[Foto: ANH/iPhone.]
„Vielleicht sieht es nur so aus, als ob wir existieren”: Wie im Märchen, das stillsteht. Peter Eötvös‘ Tri Sestri nach Tschechov in der Inszenierung Rosamund Gilmores an der Staatsoper Berlin im Schillertheater unter Julien Salemkour. Die Premiere des 3. Julis 2011.
Wie nun das Spielfeld zwischen dem großen Orchester hinten und dem Orchestergraben vorne geradezu eingezwängt ist, macht >>>> Carl Friedrich Oberles Bühnenbild die Lebensenge räumlich deutlich, ohne daß das aufdringlich wäre: vielmehr ist’s ein stilles, bereits resigniertes SoIst’s, in dem die bisweilen hysterischen, auch immer nur angespielten Tanznummern, in die >>>> Rosamund Gilmore die Akteure zeitweise verfallen läßt, nur um so bizarrer wirken und tatsächlich komisch im Sinn des russischen Humors, den einiges mit Pirandellos „L’umorismo” verbindet: der Schritt ins Absurde wird nie völlig vollzogen, sondern man bleibt vor ihm auf der Schwelle stehen.
Denn die Schwestern sind ja wirklich verloren. Es geht um ein Seelendrama, das keine Katharsis erlöst, sondern das sich zerfließt – in unentwegte Resignation. Bei Eötvös, der Tschechovs Szenen rigoros umorganisiert hat, und zwar nicht nur auf die Notwendigkeiten eines Librettos hin, ist sie ständig zugegen; es gibt imgrunde keinen Zeitverlauf. Die Provinz ist stillgestellt und die, die helfen und hinausführen könnten und das zu tun auch versprechen, sind eigentlich alle immer schon fort: Tschechovs Schlußworte der Schwestern zieht Eötvös in den Prolog vor. Weil er die Zeit auf diese Weise in sich selbst zurückbiegt, kann er eine Kreiselbewegung anheben lassen, die der Oper auch und gerade musikalisch ihre enorme Binnenspannung gibt. Ohne daß Eötvös in der Harmonik regredieren müßte, lassen sich auch für in die Neue Musik nicht Eingeweihte unmittelbar Bezüge erkennen und, vor allem, empfinden. Dabei geht sogar das Zitat aus Tschaikowskis Onegin, das schon Tschechovs Text erheischt, geradezu unauffällig in den Musikfluß ein.
Insofern ist Peter Eötvös’ Oper für die Neue Musik ein Glücksfall und erklärt den Erfolg des Stücks, das unterdessen – seit seiner Uraufführung 1998 (unter Kent Nagano und Peter Eötvös selbst) – fünfzehn Inszenierungen erlebt hat; ein Novum für zeitgenössisches Modernes Musiktheater, das harmonisch nicht in den spätromantischen Gestus zurückfällt. Dennoch entnimmt ihm Eötvös dramaturgische Elemente, die sich zugleich aus dem repetitiven Verfahren der Komposition ergeben, etwa in Andrejs von Andreas Burkhart berückend gesungener Schlußarie mit dem darunterliegend atmenden, ja sich veratmenden Fagott, in das sich dräuend, doch ferne das Akkordeonmotiv hineinmischt. Ebenso gibt es große Arien in dieser Oper, deren Binnenerscheinung wie ungebrochen wirkt und deshalb eine große Unmittelbarkeit entfaltet, die sich erst in der Relativierung auf das gesamte Musikgeschehen wieder relativiert. >>>> Peter Eötvös schafft es damit, ein ebenso berührendes Pathos zu entfalten, wie er es doch intellektuell distanziert. Das bewahrt den Ansatz der Neuen Musik, nimmt ihm aber zugleich seine abweisende Hermetik.
Ein Glücksfall ist diese Oper aber auch, weil sie enorm interpretationsfähig ist; wir werden das, ich bin mir sicher, in der Zukunft noch erleben. Das Stück läßt sich als – Tschechovs eigene Gattungsbenennung für sein Stück – >>>> Vaudeville inszenieren, hier freilich eines des Dekonstruierens mit allerlei Musical darin, wie auch als Lehrstück im brechtschen Sinn, und sowohl als „klassisches” Liebesdrama wie als Frauen-(Anti)Emanzipationsstück. Genauso vielfältig ist die Interpretierbarkeit der Musik. Etwa kommt mir die Berliner Aufführung musikalisch sehr viel emotionaler vor, geradezu aufgeladen mit expressivem Klang, als Kent Naganos Lyoner Auffassung, die man schon lange >>>> auf CD nachhören kann.
Das liegt sicher auch an der anderen Besetzung. Für Lyon und „eigentlich” sah Eötvös, inspiriert vom >>>> Kabuki-Theater, die Besetzung der Schwestern durch drei Counters vor, also inverse Hosenrollen. So etwas ästhetisiert extrem und rückt jede etwaig empfundene Unmittelbarkeit sofort auf Distanz, indes die Fassung für Mezzosoprane dem Publikum zumindest die Geschlechteridentität bewahrt und insofern eine höhere „Realismus”-Kraft repräsentiert: Zugunsten möglicher Identifizierungen tritt der rituelle Character zurück, der individuelle Schicksale und Wallungen in kanonisiert-normierte Abläufe – je nach Perspektive – hebt oder einpreßt, so daß aus lebenden Personen überzeitliche Typoi werden, die immer für etwas anderes stehen als allein für sich selbst. Das wiederum hat Folgen für den Tragikbegriff und schlägt auf den gesamten – ich sag einmal: – Geruch einer Inszenierung zurück. Ebendas ist der Musik anzumerken: sie bleibt ja nicht frei vom Bühnengeschehen und ändert ihre Farbe mit ihm, sozusagen ihr Formniveau, das dem Seelenzustand Ausdruck gibt. Ich jedenfalls, ohne Abstriche, ziehe den Eötvös der Staatskapelle Berlin unter >>>> Salemkour dem des Lyoner Opernorchesters unter Nagano vor: Die europäische Kunstmusik lebt auch vom Schmutz.
Die Inszenierung selbst ist freilich keine der Staatsoper allein, sondern in Ko-Produktion mit der Bayerischen Theaterakademie entstanden. München >>>> führte sie bereits im Februar auf. Nicht nur das Bühnenbild, auch die Besetzung ist die gleiche, aus der gestern abend, unendlich warm gesungen, Anna Lapkovskajas Mascha geradezu herausstrahlte; das lag nicht nur an der Präsenz ihrer körperlichen Schönheit, sondern ganz sicher auch daran, daß sie die einzige in dem Stück ist, die ein kleines bißchen revoltiert – vermittels ihres (- so Eötvös, nicht ich -) für Frauen grotesken Pfeifens: „Es ist”, erklärt er im Programmheft, „die größte Unanständigkeit, wenn eine Frau in der Gesellschaft pfeift.” Für die vermeintliche High Society der vorletzten Jahrhundertwende mag das gegolten haben, im Kabuki-Theater gilt es, na sowieso, auch.
Eine Stärke dieser Musik ist zudem die meditative Kraft, die sie entfaltet: wie immer alles, auch der Liebesausbruch, in einen ergebenen Grundklang zurückfällt, der seinen Kopf auf den eigenen Schwanz legt, um zu träumen. Nicht einmal das Feuer vermag hier einzubrechen; man möchte meinen, die Schwestern blieben aufbruchlos noch dann auf der Terrassenschaukel sitzen, wenn die Flammen ihr eigenes Haus mitentzünden. So kam ja denn auch die Revolution über sie und die ihren, die, außer um sich selbst beschäftigt, beschäftigungslos von der Beschäftigung schwärmten, aber zugleich das beschäftigte Volk denunzierten, wenn es, wie die greise Amme, unnütz wird für das unnütze Leben der „Oberen” Dreieinhalbtausend. Zu pfeifen war dann das wenigste. Der Untergang, da, war schon da. Was aber für Tschechov ahnbare Zukunft gewesen, ist historisch für Eötvös vergangen: das erklärt die Zirkelbewegung, in die er die Zeit des Bühnengeschehens versetzen kann: in ein selbstbezügliches Dämmern unter der Glocke.
Unbedingt hineingehen.
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DREI SCHWESTERN
Oper in einem Prolog und drei Sequenzen von Peter Eötvös.
Staatskapelle Berlin, Julien Salemkour. Co-Dirigent: Joachim Tschiedel.
Inszenierung: Rosamund Gilmore. Bühne und Kostüme: Carl Friedrich Oberle.
Licht: Peter Platz. Dramaturgie: Johanna Jordan, Valeska Stern.
Elvira Hasanagič – Anna Lapkovskaja – Eun-Kyong Lim – Ines Reinhardt – Benjamin Appl –
Franz Schlecht – Andreas Burkhart – Yeun-Ku Chu – Rouwen Huther – Daniel Eggert –
Thomas Stimmel – Benno Vogel – Dooseok Kang.
Die nächsten Vorstellungen:
04 Jul 2011 | 19.30 Uhr
06 Jul 2011 | 19.00 Uhr
Drei Schwestern Sie kennen die Verfilmung mit dem Orchestre philharmonique de Radio-France unter Kent Nagano? Und natürlich die CD-Aufnahme (Nagano) von – Moment, eben in den Schrank gucken – 1999? Aber was frag ich… Am besten gleich mal auflegen. Ihr Text hat mir wieder Lust drauf gemacht.
@Leser1. Die Verfilmung kenne ich nicht, nein, nur die CD, auf die ich mich schon bei der Vorbereitung auf den Abend bezogen habe. – Also es gibt z w e i Nagano-Aufnahmen, die mit dem Orchestre de l’Opéra de Lyon und die mit der französischen Radio-Philharmonie. Interessant.