2 thoughts on “Sechzehn.

  1. Theodor W. Adorno, Der Geist als Trauer und Schönheit.

    Es waren entscheidende Jahre, die meine Lektüren neu beeinflußten. 1972, mit siebzehn war ich aus Braunschweig fort, flucht- wie strafeshalber; ich nahm vor allem Gustav Mahler mit, der mich >>>> auf Nietzsche gebracht hatte; wegen dessen, für den er insofern etwas kann, als seine bisweiligen Gewalt-, jedenfalls Kraftverherrlichungen ihn möglich machten, wenn nicht verführten, Einfluß auf Nazi-Deutschland mir eine völlige Begeisterung niemals gestattet war, aber ich suchte nach Idolen, –
    die meiner Generation waren mir verschlossen, die Marcuses und Hendrix‘, die Beatles sowieso, die Kerouacs und auch Marxe, all das fand außerhalb von mir statt, irgendwo in der Zeitung und im Fernseher, wirklich prägen taten mich die politischen Läufte erst, als Meinhoff und Baader erschienen, weil die RAF in meiner Wahrnehmung eine direkte Verbindung zu >>>> Dostojewski s Dämonen hatte, ja, ich empfand sie als Widergänger und das durchaus, im Gefühl, dem Sinn des Deutschen Aberglaubens nach – Grimms dreibandfette Zusammentragung wurde später ein Standard-Nachschlagewerk für den >>>> Wolpertinger -;

    – er aber, Mahler, wurde nun eines, Idol; aber das k l a n g nur, war nicht Schrift, die sich in ihrer Nietzsche-Erscheinung in mir nicht auflösen durfte, und mein Idol davor, Tschaikowski, war dem jetzt auch körperlich, wenngleich noch vergeblich fiebernden Jungen, der schon Mann sein wollte, der Homoerotik halber tabu. Aber Mahler führte mich zu Adorno, den ich in dem Jahr bei meinem Vater, in Bramstedt/Syke, auf dem Land las – frappiert von dieser Sprache. Die nicht einmal oberflächlich als Biografie daherkommende Schrift ist bereits als Philosophie der Musik Philosophie. Zwar hatte ich vorher in Philosophen gestöbert, das hatte auf der Linie nach >>>> Freud gelegen, notwendigerweise, und nach Alfred Adler, den ich damals verschlang; ich hatte in meinem Braunschweiger Antiquariat >>>> Waldemar Meuer gefunden, hatte es mit Ludwig Klages versucht, auch mit >>>> Hermann Graf Keyserling, dessen Idee, das Leben als ein Schauspiel anzusehen möglicherweise in meinem Projekt, >>>> das Leben als Roman zu betrachten, noch immer einen Reflex hat; ich hatte es sogar mit Max Scheler versucht. Aber das waren alles WerBinIch?-Versuche gewesen, hatte alles dafür dienen sollen, mir eine Haltung zu geben, die nicht nur äußerlich und/oder behauptet war, sondern mich wirklich durchgebildet hätte, wenn ich dann frei ins Leben ging. Und abgesehen davon, daß ich viele Texte einfach nicht verstand, ergriff mich nirgends ein Schriftstil wie Freuds. Ich erwartete aber vom richtigen Gedanken eine schöne Form, ja durch sie auch Ergreifung.
    Die geschah mir vom ersten Text Adornos an, nämlich in seinem Mahlerbuch. Solche Sätze etwa elektrisierten mich:Musik als Kunst wird schuldig an ihrer Wahrheit; nicht weniger jedoch, wenn sie, wider Kunst sich verfehlend, ihren eigenen Begriff negiert.

    Bei Adorno erfuhr ich erstmals vom Unternehmen der Moderne, die eigene Genese zum Teil der Kunstwerks zu machen, damit auch Geschichte in ihm aufgehoben sei. Und auch so etwas lag auf meine Linie:Mahler möchte die schlechte Alternative wegräumen, indem er dem Kitsch raubt, was die hohe Musik versagt, und ihn vom Schwindel kuriert durch den Zug der hohen Musik, dem allein Erfüllung wahrhaft zuteil wird.

    Und viele Seiten später:Bei aller kritischen Wachsamkeit gegen Leerlauf und Formelkram wie den der Brucknerschen Sequenzen scheut Mahler nicht – wie Beethoven – vor überzähligen Takten zurück, vor Augenblicken, in denen, nach dem Maß musikalischer Aktion, nichts geschieht, sondern

    und jetzt kommt es: wodie Musik Zustand wird..

    Das Kunstwerk werde Zustand. Das schloß zu >>>> Huxleys Forderungen auf, dieses und die Entstehung des Kunstwerks als Teil des Kunstwerks selbst. Bis heute sind das für mich die entscheidenden ästhetischen Forderungen geblieben, im Widerspruch zu Nietzsches antiwagnerischer Bejublung der Divertimenti, die man heutzutage Entertainment nennte und im Deutschen Unterhaltung.
    Das nahm ich nach Bremen mit, als ich meine Mittlere Reife hatte und die Lehre antrat, 1973. Endlich war die als nicht nur einengend, sondern vor allem quälerisch empfundene Gymnasialzeit vorüber, gemildert nur von jenem Hermann Quast, geheilt fast ein bißchen, dem Direktor der Realschule dort, auf die ich ging, und der einen Blick für das hatte, was ich versuchte. Er holte mich als jüngsten Referenten in das erste – ein frühere Creative Writing – Seminar, damit ich es leitete. Bein einem zweiten, ich vergesse das nie, gab es Aufregung; ich wurde ein, selbst erst kaum achtzehnn, Jugendverderber genannt. Worauf ich aber stolz war.
    Dann hatte ich mein eigenes Bleiben und war dennoch, von der im selben Haus lebenden Großmutter, betreut. Es hatte Lieben gegeben, die ins Körperliche gegangen waren, vorsichtig, zurückschreckend beiderseitig immer, aber doch schon die volle Brust in einer Hand. Aus einer meiner solchen Lieben ist heute eine Malerin geworden, >>>> Sabine Wewer, was sie schon damals werden wollte; wir haben uns seither, 1974/75, nicht wiedergesehen, aber sie schickt mir nach wie vor Einladungen zu Vernissages und Matinées. Vielleicht mach ich mich mal irgendwann auf. Auch meine Omi liebte sie sehr.
    Und ich hatte ein ungeheures Glück mit dem Lehrplatz, den ich mir selbst gesucht. Glück zum einen, weil ich akzeptiert wurde, ohne daß jemand mich lächerlich fand; Glück auch, weil einer meiner Lehrherrn, Rechtsanwalt Robert, vor seiner juristischen Laufbahn Opernsänger gewesen war und mir nun, ich hatte kaum Geld, man verdiente 180 Mark monatlich im ersten Jahr, immer wieder mal eine Opernkarte zusteckte; auch Glück darüber hinaus, daß meine Eigenheiten akzeptiert wurden: zum Beispiel daß es nicht mehr möglich war, mich das Zehnfingersystem an der Maschine zu lehren; ich war mit meinen autodidaktischen zweieinhalb längst schneller als Lehrlinge im dritten Jahr; Glück vor allem, weil mir Robert ein Angebot unterbreitete: Wenn ich mich entschließen könne, mein Abitur nachzuholen und Jura zu studieren, werde er mir das Studium finanzieren. Aber ich müsse mich im Gegenzug, wenn ich meine Examina hätte, für zehn Jahre der Kanzlei verpflichten.
    Ich sagte zu. Denn erst einmal kam sowieso die Einberufung dazwischen.
    Und hatte ein weiteres Glück. Eines, das mich gelehrt hat, in jedem Berufsfeld, wirklich jedem, erst einmal nach Ausnahmen zu suchen, bevor ich es ablehnte. Ausgerechnet der BWL-Lehrer meiner Berufsschule, die ein oder zweimal wöchentlich zur Praxis parallellief, gehörte in den Kreis um den Komponisten Hans Otte, der damals die Neue Musik von Radio Bremen leitete; er, der Berufsschullehrer, war mit Wolf Vostell bekannt und mit Karlheinz Stockhausen. Und so nahm er mich mit.
    Er war auch als Lehrer demokratisch, fragte also a l l e Schüler. Doch hatte niemand außer mir ein Interesse. Die andern wollten in die Disko, wie damals Clubs noch hießen, und Neue Musik fanden sie ohnedies verquält. Sofern sie wußten, was das war.
    So sehe ich mich denn, 1975, Pro Musica Nova, am Tisch mit Otte und Vostell, der mich später in seinem Chevi herumfuhr, um mich zu trösten, und mit Karlheinz Stockhausen, der nicht saß, sondern, Gott, der er war, am Tisch residierte. Irgendwann sagte ich was, ich war noch schüchtern damals. Da sah er mich an, er konnte einen ungemein scharfen Blick bekommen, und scharf bemerkte er über den Tisch hinweg: „Ich muß dir wohl erst einmal erklären, was Kunst i s t.“ Er duzte mich meines Alters wegen, ich siezte ihn, selbstverständlich. Da nahm er mich beiseite. Und hinterher brauchte ich den Trost, den mir Vostell gab wie ein Vater.
    Ich seh mich des weiteren für >>>> Charlotte Moorman, die da nackt auftrat, den Käse besorgen, den sie dann um den Hals trug. Dann spielte sie ihr Cello aus Eis, bis es ganz geschmolzen war. Ihre freien Brüste zum Spiel

    wühlten in mir eine sonderbare Mischung aus Erregtheit, ich hatte allezeit eine Erektion, und hohem Konzentriertsein auf. Dann wieder Stockhausen, die Uraufführung der „Herbstmusik“ im Großen Saal der Glocke, mit seinen zwei Frauen, die wie Dienerinnen um ihn waren. Die Zeit war sexuell extrem aufgeladen, nicht nur zu diesem Festival, sondern auch im Lehrkontor, wenn das eine Lehrmädchen mit mir auf den Boden ging, weil wir da Akten sollten verstauen –
    Ich schrieb und schrieb. Ich las und las. Mahler hatte mein Ohr geöffnet, schon bevor ich hierherkam. Ich kam vorbereitet dahin. Mit Mahler hatte sich plötzlich Johann Sebastian Bach geöffnet, der mir vorher langweilig gewesen war, aber auch die Neue Musik, wirklich unmittelbar: noch 1971 war ich, in Braunschweig, aus Janáčeks Jenufa gerannt, weil ich das „Neutönen“ nicht aushielt; mir war wirklich körperlich schlecht geworden – und das bei einem Komponisten, der heute zu meinen Drogen gehört. Jedenfalls jetzt war wieder, selbstverständlich, Adorno im Spiel: Philosophie der Neuen Musik, Dissonanzen, Einleitung in die Musiksoziologie, das alles las ich nun. Seine Schriften zur Literatur kamen erst später, als ich mit der Lehre und dem Zivildienst fertig war und als Fahrer jobbte, 1976, der Lochstreifen in die damals opportunen Rechenzentren brachte, wo sie ausgewertet wurden. Das Unternehmen, für das ich vormittags tätig war – nachmittags schrieb ich, abends besuchte ich das Gymnasium -, ließ auf diese Weise die Buchhaltung für mittelständische Unternehmen der Gegend besorgen; die Ausdrucke wurden im Haus mit einem grünen Leim gebunden, in den nun auch die Noten (!) zur Literatur Adornos kamen; die Bindung oblag uns Jobbern. Ich hatte kein Geld, nach wie vor nicht, lieh mir die Bücher Adornos aus und fotokopierte sie im Betrieb. Dann band ich sie, wie ich die Buchhaltung band. Deswegen sehen meine Exemplare heute so aus:

    Das gleiche tat ich wenig später mit dem gesamten >>>> Soboul, sowie mit Gerichtsprotokollen der Jacobinerdiktatur, die ich antiquarisch auftrieb. Ich hatte am Abendgmynasium ein Referat zur Französischen Revolution zu halten, für das ich ein halbes Schuljahr brauchte; einmal die Woche trug ich vor; mein Lehrer ließ mich, und es gab jedesmal Diskussionen über Auslegungsfragen. Er war Jesuit, ist es, hoffe ich, noch, ist noch: Wolfgang Gruber. Aber das Abendgymnasium ist nun ein anderes Kapitel, ein g a n z anderes, weil es, vermittelt über meinen Deutschlehrer Martin Korol, Ernst Bloch in mein Leben und seine Lektüren brachte. Korol gehörte in den Kreis um Blochs Witwe Carola, er machte mich mit >>> Arno Münster bekannt, einem heute viel mehr französischen als deutschen Philosophen, der, wie die Freunde sowieso, einen aktiven Anteil an meinem nachherigen Namenswechsel hatte. Er war Blochs Schüler gewesen.
    Dazu vielleicht später noch.
    Noch lese ich fast nur Adorno, wenn es um Theorie geht, also um Ästhetik. Erkenntnistheoretische Fragen haben mich erst an der Uni zu interessieren angefangen. Ich schlage die Ästhetische Theorie erstmal auf. Da bin ich zwanzig Jahre, einundzwanzig Jahre alt. Es sind mit die reichsten Jahre meines Lebens. Ich bin ein Trichter und lasse, was nur will, in mich rein, fülle mich an, werde prall. Schreibe in rasender Eile, gejagt geradezu, meinen für mich als Opus so akzeptierten ersten Roman: damals heißt er noch „Die Erschießung des Ministers“, ein Titel, den ich nie durchsetzen werde. Als >>>> „Die blutige Trauer des Buchhalters Michael Dolfinger“, was ein so echter neudeutscher Filmtitel ist, daß man ihn eine Parodie nennen könnte, kommt das Buch zehn Jahre später heraus und wird nochmal vierzehn Jahre später, nämlich zur Jahrtausendwende, >>>> als Ausgabe zweiter Hand erscheinen.
    Noch ist, und wird es lange bleiben, Adorno, Adorno, Adorno – und zwar ganz unabhängig von dem, was ich mir parallel erarbeite und was ich parallel mag, etwa den ihm bis zur üblen Nachrede verhaßten Jazz. Prinzipielle Fragen der Kunst sind noch heute adornogeprägt, und zwar auch dort, wo ich mich unterdessen von ihm entfernt habe und sogar gegenteilige Positionen vertrete. Immer sind sie auf ihn bezogen und auf die Grundfrage, die er der Kunst politisch stellte: Wie komme ich der absoluten Verpflichtung nach – wie werde ich ihrer, der Kunst nämlich, würdig -, daß sich keines meiner Werke je in einer Weise mißbrauchen läßt, daß sie Mitschuld an einem nächsten Auschwitz tragen? Ja, ich halte das für eine absolute Verpflichtung. Daran hat sich nichts geändert. Durchaus aber an den Mitteln und Wegen, ihr sich zu unterstellen. Nämlich unrestriktive, ideogiefreie Kunst mit Ethik zu vereinen.
    Die Frage nach der Wahrheit eines Gemachten ist aber keine andere als die nach dem Schein und nach seiner Errettung als des Scheins von Wahrem. Der Wahrheitsgehalt kann kein Gemachtes sein.

    Hat mir nicht genau das schon >>>> Manfred Hausmann gesagt: …das Geheimnis sei nicht, wenn man‘s hineinkonstruiere? Sondern ein wirkliches Geheimnis g e b e sich einem, man habe darauf keinen Einfluß?Alles Machen der Kunst ist eine Anstrengung zu sagen, was nicht das Gemachte selbst wäre und was sie nicht weiß: eben das ist ihr Geist.
    Adorno, Ästhetische Theorie, 198.

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