4 thoughts on “Zwanzig.

  1. Dracula und die Weltliteratur, mit einem Ausflug in den Film und einiger Verbeugung, unter anderm vor Klaus Kinski.

    Ich werde mein ganzes Leben lang mit Freude
    daran zurückdenken, wie im Augenblick der endlichen
    Erlösung ein Schimmer von Glück über des Grafen Antlitz
    huschte, das ich eines solchen Ausdrucks gar nicht für
    fähig gehalten hätte.
    Es ging die Rede, ich hätte noch tagelang, nachdem ich diesen Roman gelesen hatte, mit der Bibel unter dem Kopfkissen geschlafen. Meine Mutter hintertrug das, ich meinerseits entsinne mich nur eines orientalischen Krummdolches, mit dem ich das getan; nur hätte der gegen Vampire nicht geholfen, selbst dann nicht, wär er, wie gegen Werwölfe Kugeln gegossen, aus Silber geschmiedet gewesen.
    Ich las den Dracula zum ersten Mal mit fünfzehn, dann aber noch einmal mit sechzehn, mit, glaube ich, sechs- oder siebenundzwanzig abermals und später nochmals nach meinen Vierzig und stehe nicht an, ihn für das in jedem Fall spannendste Buch zu halten, das überhaupt je geschrieben wurde – spannend durchaus im Sinn eines Reißers. Ich halte es außerdem für eines der großen Bücher der Weltliteratur, und es ist mir egal, ob meine Meinung alleine steht. Es gibt für sie gute Gründe.
    Zum Beispiel formale. Dieses Buch ist, als Collage, die seine Handlung erzählt, modern, insofern sie sowohl weitteils als Briefroman geschrieben ist, von verschiedenen Händen nämlich, freilich mit Feder und Tinte, dies aber eben aus höchst geschickten, höchst einfühlsam geschilderten Characteren – mithin eine Rollenprosa, die ihre Perspektive wechselt; zum anderen handelt es sich um Tagebücher, die ebenfalls je nach ihren Schreibern den Stil ändern; es handelt sich bisweilen auch um Abschriften von Aufnahmen auf Wachsmatritzen, was seinerzeit, 1897, zu den höchstmodernen Dokumentationsverfahren gehörte, weshalb dieses Argument auch in das der Dramaturgie, also zur Semantik gehört: Abraham, „Bram“, Stoker weist die zeitgenössische Gegenwart also nicht aus dem Roman, wie das etwa in der präraffaelitischen Malerei seiner Zeit gern geschieht, sondern holt sie mitten hinein; dazu gehören auch die Eisenbahn und das Dampfschiff. Und es sind Ausschnitte aus Zeitungsartikeln eingestreut, die das Erzählte ganz ebenfalls voranbringen oder Kippen einleiten.

    Stilistisch ist die Eleganz zu vermerken, in der dieser Roman niedergeschrieben wurde, über die Bram Stoker also souverän verfügt hat, die er aber nicht in den Vordergrund drängt, sondern es ist selbstverständliche Haltung, daß man hierin nicht gegen die Großen der Kunstform zurückfallen dürfe. Das gehört, kann man sagen, in die britische Kultur, mitsamt einem aristokratischen Understatement. Stoker ist allerdings Ire gewesen. Dennoch. Schließlich lebte er in London, nämlich in Chelsea, wie Sie im >>>> Thetis-Vorspiel lesen können.
    Wiederum das semantische Argument lautet vor allem auf einen Symbolismus, der sich, das eben ist der Trick, als Naturalismus ausgibt und in dem die verklemmte viktorianische Moral in einem mystischen Bild explodiert, das deren internalisierte Gewalt sehr genau repräsentiert; aber auch darüber hinaus, in der kleinen, hierüber zitierten Stelle des unmittelbaren Romanendes, nimmt das Buch einen Archetypos auf und verleiht ihm eine neue Dimension: daß das Böse nämlich erlöst werden möchte, auch wenn es sich dagegen wehrt – oder in meinem Sinn, als mein Thema damals und lebenslang: daß das Kalte, Abweisende, eigentlich warmherzig ist, wenn es nur genügend geliebt wird. Es ist nicht böse, sondern von einem >>>> Splitter im Herzen erkaltet, den irgend jemand ziehen muß.
    Dieses Motiv lebt in zwei Fortschreibungen dieses Romanes weiter, die allerdings Film sind: in Murnaus und in Herzogs Nosferatu. Vor allem in diesem ist das Erlösungsmotiv führend und wird schon sehr früh in Kinskis Satz vorbereitet, mit dem der Nosferatu (anders als Dracula ist das kein Name, sondern eine Gattungsbezeichnung) den jungen Anwalt Harker auf eine Altklugheit hin fragt: „Ach, junger Mann,was wissen S i e vom Tod?“ Und Herzog kehrt nicht nur das Erlösungsmotiv gleichsam um, indem er‘s bloß nur einfach umkehrt, sondern er verdoppelt es, macht daraus einen wirklichen Liebesmythos, worin sich nicht nur einer opfert: zwar ist die junge Frau bereit, für dieses Ungeheuer ihr Leben hinzugeben, dieses ist‘s aber auch, und so verschmelzen die beiden wirklich.
    Diese Verschmelzung war anders im Ursprung: Jonathan Harkers Verlobte hatte von Draculas (!) Brust lecken müssen, nämlich sein Blut, für das sie aufgeritzt worden; somit nahm er sie zu sich, und die Freunde jagen ihn nun, um ihm vor dem letzten Sonnenuntergang das untote Leben zu nehmen, damit der Freundin Seelenheil würde errettet. Dahin steckt Stoker nun sein Erlösungs-, nämlich des Grafen, -motiv, und zwar bescheiden, wie nur Briten das können: nicht mehr als fünf Zeilen und ein sowie ein dreiviertel Wort in einem sehr enggedruckten Roman von 522 Seiten. Die nicht einmal sechs Zeilen prägten sich mir für mein Leben ein, ich habe sie immer wieder, zitiert in Varianten, in meine Texte eingebaut, auch in solche, wohin sie thematisch eigentlich gar nicht gehören.
    Als ich den Roman las, waren Vampire nicht en vogue. Das hat sich seither geändert bis in die neuesten Kapriolen der Cleanness, die sich als Boy Groups tarnen, um dem Ungeheuerlichen, als wäre es nicht, die Drohung durch pubertäre Verkitschung zu nehmen. Den Ausschlag dafür gab einerseits Andy Warhol, der das Motiv des Vampirs für den Trash vorbereitet hat, darin spielt Udo Kier den Nosferatu, der nur ein jungfräuliches Blut verträgt, was ihn verzweifeln läßt, weil sich nach 68 so kaum noch eine Jungfrau fand; trinkt er indes ein falsches Blut, wird er grün und kotzt in die Wanne; andererseits, sechs Jahre früher, Polanskis berühmtes Rosemary‘s Baby, Satire sowieso, doch ein frischer Vampir winkt nur ab, als er vermittels Knoblauch von einem Opfer geschreckt werden soll: „Das hilft nur gegen alte Vampire.“ – Dies sind Profanierungsstrategien, die den Mythos austreiben wollen, es lag auf der emanzipatorischen Linie. Wenn einer aber böse ist, könnte er sagen, zumindest an Polanski habe sich jener auf das fürchterlichste gerächt: das wäre inhuman wie die Geschöpfe, von denen der Mythos erzählt. Von Verspottung wird er nicht erlöst, und nicht von Vermüllung. Aber das Pathos war desavouiert, mußte verdrängt werden und kehrt doch an schlimmem Ort wi(e)der. Dabei liegt Warhols Version ganz auf der Linie seiner übrigen Kunst: sie läßt sich dafür schmieren, sich vollends dem kapitalistischen Markt zu prostituieren, was auch ein Verrat an 68 ist auch in den USA. Insofern Warhol ein Künstler war und nicht bloß Selbst-Entertainer. Wär er‘s denn gewesen –
    Stokers Roman war für mich, obwohl ich ihn ganz sicher nur „auf Plot“ las, eine Initiation, die sich auf >>>> Andersen und Hauff wie auf >>>> Kafka stützte und, in auratischem Sinn, auf jene Dämonen der >>>> Dämonen Dostojeskis, die Lukas VIII in die Schweine fahren. Doch auch der in Katalepsie erstarrte Vater bei Jean Paul spielt auratisch hier eine Rolle. Jedenfalls war ich mit dem Dracula für den Symbolismus reif; sehr sofort kam Baudelaire, der der bösen Blumen.

    Er hat mich lebenslang begleitet und, glaube ich, einen enormen Einfluß auf >>>> meine Lyrik, die ich doch erst so spät zu schreiben begonnen, genommen, sehr viel stärker als der auf einen ersten Formalblick näherliegende Rilke. Mit Baudelaire kamen nun die Franzosen, Maupassants im tiefsten Wortsinn unheimlicher >>>> Horla voran, der durch >>>> meine Erzählung Die Unheil noch nach Jahrzehnten wittert. Und dazu, selbstverständlich, stellte sich Poe,

    dem wiederum der Verdienst gebührt, mich auf Arno Schmidt zu führen, in dessen und Hans Wollschlägers Übersetzungen ich ihn las. Dies alles zwischen meinem fünfzehnten und achtzehnten Jahr. Die >>>> Ligeia Poes bleibt für mich eine der vollkommensten phantastischen Erzählungen, die ich jemals gelesen habe – die des ganzen großen Borges schließ ich in mein Urteil ein. In den frühen Neunzigern implantierte ich sie motivisch in meine erste wirkliche Novelle, die bereits Ende der Siebziger entstanden war und damals noch „Stiefelrot“ hieß. 1993 erschien sie, völlig durchgearbeitet nach meinem nun erreichten ästhetischen Standard und mit feinen Hinweisen versehen auf diese Prägung hier, unter einem völlig anderen Namen. Einem, der Sie alle absichtlich ins Irre führt. Was ich mir selbst also zuschreiben muß.
    1. @ ANH; aus vollem, vielleicht kaltem, herzen zustimmung zu Ihrer rezension dessen, was in der tat die erste “moderne” vampirerzählung war. im vergleich zu seinen schwestern carmilla und gautiers schöner nachzehrerin mag der graf samt anhang als figur weniger komplex sein, mag auf den ersten blick die “gefahr aus dem osten” für viktorianische xenophobie repräsentieren, doch gerade in dieser wie nebenbei erzählte erlösungsphantasie (der augenzeugin!) verleiht im stoker eine tiefe, welche der leser ebensowenig geahnt haben mag wie mina harker des grafen gesichtsausdruck.

      was nun die immer wieder und neuerdings vielleicht verstärkt versuchte profanierung der nosferatu angeht: ich kenne eine ganze menge neuerer versionen dieses mythos, kluge wie dumme, poppige (im sinne warhols) wie tiefsinnige. (lediglich um das mormonische großprojekt, dem vampirismus seine sexuell libertine, nun unterströmung dürfte man es nicht nennen, zu nehmen, drücke ich mich noch herum.) und es verwundert mich immer aufs neue, wie sich dieser relativ junge, im engeren sinne dem fünf- bis siebzehnten jahrhunderts entstammende mythos sich gegen die auflösung im nur gefälligen sträubt. selbst die dümmlichste parodie, selbst die teenie-gerechte schrumpfform führen noch spuren jenes halb faszinierten schauerns vor den “menschensaugern” und ihrem versprechen der unsterblichkeit mit sich, der die menschen begleitet, sei murnaus vampir seinen schatten auf die fassaden wismars warf…

  2. Danke Ich sehe gerade, dass Sie diesen Roman auch lieben, und bin glücklich darüber. Es gibt einen Satz darin, den ich unvergesslich finde: “Hören Sie die Wölfe heulen”, sagt der Graf bei seiner ersten Begegnung zu Jonathan Harket: “Das sind die Kinder der Nacht.” Ich finde das ein unglaubliches Bild. Das Böse wird hineingenommen in die Schöpfung und mit liebenden Armen umfangen, so wie Lucy dann den Grafen mit liebenden Armen zum Todeskuss – denken Sie an Rusalka – umfangen wird.
    Außerdem finde ich es eine grandiose literarische Leistung, wie Bram Stoker die verschiedenen, disparaten Fäden des Volksabgerlaubens verschiedener Nationen aufgenommen hat und daraus einen ganz eigenen Mythos geschaffen hat, der eine Gegenwelt zum Licht der Aufklärung und der Rationalität schafft. C.G.Jung hat die Pathologie der Gegenwart darauf zurück geführt, dass die Menschen ihren “Schatten” verdrängen. Bram Stoker zeigt auf, wie man den Schatten zurückholt in die “gedeutete Welt”. Die Botschaft dieses melancholischen Grafen ist, dass man sich seiner nicht zu sicher sein sollte. Man sollte sich offen halten für das Andere, Un-Heimliche. Ein unglaublicher Roman.

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