Aus der Zukunft in unsere Vergangenheit zurück: Bericht von einem Interview . Damit nämlich fängt es an, das Arbeitsjournal des Mittwochs, dem 26. September 2012. Daß ich wirklich kein moderner Mensch bin, aber einer von morgen: vielleicht.

4.50 Uhr:
[Arbeitswohnung. >>>> Claus Bantzer, Jazzkantate „Tu deinen Mund auf für die Stimmen“.]
Wunderbarer Saxophonton Christoph Lauers! Es lohnt sich, immer mal wieder durch die eigenen Aufnahmen zu stöbern, die man in den letzten zwei Jahrzehnten teils aus dem Radio, teils auch live mitgeschnitten hat. Manches erhebt sich wieder, das andernfalls für immer begraben wäre, wenigstens bedeckt von Treibsand, dicken Schichten Zeitstaubs. „Tu deinen Mund auf für die Mutter“, so beginnt das. „Tu deinen Mund auf für die Stunmmen.“ Eine Art Kaddisch also mit weiten Sax-Kantilenen und einem, bislang, als Continuo-Instrument behandelten Klavier; es stimmt eben aber auch, mit einem repetitiven Rhythmus, den Chor an. Moment mal, ich google eben, aus welchem Jahr das Stück stammt.

1993. Das ungefähr dachte ich mir. Ich besaß damals noch ein Radiogerät für eine Satelliten-Technologie, die Tonaufnahmen in höherer Qualität erlaubte, als man sie über CDs bekommen konnte. Das letzte Aufbäumen einer Zeit, die um jedes Hertz mehr in der Aufnahme rang; nicht wenig später hörte es auf mit dem High-End-Hype, vielleicht, weil gute Anlagen sogar Konzerthäusern den Rang abklingen konnten. Die High-End-Radiotechnologie wurde eingestellt, mein extrem teures Gerät so sinnlos wie ein Toaster, den man als Empfänger für ausgehorchteste Kammermusik benutzen will. Geht wahrscheinlich sogar, klingt aber nicht.
Latte macchiato, erste Morgenpfeife.
Das Ende dieser akustischen Hochtechnologie war so eine Volte der Industrie, mit der viele weitere Volten gegen die Qualität zugunsten des Massengeschmacks, das ist a u c h ein restringierter Code, also zugunsten der Industrie, begonnen wurde.
Auch darüber sprachen wir gestern abend in Skype, die junge kluge Stephanie Hautz von >>>> Newthinking.de, für >>>> StoryDrive, und ich, auch für >>>> StoryDrive. War ein lustiges Interview, vor allem seine Vorbereitung. Ich sollte hinter mich ein weißes Tuch spannen. Hab aber keines. Deshalb nahm ich die helle Flauschseite meiner Tiefschlafs- und Schmeicheldecke, die freilich recht schwer ist und, als ich sie zwischen das Lexikonregal und die eigens hergeholte hohe Leiter, die gegen den langen Gerätebock und die Jalousien gelehnt werden mußte, befestigt hatte… – „zu schwer“ heißt, daß ziemlich schnell – ein unbedachtes Rücken meines englischen, eichenen, jaja, Schreibtischstuhles genügte – hinter mir die Sache, wenn Sie das Konstrukt so nennen wollen, zusammenbrach – nur war nicht eigentlich das das Problem, sondern, was es so alles mit sich riß: zum Wiedereinordnen aufgestapelte CDs und Toncassetten, eine Tabaksdose, Kleinkram, sowie vom Regel die schwere illustrierte Hausbibel von 1900 und mit ihr die Thora, was ich schon mal bezeichnend fand; und beide nahmen, da sowieso im Stürzen, auch Kabbala und Edda mit. Nur das I Ging blieb stehen, vielleicht, weil ich so gut wie nie drin lese. Die mosaischen Bücher hielten immerhin, streng solidarisch, zusammen, der Bibel allerdings, weil brüchig am Stoß, den ich vielleicht mal hätte etwas befeuchten sollen, entflatterte manches Was als Einzelseite.
Na gut, alles wieder aufbauen, dann eine Zusatzlampe herholen und die beiden Webcams ausprobieren, die alte von vor, glaub ich, fünfzehn Jahren, die andere, die in meinen Laptop eingebaut ist, durch die man aber wie ein Fisch schaut und so auch aussieht. „Wie Tiger“ hätt ich akzeptiert, gern auch „wie ein Otter“ – aber Fisch? Ich versichere sie, mit solch einem nicht die geringste Ähnlichkeit zu haben. Fast so wenig wie mit einem Schaf. Auch nach Reh, bzw. Hirsch sehe ich nicht eigentlich aus. So daß ich diese Einbaucam höchst widerstrebend, wenn es denn unbedingt aber sein muß, verwende, sicher aber nicht für eine Aufnahme, die geschnitten und dann auf der entsprechenden Joint-Venture-Site der Buchmesse Frankfurt mit http://Newthinking.de öffentlich zu sehen sein wird. Glauben Sie mir, Eitelkeit kann einen vor einigem Mißgeschick bewahren. Also guckte ich auch nicht direkt in die Cam, was ich sowieso immer unangemessen suggestiv finde, zum Beispiel bei Profilfotos, sondern sprach seitlich in den Raum.
Paarmal motzte die Verbindung. Ich wiederhole mich auch im nicht-videografischen Leben ungern, geschweige denn während eines Intervies. Mußte aber sein. Für meinen psychischen Haushalt ließ ich auch die junge Dame Fragen wiederholen. Als Statement aus der Zukunft hatte ich tags eine kleine Provokation formuliert, in die Vergangenheit, in der wir beide, o meine Leserin und ich, heute leben, rapportiert von einem Generalmajor des Propagandistischen Heeres der Bundesrepublik Deutschland, der soeben zehn Jahre nach uns lebt. Das schien ihr, der Frau Hautz, ein ungewöhnlicher Ansatz zu sein. Man merkte, wie wir beide neugierig wurden. Für die folgenden Fragen war ich vorbereitet, aber extemporierte, mochte nicht mehr ablesen. So wurde es ein fast halbstündiges Gespräch, bisweilen sogar ernst, bei dem ich gespannt bin, was Newthinking jetzt daraus zurechtschneiden wird. Wenn der Schnitt fertig ist und wenn auch die schriftlichen Statements redigiert sind, bekomme ich alles vorgelegt, um mein InOrdnung zu geben oder noch mal umschreiben zu lassen. „Das ist journalistisch aber sauber“, kommentierte ich. „Das“, sagte sie, „halte ich für selbstverständlich.“ Nun, diese Selbsverständlichkeit ist, wie manch anderer Stil, selten geworden. Auch das gehört in dieses spezielle Medien-New-Age, für das mir grad das andere, das aus den Achtzigern, einfällt, Zeitalter der Wassermanns und so, das mit den Hippies anfing (denken Sie an die Arie in „Hair“), und wie man das vielleicht auf die sich permanent weiterbeschleunigende mediale Evolution spiegeln könne. Wäre einen Aufsatz wert.
Klar, sowie alles auf den entsprechenden Sites steht, bekommen Sie von mir die Links. Ich werd‘s auch „stehend“ annoncieren, hier rechts unter „Ereignisse“.
Gegen Viertel nach zehn waren wir durch; fast hätt ich die junge Dame auf einen Cocktail eingeladen, in der >>>> Bar, klar, um da mein irres Honorar von vor fünf Jahren weiterzuversaufen. In Gegenwart attraktiver junger Damen, die auch noch Bildung haben, saufe ich freilich nicht, da nippe ich vielleicht mal, vom Glas, verstehen Sie mich bitte asuf jeden Fall falsch, und bin auch sonst kultiviert. Aber ich unterließ es. Nein, nicht: kultiviert zu sein. Sondern, ein solches, wie man heute sagt, „date“ zu initiierten.
Oh je, Herr Bantzer, was ein schlechter Text. Musik gut, Text schlecht. Mist. Kirchenmusiker sollten auf keinen Fall dichten, denn ihnen fehlt, was dafür not tut: Unmoral. Der Text stammt von Hölderlin, woraus wir lernen können, daß sogar gute Texte schlecht werden können, wenn man sie aus dem Zusammenhang reißt und dann auch noch so spricht, wie ein kaum als hochgewachsen zu bezeichnender Schaupieler es tut, dessen Namen ich besser nicht nenne. Er ist geschlagen genug. Dennoch, Leute, darf man nicht outrieren, auch wenn für einen ein Recht auf Nachsicht gilt, schon gar nicht Hölderlin. Ihr begreift es einfach nicht.
Aber dann, aua: „Es gibt Gedanken, die haben Augen und Brüste“, also das ist nun nicht mehr Hölderlin, „die haben ein Geschlecht zum Küssen und Spielen“. Nee, wirklich, Herr Bantzer, e c h t nicht: haben Sie mal versucht, einen hungrigen Säugling an Gedanken zu stillen. Auf so was kann wirklich >>>> nur ein Mann kommen. Außerdem ist die Jazzkantate jetzt sowieso zuende. Letztendlich hat sie Glück gehabt. Ich bereite mir mal den zweiten Latte macchiato. Die Löwin ist heute um 6.30 Uhr zu wecken. Für Wien ist das ziemlich allerhand, zumal für eine Wieneri n. Ich mach mich schon mal aufs Granteln gefaßt:

[Jacobo Peri, Euridice.
Als käme man nachhause wieder.]
6.33 Uhr:
Hat nicht gegrantelt. Wird von Kunsthochschülern erwartet, deren mindestens Hälfte, so die Leiterin, angebunden werden müsse, damit es stillsitzt, und ein weiteres Fünftel müsse, damit es ruhig sei, geknebelt werden. Das sind zumindest keine ergebigen Voraussetzungen, um zu diskutieren. Findet die Löwin.
Zweiter Latte macchiato. Daß ich wohl wirklich kein moderner Mensch bin, segelte auf mich hinunter, diese Erkenntnis, als ich an der Pavoni stand und dem Peri lauschte: wie heimzukommen in der Musik. Selbst der Jazz, eigentlich, ist mir, so sehr er mich interessiert, immer ein wenig fremd geblieben, um von Rock, der mich ebenfalls interessiert, zu schweigen. Gänzlich unbewegt bin ich bekanntlich von Pop. Ein bißchen Folk mal, nun gut, ein bißchen, ist aber Schnee von gestern, Liedermacherei. Wirklich berührt werde ich fast nur von Renaissance, Barock, einiger Spätromantik, der Neuen Moderne der Zwanziger, dann erst wieder, und das aber intensiv und ebenso nicht nur im Geist, von mancher Neuen Musik: Dallapiccola, Maderna, Stockhausen, Lachenmann usw. Da entwickle ich, wie bei der Alten Musik, Gefühle der Zugehörigkeit. Also bin ich nicht modern. Das ist schon bizarr, wenn einer so von morgen ist, das wiederum eine Form der Gestrigkeit geworden zu sein scheint. Modern ist allenthalben der Regreß, sofern er nicht bis ins Strenge zurückreicht. Auch er, der Regreß, soll bequem sein. Fremd bin ich meiner Zeit. Ungleichzeitig bin ich. Und habe nun auch keine Familie mehr. Einen Sohn, innig, ja, intensiv, aber nicht mehr Familie. Erstmals seit Jahren der Gedanke, Weihnachten, mit dem sich absurderweise bereits die Supermärkte füllen, nicht hierzubleiben, sondern wegzufahren und ohne alledie zu sein, die mein Leben, soweit es nicht meine Arbeit ist, bestimmt haben. Den Jungen nähme ich gerne mit, sollte das aber nicht tun, ihm nicht mal vorschlagen. Denn er behält ja seine Familie und soll sie behalten. Er muß nur, wie endlich ich selbst, Trennung realisieren.
Daß ich wirklich nicht modern bin. Daß ich ein Zeitgenosse aus einer Zeit bin, die zugleich verging und noch nicht ist und vielleicht niemals werden wird. Damit geh ich jetzt wieder an Argo, und gegen neun Uhr werde ich den heutigen >>>> Giacomo Joyce übersetzen: einen einzigen Satz diesmal, aber es ist genau der, dessentwegen ich dieses Buch seit meinem 17. Lebensjahr nicht vergessen habe. Ich trug ihn immer mit mir herum, teils mit Eigenem vermischt, gebeugt, verändert, doch war es immer er: Her words in my mind: cold polished stones sinking in a quagmire. – Nein, nicht „in“, sondern „through“. Aber bis auf d a s weiß ich ihn auswendig. Immer noch. Nach vierzig Jahren.

Arbeiten, ANH, arbeiten jetzt. Und weiter diese Musik hören. Hören wie atmen.

10.40 Uhr:
[Händel, Xerxes.]
… und dann merke ich, daß ich mich ganz f a l s c h erinnert habe, über all die Jahre! Nicht „Her words in my mind“, sondern genau anders herum: „My words in her m i n d“! Darüber muß ich nachdenken. Ich drehte >>>> Joycens – wohl aus Verklemmung – despektierliche Ablehnung kurzerhand herum, und das Moor – oder der, >>>> wie Klaus Reichert übersetzt, Sumpf – ist nicht der Kopf dieser jungen Dame, sondern unser eigener, bzw. war es meiner. Das bedarf in der Tat einer Interpretation. Auch hatte ich immer eine Neigung, mich nicht an das Gerundium zu erinnern, sondern mein Innres machte ein Partizip daraus: „sunk in a quagmire“.

Argo ist bei TS 466, in der Dritten Fassung 486, angekommen. So hab ich denn, anstatt zu kürzen, während der handschriftlichen Überarbeitung noch zwanzig Seiten hinzugeschrieben, anstelle das Monstrum zu kürzen. Hm. – Weitermachen. (Nein, auch wenn ich mich danach sehne, unterbreche ich die Argo-Arbeit auch nicht für mein Cello. So gut es mir täte. Geht nicht, geht nicht. Ich muß mich weiterpeitschen, damit ich das Ding endlich endlich fertigstelle. Was ich ja mindestens ebenso will wie in der Musik aufzugehen.)

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