Ewigkeit ODER Sich verschwenden. Argo. Anderswelt (284).

„Du weißt, Sohn, wie lang die Ewigkeit ist?“
„Das ist, wenn es nicht aufhört.“
„Wieviele Jahre?“
„Eintausendzwanzigsechshundert Jahre. Einemillionfünfhundert-dreitausend Jahre. Als die Saurier noch lebten. Und nach vorn.“
„Und noch mehr. Stell dir vor, du hast einen Apfel und zehn Minuten, ihn zu essen. Wie viele Bisse nimmst du in diesen zehn Minuten?“
„Viele. Ich krieg den Apfel auf.“
„Dann hast du keinen mehr, nicht wahr?“
„Dann hab ich keinen mehr.“
„Das ist es, was ein Gott befürchtet. Daß er irgendwann nichts mehr hat. Und wie mit dem Apfel, so ist es auch mit Gefühlen, Genüssen, der Liebe, dem Geliebtwerden, unserem Vorrat daran. Wir dürfen, ja wir m ü s s e n verschwenden, wenn wir nur irgend, bevor wir sterben, berührt und erlebt haben wollen, was uns zugemessen ist. Die Götter nicht. Die dürfen nur winzige, noch winzigere Stückchen abbeißen von ihrem Apfel. Diese winzigen Stückchen sind so winzig, daß die Götter fast nichts mehr schmecken. Die Ewigkeit ist ja so lang. Verglichen mit ihr sind selbst hundert Äpfel wenig. Manche nehmen deshalb gar keine Bissen, aus reiner Angst, daß der Apfel irgendwann alle ist und sie dann nichts mehr von ihm haben. So daß er verdirbt. U n s e r e Zähne aber k r a c h e n ins Fruchtfleisch, ganze Brocken reißen wir heraus und kauen sie und schlucken, und wir sind voll von dem Saft. Weil wir das könnnen und dürfen, deshalb beneiden die Götter, die Ewigen, uns, und, sollte es nur EInen geben, beneidet uns Er in seiner erbarmungslosen Einsamkeit. Gegen ihn, mein Junge, sind wir reich: sofern wir verschwenden. Damit wir nicht eines Tages sagen müssen: das habe ich versäumt.“
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3 thoughts on “Ewigkeit ODER Sich verschwenden. Argo. Anderswelt (284).

  1. Eine schöne Geschichte. Wirklich.

    „Eine Schöne Geschichte – um mit Ricarda Junge zu sprechen (war sie es eigentlich, da vorne rechts von Ihnen aus gesehen)?

    Als ich Junge war, vor unendlichen vielen, hunderten von Jahren, ist zur Ewigkeit nachts am Strand gesagt worden:

    Irgendwo im Meer ruht ein riesiges Felsmassiv. Einmal im Jahr landet dort ein kleiner Vogel, wetzt kurz seinen Schnabel am Fels und fliegt weiter. Wenn der Felsen einmal abgewetzt sein wird, ist eine Sekunde der Ewigkeit vorbei.

    Und in einer Hochzeitsrede habe ich einmal gehört:

    Liebe ist das Einzige, was sich vermehrt, wenn man es verschwendet.

    Kurz und rund:

    Ralf Schnell hätte Ihnen diese Passage vermutlich als Rückfall in die gegenständliche, belehrende Erzählform so um die Ohren gehauen, wie die Vater-Sohn-Geschichte im Museum. Aber ich finde, diese ist eine schöne Geschichte.

    Beste Grüße
    NO

    1. @Dr. No zur Ewigkeit. Ich beneide Sie ein bißchen und freue mich zugleich für Sie, daß derartiges in Ihrer Kindheit ein Thema gewesen. Heute ich versuche ich, mir in Gegenwart meines Jungen zu erfüllen, was früher nur deshalb nicht ersehnt war, weil es außerhalb jeder Möglichkeiten meiner Eltern lag, außerhalb der Vaters, weil es den de facto nicht für mich gab, außerhalb meiner Mutter, weil sie protestantisch auf nichts als Arbeit fokussiert war, nicht eine um der Selbsterfüllung willen, sondern allein, um ihre und ihrer beider Kinder Existenz zu sichern.

      Was die Szene selbst anbelangt, so ist sie eben eine derjenigen Partien, die den Roman mitdurchziehen; man steht auch hier noch an der Nebelkammer und wird dort stehenbleiben, Sohn, dessen Freund und der Vater, bis auch da die Anderswelt hineinbricht. Bis dahin setzt sich das Gespräch fort. Doch die dreie können sich retten, das ist versprochen.

      (Ja, das war Ricarda Junge. Mit ihren beiden Brüdern.)

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