allein die Radiomitschnitte von Sendungen, die in den Archiven der Rundfunkanstalten begraben sind und an die deshalb kein Mensch mehr kommt; irgendwann wird man vielleicht von der „Sammlung Herbst“ sprechen, eine, die zu meinen Lebzeiten immer gelebt hat, weil sie gehört und gehört und wiedergehört wurde und dann vielleicht wieder gehört und gehört und wiedergehört werden wird. Damals jedenfalls sang Günter von Kannen, von dem ich eine in ihrer Eisekälte hinreißende Vinylaufnahme von Schoecks Lebendig begraben nach Gottfried Keller habe, den extrem präsenten Ochs. Auch die Schoeck-Aufnahme gibt es schon lange nicht mehr:

***

Nicht unsentimental heute morgen, der Herbst; na Weihnachten. Sowieso. Es ist immer mein Fest gewesen. Das langt aus meiner Jugend bis heute herauf. Vielleicht ist der Grund sehr banal: An Heiligabend gab es niemals Streit. Dazu das seltsame Erbe meines Vaters. Als ich den Baum erstmals selbst – da bin ich dreizehn oder vierzehn gewesen – zu schmücken begann, schmückte ich ihn, zur stupenden Überraschung meiner Mutter, genau wie er, den ich da doch seit meinem vierten Lebensjahr nicht mehr gesehen hatte, mit dem es, bis zu meinem siebzehnten Lebensjahr, auch keinen sonstigen Kontakt gab. Nun gebe ich diese Art des Schmückens an meinen Sohn weiter und vielleicht auch an die Zwillingskindlein; ob, das wird die Zukunft zeigen. Aber schon, daß einem das wichtig ist, der Baum wichtig ist, überträgt sich. Ich bin da wie ein Handwerker mit Handwerksethos. Fast alles im Baum ist eßbar und/oder aus natürlichem Material, und selbstverständlich sind es echte Kerzen: meist genau 13, um das Mondjahr zu ehren, Lametta wird nur sehr vorsichtig in einzelnen Fäden hinzukombiniert, jeder Faden gesondert drapiert. So ein Baum, bis er fertig ist, braucht Stunden. Schon die kleinen Kinder lernen, daß alles, was hineingehängt wird, frei hängen muß und nicht mehreres zu dicht aneinander. Jedes Ding muß seinen Raum haben, und die Fäden sollen nicht sichtbar sein. Schon bei leisestem Luftzug rufen dann alle Dinge in dem Baum nicht nur den Eindruck hervor, daß sie schweben, sondern sie können sich dann bewegen. Dadurch wirken sie, wenn man sich auf den Baum konzentriert, lebendig. Solch ein Baum ist, besonders wichtig, auch dort zu schmücken, wohin man gar nicht sehen kann, also auf seiner Rückseite, und zwar mit der ganz gleichen Detailfreude, und man schmückt ihm vom Stamm aus langsam nach außen, in einzelnen Schichten. Nur die Äpfel werden weiter vorne, nämlich ihres Gewichtes halber, ganz zu Anfang gehängt. Sie sind es, die dem Fall des Gezweiges die Form geben. Am Stamm aber werden Schätze versteckt und Geschichten erzählt; da bewachen Zwerge und Hexen ihr Habe, da liegt verborgen Geschmeide. „Ich geh mal eben einen Cigarillo auf dem Balkon rauchen. Überlegt ihr euch in der Zwischenzeit drei Plätze, um je euren Schatz vor uns anderen zu verstecken. Wenn ich zurückbin, bringen wir eure Verstecke dann an.“ Das hat bei allen dreien, auch den Kleinen, so gut funktioniert, daß ich selbst gestern lange gebraucht habe, um die Schätze der Kinder zu entdecken. Genau das gehört zu einem solchen Baum dazu: daß man dauernd in ihn hineinblickt und immer Neues und Wiederneues entdeckt. Eine seltsame, eindrückliche Naivetät des Herzens fängt Wärme auszustrahlen an.

*****

Die Zwillingskindlein, noch, sind im Alter, an den Weihnachtsmann zu glauben. Das begründet die Notwendigkeit des klassischen Heiligabendspaziergangs, an dem sich traditionellerweise die Mama aus irgend einem Grund absentiert, um die Geschenke unterm Baum zu verteilen und des Weihanchtsmannes Spuren zu legen und dann wieder zu uns zu stoßen. Gestern rief sie von dem Spaziergang ein Anruf ihrer Arbeitsstelle fort: sie möge doch bitte kurz dort vorbeischauen usw. „Geht ihr nur weiter, wir treffen uns gleich dort und dort.“ Wenn wir dann alle gemeinsam wieder zurückkehren, steht plötzlich die Balkontür offen, was man schon von der Straße aus sehen kann, und das Treppenhaus hinauf haben des Weihnachtsmannes Stiefel glitzernden Sternenstaub zurückgelassen, und tatsächlich hat er von der Verpflegung genommen, die vorm Aufbruch die Kinder für ihn auf einem Tellerchen vor die Tür gestellt haben. Die Wohnzimmertüre aber ist verschlossen. „Erst die Schuhe und Jacken ausziehen, bitte.“ Dann wird vorsichtig geöffnet, und es schäumt vor Glitzer unterm Baum. „Nein, noch nicht, erst müssen die Kerzen entzündet sein.“ Was meine, des, so das Zwillingsmädlein, „Baumbestimmers“, Aufgabe ist.
Unfaßbar aber, was ich von meinem Sohn geschenkt bekam. Er hat in der Waldorfschule mit seiner Klasse den dortigen Keller nach nicht mehr verwendeten Stühlen durchgeforstet; dann haben die Jugendlichen diese Stühle restauriert und selbst bemalt. Sie sollten Vorlagen verwenden bekannter Bilder, woraufhin mein Pfiffikus einen japanischen Mangamaler erfunden und den – Zuhause – ein Bild malen gelassen hat, das er abfotografierte und in der Schule als seine Vorlage präsentierte. Er kam wirklich damit durch. So hab ich nun ein in jeder Hinsicht Original, das hier in der Arbeitswohnung einen Ehrenplatz bekommen wird:

Momentan bin ich geneigt, ihn als Kunstobjekt anzubringen, an einer Wand vielleicht, anstelle ihn wirklich zu verwenden; es fehlt halt nur, eigentlich, an Platz; freilich könnte er auch unter die Decke gehängt werden. Oder aber, ich nehme ihn wenigstens vorübergehend als meinen Arbeitsstuhl, da mein englisches Schreibtischstuhlmöbel ohnedies dringend aufgearbeitet werden, also zum Polsterer muß. Mal sehen.
Ach, die Zeitläuft auch, in denen der Junge, dem so lange selbst die Wunder des Weihnachtens galten, nun zum Mitwisser wird und schon seinerseits mitwirkt, den Kleinen diese Wunder groß zu machen – ohne, was besonders schön ist, jeden Spott, sondern ernst, wie fast ein Gläubiger-selbst. Auch das ist ein Geheimnis: daß wir wirken, indem wir selbst zu glauben fähig sind, was wir erschaffen. Es ist eine Übereinkunft wie all jene Übereinkünfte sind, die uns im Theater bereit machen, etwas, das Bühne ist, trotz offenbarer Widersprüche für wirklich zu nehmen: wenn sich Cherubino hinter dem Sessel versteckt, akzeptieren wir, wiewohl er für jeden völlig sichtbar, daß er eben n i c h t gesehen wird. Immerhin akzeptieren Millionen Menschen den 24.12. als Christi Geburt, wenngleich der Anlaß des Festes ein eigentlich völlig anderer war, und auch, wem dieser eigentliche Anlaß noch im Bewußtsein ist, daß nun die Tage wieder länger werden und mit dem Fest „eigentlich“ d a s gefeiert wird, legt den Umstand liebevoll beiseite, daß Sonnenwende bereits am 21./22. statthat. Absolut n i c h t liebevoll, freilich, muß man auf die Tatsache blicken, daß die Sonnenwende von der politisch extrem Rechten okkupiert wurde. Es ist nicht einzusehen, ja ebenso kultur- wie geschichtsfeindlich, ihr kampflos eine Seelentradition zu überlassen, die bis weit in die Antike zurückreicht. „Jul“, übrigens, steht für das Sonnenrad. Daß die Nationalsozialisten und die heutige Rechte die Wintersonnwende mit ihren eigenen Inhalten besatzen, entspricht dabei der Besatzung der Lichtfeier durch die frühe aggressiv-missionarisch christliche Kirche, deren Handlungen sich von denen des heutigen radikal-fundamentalistischen Islams ohnedies nicht sehr unterscheiden. Doch insgesamt ist es seit jeher Taktik von nach Macht strebenden Bewegungen gewesen, sich bestehender Brauchtümer zu bedienen und sie entsprechend umzuinterpretieren. Es ist ein Akt des Widerstands, nach wie vor, sich das nicht gefallen zu lassen. Für mich gehört auch das zu Weihnachten hinzu.

Und nun geht es wieder zur Familie hinüber. Guten Morgen.

2 thoughts on “Die WeihNacht. Im ersten Weihnachtsjournal dieses Jahres, nämlich des Dienstags, dem 25. Dezember 2012. Weihnachten 2012 (2).

  1. Eine wunderschöne Weihnachtsgeschichte.
    Ihnen (und den Ihren), Lieber Herr ANH, ein Frohes Fest (nachträglichich) und Guten Rutsch (vorträglich) – und im neune Jahr nicht so viel Verduss (das ist der Stimmung abträglich), lieber bei Gelegenheit einen Glengoyne, das wäre dann mein verspätetes Weihnachtsgeschenk (und mithin in jeder Hinsicht zuträglich)!
    Herzliche Grüße
    NO

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