Zu s a g e n, was ist. Das Arbeitsjournal des Sonntags, dem 11.11.2012. (Dritter Seminartag). – Dann abermals, ab frühem Nachmittag, Pelléas et Mélisande.

5.17 Uhr:
[Haus des Landessportbunds, Zi.76.]
Schwere Nacht bis zum Einschlafen gehabt; Magenattacke mal wieder. Das Kantinenessen, kann man sagen; ich weiß immer schon vorher, daß ich davon nichts nehmen sollte; ging imgrunde schon vorgestern abend als leise Bauchwarnung los; ich überging‘s. Ich hab keine Ahnung, was in dieser „deutschen Hausmannskost“ es ist, daß mir über dem Bauch die Decke aufklappt, das Fleisch der Organe liegt frei, was noch nicht schlimm ist, es deckt sich auch wieder zu. Wenn alles gut geht. Wenn also nicht noch irgend etwas hinzukommt, das sich hineindrückt. Ist hinzugekommen, und der Protest ging los. Mit heißem Wasser eine Plastikflasche gefüllt, auf den Bauch gelegt, nur ausgeharrt, daß ich einschlafen kann – immer im Wissen, daß sich die Verkrampfung bis zum nächsten Morgen gelöst haben wird. Nur selten war es anders. Ich habe das seit meiner späten Kindheit, immer mal wieder, bisweilen einzwei Jahre gar nicht, dann erneut mit ziemlicher Macht. So muß, nur da im Kopf, chronische Migräne sein, etwa wie von Berg berichtet wird; man kann nichts tun, nur warten, bis es vorüber ist. Ist ausgestreckt, am besten auf dem Bauch liegen, darunter die möglichst heiße Wärmflasche. Wenn ein erstes Grummeln durch den Magen geht, weiß man, nun ist es bald vorüber. Das kann aber, und tut‘s meist, Stunden dauern, dauert aber, wie gesagt, nie oder nur selten über den Nachtschlaf hinaus. Bis zum Grummeln liegt sowas wie ein Eisenstück, das sich aber ausdehnen kann und Dornen hat, im Magen: es will sich nicht verdauen lassen. Ist der Anfall vorüber, liegt das Eisenstück zwanzig Zentimeter tiefer und muß nur noch ausgeschieden werden; anrichten kann es da nichts mehr. Als ich ein Kind war, Jugendlicher, 14 oder 15, und solch einen Anfall erlitt, der nicht vergehen wollte, schickte mich meine Mutter ins Krankenhaus. Da sie Patienten hatte, konnte sie mich nicht begleiten. Also packte ich meinen Koffer, immer in diesem Bauschmerz, und ging dann gekrümmt alleine hin, kam sofort in die Notaufnahme, dann eine Woche zur Beobachtung & Beruhigung; schließlich entließ man mich ohne Befund. Später wollten Ärzte ein Magengeschwür vermuten. War nicht, war nichts als mein in den Bauch gerutschter protestierender Kopf, der Schmerz aber meßbar, meßbar auch, daß schlichtweg nicht verdaut wurde, sondern liegen-, lastenblieb. Unterdessen weiß ich, daß es eine bestimmte Art Nahrung gibt, die die Disposition für den Anfall bereitstellt, aber eben nur die Disposition. Es muß noch etwas hinzukommen, um ihn zu bewirken, etwas, wie ich glaube, Eigentliches, indessen das schlechte Essen nur die Trägersubstanz ist, auf der dieser Schmerz in mich hineinrutschen kann. Dieses Eigentliche ist das Bewußtsein von Ohnmacht, Hilflosigkeit.
Ich gehe durch die Gänge und den Saal dieses Sportlerheims und fühle Beklemmtheit, Unbehagen, etwas auch durchaus Unheimliches, vor dem ich mich schützen möchte, aber nicht kann, weil ich ja eine Arbeit auszuführen habe. Die aber, fühle ich, dieses Mal nicht gut ausführe. Der Funke springt nicht über, die Lust an der Formulierung, am Erkennen insgesamt, ergibt sich nicht. Kurz, ich habe in diesem Seminar den Eindruck, für die jungen Leute gar keine Sprache zu haben, auf der sich etwas Gemeinsames, Verbindendes errichten ließe. Normalerweise stecke ich besonders junge Menschen mit meiner Begeisterung an, mit der Freiheit des Denkens an, auch mit der Lust am Risiko an. Hier habe ich den Eindruck, gegen Watte zu sprechen. Ich bin kein Pädagoge, wollte auch nie einer sein, das rächt sich diesmal und macht mich hilflos. Die Werte, die jeden in der Gruppe tragen, einschlossen mich selbst, sind derart verschieden. Kultur im Sinn von Kunst & Erkenntnis spielt gar keine Rolle – was nicht ganz, nicht für jeden, stimmt, vor allem nicht für die stilleren Teilnehmer; da blitzt immer etwas auf, es ist auch ein entschiedenes Talent dabei, aber es geht in dem, will ich einmal sagen, Willen zur Anpassung unter, dem meine Art, mich eben nicht und auf gar keinen Fall anzupassen, einfach nur fremd ist, ebenso wie, daß mich finanzielle Sicherheit nie interessiert hat. Ich hätte sie immer ganz gerne gehabt, war aber nie bereit, für sie Opfer zu bringen. – Ganz hab ich den Problemkreis noch nicht eingegrenzt; es passiert mir so, seit ich lehre, auch zum ersten Mal. Entschiedenes Gefühl zu versagen. Das legt sich auf den offenen Bauch, der quasi genau darauf wartet.
Ich hätte die Gruppendynamik aufbrechen müssen, gleich von Anfang an. „Dir fehlt nach den sechs oder sieben Jahren“, sagt >>>> Phyllis Kiehl, „noch die Erfahrung.“ Wir sprachen gestern abend lange noch; sie blieb eigens noch etwas im Heim, um mit mir zu sprechen. Als sie gegangen, wurde der Magenschmerz akut, und ich legte mich hin. Ich kann dann nichts tun als abzuwarten. Musik zu hören, geht nicht, nicht, einen Film zu hören, schon gar nicht zu lesen oder gar zu arbeiten. Nur warten, bis es vorüber ist.
Was in dem Sportlerheim reaktiviert wird, ist meine Kindheitspanik vor Gruppen. Das ist offensichtlich. Die jungen Leute haben eine Tendenz, sich den Gruppen einzuschmiegen, um, sozusagen, nicht herauszustehen und im Fluß abgebrochen zu werden; ich hatte immer die Tendenz, mich gegen die Gruppe zu stemmen, weil ich, so formulierte ich das gestern abend, wußte, daß ich, wenn ich mich beugte, getötet werden würde. Es treffen zwei Strategien des Überlebens aufeinander, die nicht vermittelbar sind, jedenfalls nicht von mir. Sich wohl im allgemeinen Aufgehobensein zu fühlen, kann ich nicht einmal abstrakt denken.
Sowas geht mir heute morgen durch den Kopf. Ich muß die pädagogische Laufrichtung ändern. Es widerstrebt mir aber zugleich. Da das eine objektive Zwickmühle ist, kommt es zum in den Körper verschobenen Protest.
(Es reicht übrigens, den langen Gang an all den Sporttrophären, Mannschaftsfotografien usw. vorüberzugehen, um mir das Unbehagen einzuflößen. „Mach mal Platz, bitte, Mädchen“, sagt eine der Küchenfrauen, in der Kanine, zu einer jungen Frau, Teilnehmerin eines anderen Seminars. Die bleibt stehen, reagiert nicht. Die Küchenfrau will aber mit dem Tablettwagen durch. Ich gebe der jungen Frau ein freundliches Zeichen. „Ach so“, sagt sie, „ich bin gemeint… bei ‚Mädchen‘ fühle ich mich schon lange nicht mehr angesprochen.“ Da war ich momentlang erlöst. So recht hatte sie, und so richtig hatte sie reagiert, eben nicht zu reagieren: auf diese abfällige Art angesprochen zu werden. Wer war diese Küchenfrau, sich so etwas herauszunehmen?)

(Meine Bewegung, sich zu befreien: zu sagen,was ist, und n i c h t: sich zu verbergen. Völlig egal, wer es lesen, also erfahren könnte. Gesicht zeigen. Sich. Auch nicht die Schwäche verbergen. Sie eben zu zeigen, das genau ist Stärke. Andernfalls, und zwar immer, gilt >>>> das:– die „klassische“ Bewegung des Bürgertums -: zu verschweigen, was die Not schafft.. Mit Verschweigung läßt sich der Gewaltzusammenhang niemals durchbrechen, weder der von Gesellschaft noch der – der an ihrem Tropf hängt – persönliche.)

14.16 Uhr:
Müde, das Seminar ist vorüber – und war dann doch noch erstaunlich, schließlich. Die jungen Leute haben tatsächlich nachts noch weitergearbeitet, und heute früh lagen dann Texte vor, die ich so gar nicht mehr für möglich gehalten habe. Manches geschieht, wenn man nicht mehr damit rechnet, als wäre ein Schalter umgelegt worden, habe sich umgelegt zu einer ganz anderen Zeit; als wirkte untergründig und bräche dann heraus, nachträglich fast.
Schwere Arbeit war das diesmal. Ich werde jetzt eine Stunde schlafen, dann erst aufbrechen; die Rezeption gab das Okay. Vielleicht sieht man mir an, daß ich etwas grau bin im Gesicht, Dann, im Zug, wieder Argo, auch wenn ich vorher noch etwas zu zweidrei Thesen schreiben möchte, die >>>> dafür im Programmheft stehen – wobei ich ganz froh drüber bin, es nicht – anders als meine Gewohnheit ist – vor meiner Kritik gelesen zu haben; was ich dachte, wäre allzu präformiert worden, bzw. hätte ich einiges nicht mehr geschrieben, eben weil es im Programmheft steht, und ich es also nicht wiederholen wollte, aus Stolz oder auch Eitelkeit über den eigenen Gedanken. So nun wird deutlicher, wo er, besonders an den Rändern, differiert. Wenn Norbert Abels etwa über Maeterlincks Bemerkung schreibt, es seien die geträumten Schlösser die einzigen bewohnbaren, so ist dem unbedingt entgegenzuhalten, daß dem im Fall von Pelléas und Mélisande nun gerade n i c h t so sei. Dazu aber, Leserin, später. Die Fahrt nach Berlin reicht sehr gut aus, die ganze Oper auch noch einmal zu hören. (Die ständig inhärente Frage meint aber „eigentlich“: Was ist aus ihr, als Antwort, für meine Poetik zu folgern?)

16.55 Uhr:
Um Göttins Willen! eben erst aufgewacht… Niemand hier hat mich geweckt.
ICE verpaßt, aber bis 19 Uhr fahren die Züge nach Berlin mindestens stündlich. Zusammenpacken, Zimmer aufräumen, Schlüssel abgeben, Verzeihung sagen. Und dann los. Über den Traum werde ich im Zug schreiben. Mir träumte von meinem – Vater.

17.35 Uhr:
[DB-Lounge.]
Uff. – Schnell noch –

(“Drei Stunden” – stimmt das denn? Nein. Aber zweieinhalb.)

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