Es tut den Menschen aber gut: Der Schnee am Kilimandjaro im, weil es immer noch lottert und das auch darf, zögernden Arbeitsjournal des Innitalien-Sonntags, dem 15. Juli 2012. Mit einer kleinen triskelischen Reflektion und ihrem Satz „Ich will“. Sowie: Der Pflichtschenk am Abend.

8.34 Uhr:
[Casa di Schulze, Amelia, vorderer Küchentisch.]
Es gibt hier im Ort, der kein Kino mehr hat, einen kleinen Filmclub, getragen von vierfünf Personen (früher hätte man „Honoratioren“ gesagt, allerdings besonders von einem noch jungen Mann vorangetrieben), und dieser Club, zu dem auch mein Übersetzerfreund gehört, zeigt einmal pro Woche entweder in der Pizzeria einen Film, die ohnedies eine Kernstelle intellektueller Kommunikation ist, oder aber im offenen Kreuzgang des kleinen Klosters, das heute ein städtisches Miniaturmuseum beherbergt. Dort auch, sonnabends, findet vormittags ein ökologischer Kleinmarkt statt, gestern mittags

mit Umtrunk und Häppchen, und im Sommer, jetzt, gibt es ein kleines Filmfestival. Die Filme werden meist in italienischer Synchronisation vorgeführt, sofern sie englischsprachig sind, auch in der Originalsprache mit, selbstverständlich, italienischen Untertiteln. Der Club hat sogar eine 900 Euro teure transportable Leinwand gekauft, die

sich nach und nach aus den Mitgliedsbeiträgen und den Eintrittsgeldern (rührende 5 und 4 Euro) finanzieren soll, wiewohl das Programm selbst an die vergangenen linksdeutschen Zeiten der Programmkinos erinnert, sogar Jürgen Vogels >>>> Die Welle („La Onda“) ist dieses Jahr dabei. Der Filmclub, mehr ein Zirkel wohl, setzt entschieden auf Qualität und auf – ja, Engagement.

Gestern abend nun wurde Robert Guédiguians >>>> Les neiges du Kilimandjaro gezeigt. Der Freund nahm mich mit hinunter. Da es ein französischer Film ist und sich Italiener allgemein mit anderen Sprachen eher schwertun, lief er rein auf Italienisch, was für mich wiederum bedeutete, innere Assoziationsleistungen zu vollbringen. Und es funktionierte; ich bekam tatsächlich vieles mit, die Grundgeschichte sowieso, die eine nach wie vor, auch wenn wir‘s beinah vergessen haben, drängende Frage stellt, nämlich die nach dem Verhältnis von Recht und Moral, Gerechtigkeit und Verstehen, sowie, darunter laufend, von Kriminalität und Ursache. Es wird laufend nach den Gründen gefragt, und zwar auch dann, wenn die Fragenden selbst geschädigt wurden.
Das ist mit einer tiefen Menschlichkeit inszeniert, nahezu alle handelnden Figuren sind bei Guédiguian nicht solche, sondern Personen, was sicherlich auch daran liegt, daß dieser Regisseur immer wieder, wie Faßbinder, Cassavetes und viele andere taten, mit denselben Schauspieler:innen arbeitet. Dabei erfüllt ihn eine utopische Sentimentalität, von der man meinen könnte, sie grenze an den Kitsch – etwas, demgegebenüber ich an sich scheue; und dem Freund ging es auch so: „Wenn solch ein Sozialdrama so mit Happy-end ausgeht“, sagte er, als wir die alten, von dem gelben Licht der an den Hauswänden angebrachten Laternen viertelserfüllten Gassen hinanstiegen, „dann sperre ich mich, weil das doch irgendwie verlogen ist.“ Da ging mir unversehens ein Satz über die Lippen, den ich so noch niemals ausgesprochen habe und auch nie hätte aussprechen wollen, jetzt aber sprach e r sich: „Aber es tut den Menschen gut.“
Darüber dachte ich nach, als ich vorhin früh mit meinem ersten Latte macchiato wieder in der braunrot-hölzernen Eingangstür auf den drei Stufen zum Cortile saß, meine Mrogenpfeife rauchend, daß es an diesem Sentimentalen etwas gibt, das wir Menschen brauchen, ganz egal, ob es der Realität entspricht. Ja, eine andere Realität könne nur werden, dachte ich, wenn wir diese Art Hoffnung nicht verlören. Sei es denn nicht genau das, was die Kirchen, noch immer und gegen jeden Geist, so mächtig mache? Ist es denn nicht so, daß uns der graue Realismus, seine geradezu fetischisierte Negativität der Verhältnisse imgrunde – schwächt, weil sie der realen Aussichslosigkeit noch die permanente Wiederholung einer imaginären hinzufügt? So daß, aber das sah bereits Ernst Bloch, sogar in manchem Kitsch mehr utopische Kraft steckt als in irgend einem Schauspiel Samuel Becketts. Was also ist vorzuziehen?
Ich denke noch immer darüber nach. Denn es hat Implikationen auch und gerade für die Ästhetik, also die Künste, für also auch meine eigene Arbeit. Um die ich mich langsam wieder kümmern muß.

Mehr, vielleicht, nachher noch. Weil ich im Moment zudem von meinem Schwanz getrieben bin; so gehen Nachrichten hin und her, die an stiller Raserei ihresgleichen suchten, wenn sie sich zugeben würden und nicht nur in die Tasten tippten, noch freilich, wie zu konzedieren. Doch weiß ich entschieden, wer ich sexuell b i n:

Wobei ich, seit ich dieses Zeichen trage, immer wieder eine spannende Erfahrung mit ihm mache. Wer es nicht kennt, fragt, und ich kann dann, ohne am Hosenstall auch nur herumzufingern, frei und kulturvoll erzählen: Sizilien, die Isle of man, die Matriarchate, die drei Lebensalter… einen ganzen Abend könnte ich damit füllen. Wer es aber kennt, weiß sofort genau. Das gibt mir sehr viel Freiheit. Nur einmal kam es zu einem Mißverständnis, das mir noch lange nachging: „Ist das so ‘ne Art Hakenkreuz?“ fragte ausgerechnet >>>> Daniel Böhmer, der aus einer jüdischen Familie stammt. Da hätt ich ihn beiseitenehmen und ihm erklären müssen. Tat ich nicht, weil‘s eine Art Schock war. Tatsächlich wird die Triskele auch von rechten Gruppen verwendet, was mehr als ärgerlich ist – aber nicht auch noch dieses Symbol will ich ihnen kampflos überlassen, nachdem die Hitlers bereits eines der tiefsten Symbole Indiens für wahrscheinlich immer geschändet haben. So viel einmal wieder – meine Arbeit beginnt – zur Ambivalenz. Zu meiner erotischen Dominanz will ich getrennt detaillierter schreiben, denn mein positives, das heißt aktiv wollendes Einverständnis mit ihr scheint mir unterdessen die Grundlage für den Melusine-Walser-Roman zu sein, seit ich ihn ganz anders konzipiere, als ursprünglich gedacht war. Die Löwin hatte derart recht, als sie leise krittelnd bemerkte, ich sei nicht >>>> Aléa Torik.
Jedenfalls, meiner cybertechnisch so losgelassenen inneren erotischen Rage halber, grummelte gestern nacht der Freund, als wir noch die kleine Feier hinter der Piazza besuchten und ich heimwollte, weil sie mir zu intim war – es beging eine ihm bekannte Frau ihren Geburtstag -, grummelte also, indem er dortblieb: „Du sitzt ja dann doch nur hinter dem Computer und tippst“. Momentlang Aufschuß eines schlechten Gewissens. Aber bin halt getrieben und aber begeistert von dieser Raserei— daß sie mich immer noch erreicht und beseelt. Ich nenne diesen Zustand deshalb

Vor dem Gedicht

Wenn ich das fortan über ein Journal setzen sollte, dann wissen Sie bescheid. So daß ich, wie bei dem Ring, gar nichts mehr erzählen muß.

Guten Morgen, erst einmal.

18.03 Uhr:
[Percy Grainger, Arrival Platform Humlet.]


Una tradiziona amerina.
(Und das zu Grainger!, ha!)


2 thoughts on “Es tut den Menschen aber gut: Der Schnee am Kilimandjaro im, weil es immer noch lottert und das auch darf, zögernden Arbeitsjournal des Innitalien-Sonntags, dem 15. Juli 2012. Mit einer kleinen triskelischen Reflektion und ihrem Satz „Ich will“. Sowie: Der Pflichtschenk am Abend.

  1. Das Prinzip Hoffnung oder “Aber es tut, … … den Menschen gut.” ist wirklich ein Problem, lieber ANH. Ich hatte im Gegensatz dazu immer das “Die Wahrheit ist den Menschen zumutbar.” wie ein Schild vor mir her getragen. Dann war ich mal in Rocca die Papa, um die Luise Rinser zu interviewen. Und Luise Rinser hatte sich auf dieses Interview oder besser auf mich vorbereitet, indem sie meinen Roman “Kinder der Bosheit” gelesen hatte. Sie erzählte mir das, nachdem wir mit dem Interview fertig waren. Und dann sagte sie: “Ich verstehe Sie und weiß genau, was Sie meinen. Aber meine Bitte wäre: Geben Sie doch den Menschen eine Chance.” Dieser Satz hat mich damals sehr erschüttert. Denn sie hatte völlig recht.

    Schön, dass Sie immer noch lottern dürfen. Es grüßt aus seinem Brasilienbuch PHG

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