Das Ives-Journal des Freitags, dem 2. November 2012. Glöcklers Ives (2). Mit einer, anfänglich, Bemerkung zum Hauptbuch des sexuellen Machtübergriffs in den Betrieben. Und Wehmut mittags, und Mitgefühl und Wissen.

4.46 Uhr:
[Arbeitswohnung. Ives, Sonate 1 für Geige und Klavier.]

… ja, Vater, ich erinnere mich, lasse den Blick noch einmal
über deine Schrift gleiten, höre dich aus weiter Ferne und wie
zum Troste sagen, daß wir morgen ein Lied zusammen sin-
gen würden, du in moll, ich in Dur, nur so, um das Gehör zu
stärken, und nun, sagte ich, spielst du, wie es sich gehört,
trat zurück, nahm meinen Schatten mit und schloß die Tür.


Der junge Charles Ives, >>>> bei Glöckler,
an den gestorbenen Vater.


Um zehn nach halb fünf auf, mein Junge schläft wieder einmal hier; zwei volle Teller der Hühnersuppe hat er abends verdrückt; dann sahen wir noch, mein Lesepensum war geschafft, einen ziemlich schlechten Film, Scary Movie, dessen Klamottereien er für komisch hielt, aber er ist eben auch erst zwölf: interessant aber, wie sich über Klamauk der Sexualität angenähert wird, einer nun schon deutlich pubertären, nicht aber schwärmenden, sondern letztlich (noch) abgewehrten, auch, wie hier Geschlechterbilder gesetzt, verstärkt, abgelehnt werden, etwa in Form einer mir sehr unangenehm verulkten männlichen Homosexualität; nach dem, in Glöcklers Roman, langen Brief Harmony Ives‘, der auch jemanden wie mich ausgesprochen gegen Homophobie sensibilisiert, war dieser letztlich – weil er so auf „Humor“, einen für Primitive, tut – diskriminierende US-Quatsch nur schwer auszuhalten. Gestern abend war es zu spät, aber ich will auf jeden Fall mit dem Jungen darüber sprechen und werde das beim Frühstück tun. (Meine eigene Homophobie, die mir eben auch Glöcklers Buch vor Augen führt, hat lebensgeschichtliche Gründe: nicht die, daß ich, was so war, als Jugendlicher von Homosexuellen sehr umschwärmt war, es gab aber nie einen Übergriff, sondern daß ich im Kunstbetrieb deutliche Nachteile hinnehmen mußte, auch Aufträge verlor, weil ich nicht homosexuell bin; da spiegelt sich aber eine Machtstruktur, die ins, hätte Bloch in anderem Zusammenhang geschrieben, „Hauptbuch“, einem Machtbuch, gehört, in dem in den nicht-künstlerischen Betrieben vor allem Frauen schlechte Zensuren bekommen, wenn sie denen über ihnen nicht zu Willen sind.) – Um sechs möchte der Junge geweckt werden, weil er vorm Aufstehen noch eine halbe Stunde lesen will. Dazu wird es wieder Tschaikowski geben, Tradition in b-moll, und selbstverständlich seinen Kakao.
Latte macchiato, Morgenpfeife. Ich meinerseits werde, auf Seite 151, meine Lektüre wieder aufnehmen und heute sicherlich auch abschließen. Dann will ich noch ein paar Musiken Henry Cowells hören, der in Glöcklers Roman eine auch musikästhetisch entscheidende Rolle spielt, und mir Notate für >>>> die Moderation machen, die ich, wie >>>> die Veranstaltung in der Literarischen Freiheit, als Gespräch führen möchte; auch eine kleine Einleitung will ich schreiben.
Mit dieser Vorbereitung wird der heutige Freitag vergehen; parallel noch dreivier meiner Hörstücke für Winbeck kopieren und endlich diesen Brief schreiben. Ab morgen wieder Argo: Thetis neu lesen, und so fort, bis ich bei Argo wieder lande und die Lektoratsfassung herstellen kann.
Guten Morgen.

Feuer, Mr. Emerson, stoße ich hervor, springe die Treppe
ins Erdgeschoß hinunter, Feuer, schon schlagen Flammen
aus dem Dach, Mr. Emerson, Sie müssen sofort das Haus
verlassen, um Himmels willen, bitte, beeilen Sie sich –

Glöcklers Ives 2.
>>>> Glöcklers Ives 3 (um 12.32 Uhr im Link)
Glöcklers Ives 1 <<<<

6.04 Uhr:
[Tschaikowski, b-moll.]

7.35 Uhr:
Nu‘ isser los – und ich dachte, daß das doch eigentlich „praktisch“ sei, wenn ich lesen müsse – so kann ich endlich in den Waschsalon; hier gehen die Boxershorts schon aus, wiewohl man einer, ein Boxer, nicht im entferntesten ist. Aber wo ich lese, is‘ ja wurscht; ich kann mir sogar, auf dem mp3-Player, von Ives Musiken mitnehmen –

Auch ein schönes Gefühl: daß mein Junge heute mittag heimkommt und auch dann noch mal mit mir ißt. Schon toll, welch lockende Wirkung eine Hühnersuppe hat. Wozu mir wieder >>>> „Chick“ einfällt. Übrigens und à propos ist das Gespräch mit dem Jungen geführt: wie, am Beispiel des Films von gestern abend, Geschleschtsrollen zudefiniert werden, letztlich über – Angst vor Lächerlichkeit. Je länger ich drüber nachdenke, um so ärgerlicher werd ich auf den Film. „Wenn so sehr viel Jux gemacht wird, ist das in Ordnung, Junior, aber gerade da muß man sehr aufmerksam sein: gegen wen er sich heimlich oder offen richtet.“ So daß wir über Neigungen sprachen, auch über Transvestiten und über Tanssexuelle und daß allesie, die und Lesben und Schwule und wir, gleichermaßen fühlten, gleichermaßen denken könnten, gleichermaßen leiden, gleichermaßen glücklich sind und gleichermaßen menschlich, und daß es unter denen genau wie allen anderen Miesheiten und Größen gebe. Und das komplette Mittelmaß.

Der Rucksack mit der Wäsche steht schon vor der Tür.

12.41 Uhr:
[Am Cello übender Sohn.]

Der Junge wird sowas von gut plötzlich… ich lausche, und sehe zu, in einer Mischung aus Stolz und Wehmut, diese, weil ich doch gerne so etwas auch gekonnt hätte – aber es ist weit weit weg, weggerutscht, weil mir meine Arbeit keine Zeit läßt, selbst zu üben, weil ich aber auch weiß, nicht mehr zwölf wie mein Sohn zu sein, zwölfdreeiviertel, um ihn auch sein zu lassen, was er nun entschieden schon ist: ein Jugendlicher zu Beginn der Pubertät. Gestern abend sprachen wir noch über Erinnerungen, er als Vier-, nein Dreijähriger, wie ich ihn im Fahrradfahren übte, er noch mit Stützrädern seitlich, und daß ich ihn dabei, während wir den Kiezblock umrundenten, mit Mandarinenschnetzeln fütterte, er streckt das Mündchen vor – ah, Zeit!
Ich bin auf Seite 201 des Ives-Buches, die Wäsche ist gemacht, geradezu nebenbei zu dem Leseraum, den das Buch sprachlich bedeutet, auch wenn es im dritten Teil ein paar kleine Nervigkeiten gibt, de Formulierungen, dieses „sei dies doch“, „waren wir doch“, „hat er doch immer“ als Anschlüsse, ein paar Seiten lang auch immer wieder so nahe hintereinander… – doch aufs Ganze gesehen, >>>> Delf Schmidt hätte da scharf lektoriert, ist das eine Beckmesserei, etwa gelegt an die fassungslos berührende Szene, worin Harmony Ives die Totgeburt ihres Kindes beklagt und was sie, danach, Nacht für Nacht für sie bedeutet habe, was ihr Mann aber nicht wahrnahm, so in seine Musik verwoben, daß es schon, eben m i c h, erschreckt, der ich wohl gar nicht anders bin:… Frau, stößt sie hervor, schlägt die Hände vors Gesicht, Frau, bricht in ihr gequältes Lachen aus… Frau, stößt sie also hervor, windet sich in ihrem Sitz, biegt den Oberkörper nach vorne, als krümtme ie sich vor Schmerzen. (…) Frau, fragt sie sarkastisch, sie, deren Körper nach der Fehlgeburt eine Grust sei, ein Grab, eine ausgehobene Grube, ja, sie fühle, wie Erde aus ihrem Leib geschaufelt werde, Tag und Nacht…

Und dann dieser sein Cello spielender Sohn, der es allmählich versteht, einen Ton ziehen, dahinziehen zu lassen –
Ich werd mal die Suppe heiß machen, damit wir zu Mittag essen können, wir zwei Männer. Momentan denke ich, daß ich meinen Mittagsschlaf für die Lektüre ausfallen lassen werde, auch physiologisch kann, weil der Junge bis etwa 15 Uhr noch hierbleiben und seinen Green weiterlesen will; so läsen denn wir beide.

(Was meine Lektüre a u c h bedeutet: sie unterbrechen, um sich zum Beispiel über >>>> die Lusitania schlau zu machen, weiters über die Beteiligten, den Kommandeur Walther Schwieger etwa, von dort beim Pour le Mérite zu landen – undsoweiter; den Links, jedenfalls, zu folgen, um mehr, immer mehr Welt in den Kopf zu bekommen..)

17.41 Uhr:
[Ives, Zweites Streichquartett.]
Zuende mit diesem Roman. Ein bißchen schade, bin den Personen nah. Glöcklers kurzes Nachwort steht noch aus, in dem er u.a. seine Quellen offenlegt. Daraus für den Friedrich lernen, meinen geplanten Friedrich-II-Roman. Zukunftsliteraturmusik.
Pfefferminztee, Pfeife. Tue mich nach Musik von Cowell und Ruggles um, will gehört haben vor dem Dienstag und will, vor allem, alles frei sprechen, Einführung, Moderation, alles; nur Zitate ablesen. Merkkleberchen und Merkkleberchen, vom Schwabe Verlag, gucken aus den Buchseiten oben heraus.

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