Erstes Marburger Arbeitjournal: Räume des Schreibens und der Fiktion (2). Freitag, der 23. November 2012. Darinnen das Phänomen Peter Kurzeck.

4.44 Uhr:
[Gästehaus, L1.]
Teekannes Sternenmarkt, Morgenpfeife.

Das Getränk ist ein vorweihnachtlicher, so grammatisch wörtlich, „Kräutersud mit gebrannte Mandel-Vanille-Aroma“, so daß mich der Dativ sogar lockte, auch wenn diese Teebeutel sowie das einzige waren, was sich in der kleinen Teeküche der Hausparzelle nebenan für heute morgen finden ließ:

Ist auch gar nicht schlecht, so zum Frühstück zwischen Marburg Scalo und Marburg Oberstadt, knapp (in welche Richtung fließt sie?) rechts oder links der Lahn, deren idyllischem Trödeln die ganze „Stadt“passage lang ein Flyover wie jener in Bombay folgt, der über die riesigen Gleisanlagen von Victoria Station führt, nur daß es so riesige hier gar nicht gibt, und er, der Flyover eines wahrscheinlich Autobahnzubringers, zu den vielleicht zweihundert Meter entfernten Gleisen parallelgeführt führt; wo er wieder zur Erde gelangt, nimmt einseits die befahrene Straße, in die er übergeht, andererseits eine zweite Straße das Gelände der Universität in die regelrecht Zange. Das ich will mal sagen „Tübinger“ Gästehäuschen liegt zwischen da, einem Botanischen Gartenspärklein und der sogenannten Ober-, nämlich Altstadt direkt an einer momentan tüchtig matschigen Baustelle und einem 60erJahreMietsbau, für dessen Platten-Vor-Bauweise die hiesige DDR-Ästhetik sich ganz sicher nicht zu schämen braucht. Synkretistisch gesehen, ist die Ästhetik meisterhaft in ihrer seelenlosen Schlamperei, und das Gästehäuserl darin wie das Lebkuchenhaus einer mir aber bislang noch nicht in Erscheinung getretenen Hexe, die kleine Arbeiterkinder fangen und später aufessen will. Allerdings sah ich nicht Käfig noch Backofen, während sich, fingerersatzweise, ein Reisig schon finden ließe draußen, um ihn die durch die Stäbe zu stecken. Hexen sind ja derart blind.
Dennoch weckte mich eine, aber sirenig und auch von Landsirenens Ausehn: schmal, jung, fast studentisch, aber doch mit mahnendem Ton: daß ich jetzt bitte aufstehen möge. Doch, das träumte mir zuletzt. Sie gab mir, um mich zu überzeugen, einen Kuß auf die Wange, den ich nicht replizieren mochte, weil ich, sagte ich, noch nach dem Himbeergeist röche, den ich gestern zur Nacht genommen, ein Glas davon, was ein Glasvoll auch meint, nicht etwa nur ein Stamperl. Der nämlich, der Geist, fand sich in der Teeküche auch. Meinecke und ich konnten nicht widerstehen.
Jedenfalls hat es zwanzig Minuten gebraucht, bis ich den Kräutertee fertighatte, den ich einfach die Kaffeemaschine zubereiten ließ, derweil ich in der Restnacht eine Zigarette rauchend und den Verkehrsgeräuschen lauschend, die hier um diese Zeit noch nicht erheblich sind; man vergißt Marburg Scalo tatsächlich ganz – Scalo heißen in Italien die Ortschaftsmetastasen, die sich um die kleinen Bahnhöfe bilden, welche – sicher aus gleichem Grund wie hier – weit außerhalb der eigentlichen Ortschaften gelegen sind, weil wiederum diese so oft auf dem Berg. Das ist für Eisenbahnen nix, nur wenige haben alpines Temperament und Befähigung, um von Begeisterung zu schweigen.
In die Oberstadt fährt dann tatsächlich ein Lift. Man schreitet noch eine Holzdielen-Brücke entlang und kommt im Nürnberger Christkindlsmarkt an, dessen Restauriertheit derart sauber ist, wie sie nur deutsche Archivare zu realisieren verstehen, sofern sie sich allein von Zucker ernähren, besonders in seiner pudrigen Form.

Immerhin paßt mein heutiger EsoterikFürHausfrauenMorgenarbeitstee dazu extrem. – Dort mittendrin tagen wir im historischen Saal des alten Rathauses:

(Da ich mir Dusche und Bad mit einem Gästenachbarn teile, erzähle ich weiter, wenn ich rasiert und geduscht bin; das Kolloquium beginnt recht früh, und vorher soll noch gefrühstückt werden, auf dem Weg hinauf… Ich mag nicht, daß er, >>>> Jörg Döring, nachher fragen muß, ob frei sei, noch möcht’ ich selber fragen.)



6.12 Uhr:
[Giacomo Cuticchio, Musica da camera.]


Nun also

Das Phänomen Peter Kurzeck


Bereits als Kind habe er nicht gewollt, daß etwas verlorengehe aus der Landschaft seiner Kindheit, der direkt der Verlust der ersten Kindheitslandschaft vorausgegangen war und, erzählt er, derart schmerzhaft gewesen sei, daß er von nun an – er meint sich als Fünfjährigen! – alles habe festhalten, habe es für immer erinnern wollen. Ich fragte mich, ob ein eidetisches Vermögen aus Not entstehen könne, denn um so etwas, tatsächlich, scheint er sich zu handeln. Kurzeck weiß die Färbungen der Steine noch, an denen er auf dem Schulweg vorbeilief.

Bei so vielen Bildern ist der Kopf irgendwann voll, da muß heraus, was drinnen keinen Platz mehr hat, und er schreibt fort und fort und hält, ein ganz bestimmter literarischer Ort, in seinen ununterbrochenen Büchern fest, was noch sein und wenigstens in ihnen bleiben möge, Namen, Häuser, Gerüche, Wälder, Felder, Baustellen, die alten Betriebe, und Wörter hält er fest, zum Beispiel „Stift“ für Lehrling, und wenn man ihn dann nach seinen Büchern fragt, erzählt er genau so aus der Erinnerung weiter, wie er sié schreibt. An die Stelle, freilich, der einstigen Härte ist unterdessen eine Art Verklärung getreten, die ihm ein Publikum zuführt, das gerne auch verklären möchte, während ich dachte: O Göttin, da wär ich aber ganz schnell abgehaun, aus so einem Ort. Interessant, wiederum, der Märchenton, auch die Märchenmotive, zu dem und denen ihn seine spezielle Art poetischer Verklärung führt. Mitunter heben die Erinnerungsbilder dieser Texte in surrealistische Inszenierungen ab; immer dann werden sie auch für mich – poetologisch – spannend. Wie sich der doch erst einmal offenbar „Realismus“ hier aufhebt, wie er Räume aufschließt, etwa, wenn das Kind die Lahn Krokodile hochschwimmen ahnt oder aus einem Teich, der wahrscheinlich Tümpel gewesen, das Meer wird. Das, in der Tat, sind große literarische Momente, auch wenn der gesamte Gestus sich im Zurückblicken erschöpft; nun ja, er ist auch wirklich jetzt ein alter Mann, dem sein, berechtigter, Erfolg, sehr gut tut. Ich kannte für ihn andere Zeiten. Das versöhnt mich mit dem mir oft zu weichen Versöhnungsgestus, den diese Dichtung verströmt. So wenig Wille, denk ich ihr entgegen, aber ich kann mich täuschen: denn die Rapidität und detaillierteste Erinnerungsbesessenheit Kurzecks hat ihre eigene Unerbittlichkeit; das ist ganz ebenfalls zu spüren.

Vorher hielt Heinrich Keulen einen eher vergleichenden Beispiele-Vortrag zu „On the road again“, der mir ein wenig zu sehr von der Fetischisierung eigener Jugenderinnerungen bestimmt zu sein schien, allzu ergriffen nach wie vor von dem seltsam machistischen Mythos Easy Rider; ja der Vortrag war selbst eine geradezu „klassische“ Männlichkeitsinszenierung vorgeblich offener Räume, gegen die er die geschlossenen Erzählräume, etwa des Törleß‘, auffällig distanziert hielt. Die schematische Vergleichslistung verschiedener Erzählparameter scheint mir das, was tatsächlich in der zeitgenössischen Literatur geschieht, eigentlich gar nicht zu berühren; erwartungsgemäß wird auch bei ihm das Netz und die darin erscheinende Literatur nicht einmal gesehen. Auch er hat etwas „Rückblickiges“, sogar dann, wenn sich eine ideologisch größere Differenz als die zwischen bereits Easy Rider und dem, besonders nach seiner Lesung, späten Kurzeck kaum denken läßt. Literatur erscheint bei Keulen wie ein, sagen wir, Rahmenprogramm, was vielleicht an der literaturwisenschenschaftlich, zweites Vielleicht, nötigen Typisierung liegt.

[Roland Graeter, Improvisationen für Cello & Stimme.]

Soweit erst mal dazu. Das heutige Programm entnehmen Sie bitte der Seite hinter >>>> diesem Link. Meinen eigenen Vortrag, nachmittags zu halten, habe ich noch immer nicht ausgedruckt; mittags wird aber gut Zeit, sogar für meinen Mittagsschlaf, sein.
Guten Morgen.

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