Wie ein Wunder zu seinem Namen kam. Argo. Anderswelt. (285). Für Jannis Ritsos.

„Das Alte Europa stirbt“, sagte Maßmann, „es stirbt als Kulturraum, und seine Menschen sterben mit. Wahrscheinlich wird Allegheny aufsteigen oder die Church of latter-days saints oder beide, kann aber sein, daß der Islam die Übermacht stellt. W i r tun’s ganz sicher n i c h t mehr.“
Die Verbindung mit den anderen Kontinenten war nun restlos zusammengebrochen, es starteten keine Flugzeuge mehr, und Schiffe stachen sowieso nicht in See; selbst der Container- und Energietransport mit den Inseln, die Hodna von Zweitmond luden, war eingestellt. In Berlin wuchs der Lichtdom, aus Europa nahm er Gemeinde für Gemeinde hinweg: Er machte, wie verabredet, wieder der Natur und machte Skamanders Monstrositäten Platz zog sich in den Fingernagel der Kybernetik zusammen – für Holomorfe die einzige Möglichkeit zu überleben.
Sie sprachen darüber, und Maßmann riet Kumani: „Sieh zu, daß du rechtzeitig in eine Arkologie kommst, die der Lichtdom erfaßt. Dann hast du noch einige Jahre zu leben.“
Kumani schüttelte den Kopf. „Ich bleibe bei meiner Frau.“
„Dann wirst du sterben.“
„Er hat recht, Kumani“, sagte Deidameia.
„Ich wußte, was mich erwartet.“
„Vielleicht würden“, so Maßmann mit Blick auf Deidameia, „ein paar Widerständler im Lichtdom-selbst ganz gut gebraucht.“ Und zu Kumani: „Es ist d e i n e Welt.“
Deiameia hätte dem Freund den Einsatz befehlen können. Aber sie wußte, er würde sich auflehnen; das wäre ein dummer Kampf gewesen. Außerdem spürte sie Jannis so in sich und fragte zur Überraschung der beiden anderen: „Wie soll der Junge heißen?“
Wieder reagierte Maßmann schnell. „Kennst du Jannis Ritsos?“ Also kam das Wunder zu seinem Namen. Daß später des erwachsenen Jannis’ Züge denen des griechischen Dichters ein wenig glichen, ist aber Zufall.
Noch am Vormittag gab die Wölfin Order und schwor die Ziele der Myrmidonen um. Und weil sie ihr zweites Kind gern im Osten ausgetragen hätte, doch die Pflicht hielt sie hier, dachte sie besorgt an Thisea, die dahingeschickt worden war, ohne daß bislang irgend eine Nachricht zurückgekommen wäre. Und sie dachte an Veshya. Auch die war in den Osten fort, ebenfalls eines Kindes wegen. Der schien ganz verstummt zu sein.
Sie hatte aber keine Zeit für Nervositäten.
Argo, TS 829/830.

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5 thoughts on “Wie ein Wunder zu seinem Namen kam. Argo. Anderswelt. (285). Für Jannis Ritsos.

  1. Ein ergreifender erster Satz!

    Pessimistisch, fatalistisch.

    Ein Satz aus dem Westen. James Coburn im Film über New Mexico und den alten Freund Kris Kristoffersen, nun Bandit und Gegner: „Dieses Land wird alt – und ich mit ihm. Aber Billy will das nicht.“ Und Billy wird erschossen.

    „Das alte Europa stirbt.“ Sie nehmen die Zukunft vorweg? Man bekommt heute schon, soll ich sagen: Angst?, einen Begriff davon, dass der Westen – unter der pax americana – untergehen mag, wenn man sieht, was Beduinen am Golf, Araber in Dubai, aus dem Wüstenboden entwickeln. Oder wenn ich von meinem Bruder über China, und insbesondere Shanghai, höre, die Autos, die Straßen, die Infrastruktur. Und keine Demokratie, kein Humanismus, kein Christentum, keine Wahlen, keine Freiheit.

    Dass wir hier so wegsterben, mag man angesichts der von Ihnen geschriebenen Zunahme männlicher Europabewohner in Argo gar nicht glauben: Es wird voll mit Männern in der Trilogie, erst Dreh- und Haus-, nun Maßmann.

    Aber was sind „Skamanders Monstrositäten“? Der Name ist so eine Mischung aus Salamander und „Skaramanga“, „Der Mann mit dem goldenen Colt“!

    Beste Grüße
    NO

    1. “Und…”@Dr.No “…keine Demokratie, kein Humanismus, kein Christentum, keine Wahlen, keine Freiheit.” Sondern Programme. Konsens und Replikanten – solche, die das “freiwillig” werden. Man kann es an vermeintlichen Kleinigkeiten erkennen – wie biegsam sich Menschen ihre Lebensform unterdessen vorschreiben lassen, sie unter ein vermeintliches Gebot der Cleanness und Geschmeidigkeit stellen.
      Ich nehme die Zukunft vorweg, aber doch – in einem Roman. Nicht anders, als es schon in Thetis geschehen. Eine nächste Zukunft jetzt. Auf die wird eine wiedernächste folgen, ob “unsere”, bleibe dahingestellt. Aber Sie haben recht, ich tendiere zur Zeit zum Pessimismus. Das ist etwas Neues für mich – und schon guck ich es wieder mit einer Art Optimismus an. (Aber auch >>>> das da, bei TT, gibt mir zu denken und fördert meinen Optimismus nicht; im Gegenteil, es tut mir weh.)
      In der Tat, wir geben europäische (abendländische) Werte auf und ersetzen sie durch solche der “production“, – mehr: Es ist schon geschehen.

      Dennoch: Die Argonauten fahren ja aus. Hier, nur für Sie, ich verlinke das in die Argo-Auszüge nicht, das Ende der drittletzten Kapitels, kurz bevor die eigentliche Coda, eine letzte, einsetzt:

      Es blies ein scharfer, säuriger Wind über Thetis, die überhaupt nicht wühlte, sondern ungewöhnlich still und ewig hingebreitet lag. Fast liebenswürdig sah das aus. Denn es war stolz, dieses Meer, war zu stolz, um jetzt, wo es wußte, daß es siegte, noch weiteres Aufhebens darum zu machen. Vielleicht ließ es die Argonauten alleine des­wegen gehen; es wäre ihm leicht gewesen, die Gefährten mit einem einzigen Wasser­arm, der sie ertränkend in sich aufnimmt, in die Wasserbrust zu drücken. Nein, es war nicht rachsüchtig. Sollten die Fünfzig ihr Abenteuer wagen – ungewiß genug, wie das endet und wo.

      Ist das pessimistisch? Skeptisch ist es.

      Zu Jens Maßmann. Das ist ein Freund von mir aus späten Jugendtagen. Ich lasse ihn hier mit seinem Klarnamen wiederauferstehen – k e i n Holomorfer, sondern ein Mensch aus Fleisch und Blut. Und ein guter.

      Zu Skamander. Ein Sohn von Thetis (>>>> Tethys) und Okeanos. Siehe erst einmal (wie in Anderswelt oft) >>>> Homer.

      [P.S.:
      Es ist kein erster Satz, sondern er gehört zu den letzten – gemessen an diesem Riesending.]

    2. Es ist eine schöne Passage. Stimmungsvoll, mit einem großartigen Rhythmus.
      Ich finde sie nicht pessimistisch, nicht einmal skeptisch. Sie ist hoffnungsfroh, zukunftsgerichtet. Die Argonauten überleben und haben es in der Hand. Sie fahren aus. Bewegung der Zukunft entgegen. Diese Passage ist sanft.

      Muss es nicht übrigens heißen: „…, a n die Wasserbrust zu drücken…“ (nicht: in)?

    3. Es ist@Dr. No – W a s s e r. Deshalb “in”. Darin schwingt etwas anderes mit, als ein “a n die Brust” ausdrücken kann.

      (Ich wähle solche leichten idiomatischen Verschiebungen bisweilen gerne, und immer mit Grund. Es ist eben n i c h t Manier, sondern immer rückgebunden.)

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