7.09 Uhr:
[Raucherdeck, geschlossene Seitengalerie.]Gar keine Frage, daß dies einer der schönsten Arbeitsplätze meines bisherigen Ledens ist, zumal die Sonne erst direkt hinter meinem Kabinenfenster aufging und damit jetzt an meinem Arbeitsplatz weitermacht: sie steigt und steigt aus der ruhig gewordenen See. Ich habe enorm tief geschlafen; es war, als höben und senkten mich die ganze Nacht hindurch liebevoll-flüssige, kräftige Hände. Als das Wiegen einhielt, wachte ich auf. Allerdings motzten meine Augen etwas, als hätten sie gestern Zug abbekommen, was niemanden wundern muß, mich zu allerletzt, und noch ist die Operation ja vergleichsweise frisch: genau vier Wochen liegen seit der an dem ersten Auge zurück, erst vier Wochen, morgen die an dem andren. Ein paar Minuten brauchte ich, ein Fremdkörpergefühl im rechten Auge mir hinwegzudenken. Jetzt ist es wieder okay; ich werde mich heute aber wohl ausgebig der künstlichen Tränen bedienen. Zudem fällt mir auf, daß sich seit den OPs morgens keine Bindehautstückchen, die wir „Schlaf” zu nennen pflegen, mehr in den Augenwinkeln absetzen. Um dieses Beobachtung werde ich meine Ärztin in einer Woche befragen. Im übrigen bleibt meine neue Sichtfähigkeit ein Wunder, und zwar gerade auf See.
Uns begleiten Frachter: ein kleines Schiff und ein vollbeladener, ja betürmter Container. Im Überseeclub beim Frühstück sitzen bereits ein paar wenige Leute, das Achterdeck dahinter ist völlig leergeräumt worden; die Jungs hatten nachts noch vieles zu tun. Als ich schlafen ging gegen zwei hatte alles noch voller Tische und Stühle gestanden; zweidrei Stühle waren aber schon gefallen und umgekippt übers Deck gescheuert. Lange hatte ich mit zwei Seglern und einer Seglerin draußen in einem Windschatten gesessen, GinTonic getrunken und zugesehen, wie vom Bug über die Aufbauten hinten zum Achterdeck hinunter die Gischtbrecher sprühten: über knapp einhundert Meter hinweg. Dazu ein fast voller Mond an Steuerbord achtern. Was in Santiago di Compostela gefehlt hatte, hier war sie nun: Mystik. Oh über unsre Projektionen und was sie ausslöst.
Übrigens war die Modenshow, bei der ich mitstolzieren soll, schlechtwetterhalber ausgefallen und wird nun heute nachgeholt werden. Und als ich die Löwin ans Telefon bekam, schnurrte sie, sie habe einen Flieger nach LeHavre gebucht, um mich des Morgens in Honfleur mit Küssen zu begrüßen. Ich hätte nicht gewagt, sie darum zu fragen.
Wir fahren einen deutlichen NordNordWest-Kurs; es ist bereits kühler draußen als alle die Morgen zuvor; morgen früh gegen sechs Uhr werden wir in Guernsay anlegen; es war insgesamt eine geruhsame Fahrt, schon der vielen alten Leute wegen, die zu einer Erholung hier sind, die sie auch bekommen; auf Abenteuer ist, anders als ich, niemand mehr recht aus. Es wird auch schon gar nicht im Übermaß getrunken – wie auf einer anderen Fahrt, von der mir Olga erzählte, mit der ich nachts ebenfalls noch beisammensaß, nach der ABBA-Show, die mir die schöne Moldawierin, denn das ist sie, abermals desinfizierte; fast eine halbe Stunde hatte ich zugesehen, wie sie trotz der Schwerwetter-Umstände tanzte, das auch zu genießen versucht, allein… diese „Musik”… ich hielt es nicht mehr aus und ging… – sowieso: Queequeeb, mein Klabautermann, über meine Schulter gezischt: „Auf keinen Fall koste von ihr”; ich war von Herzen froh, daß ihn niemand sonst hörte. Ich hätte nach draußen ins Wetter gemußt, schob ich nachher vor. Außerdem hatte einiges Publikum wieder schunkelnd zu gruppenklatschen begonnen, was ich ja schwer erträglich finde. Aber für diese Menschen war’s gut so; es nahm ihnen auch die leise Angst vor dem Wetter und drängte ihre Anflüge von Übelkeit weg. Erhob sich jemand von ihnen, um auf die Kabine zu gehen, war dem sofort ein Steward oder eine Stewardess zur Seite, um ein bißchen zu stützen. Dabei gab es auch Personal mit ganz bereits grünen Gesichtern. Ob man zur Seekrankheit neigt oder nicht, ist kaum eine Frage des eigenen Willens. Man kann Glück haben wie ich. Man kann Pech haben wie andere. Forester erzählt von Hornblower, er sei immer seekrank geworden, seit Fähnrichzeit zum Admiral: jedes Mal aufs neue, wenn’s hinausging: Dann stand er’s drei Stunden lang durch, und für den Rest der Reise war es erledigt. Man soll sich nicht erheben, sondern bloß dankbar sein: wenn’s einen selbst ignoriert.
Was nun die Dichtung anbelangt – darüber sann ich gestern nach -, wäre es reizvoll, eine dezidiert literarische Reise zu organisieren, ein Festival der Dichtungen an Bord, sagen wir: in die Karibik; Schiffserzählungen, Inselerzählungen, neue und alte und von Hafen zu Hafen für Hafen und Hafen. Auch die Musik dann ausgesucht für diese Literaturen: Hewminways Bar-Songs, Stevensons Folk, die Shanties Marryats, den Bach Hans Henny Jahnns undsoweiter. Auf Kunst strukturiert, die Ausflüge dann mit gelebter Geschichte. Ich werde das mal vorschlagen, auch wenn ich nicht glaube, die Mehrheit hinter mich zu bekommen. Aber das könnte eine poetische Aktion sein, die auch Medien interessiert.
Moment, ich hol mir mal eben einen dritten Kaffee und schau zu, ob und wie ich ins Netz komm.
… und dann die ersten Delphine dieser Reise… ein ganzer Trupp auf Jagd, springend erst backbords vorne am Bug, dann hinterm Heck im aufgewirbelten Fahrtwasser, während über uns die Wolken eilend ziehen und der frische Wind, wenn sie unter die Sonne eilen, uns durchpustet, so daß man die zwei Schals zweifach um den Hals winden muß, derweil des großen Lobo Antunes’ Personen am >>>> Handbuch der Inquisitoren in einer Sprache der Metaphern schreiben, um die ich sie nur deshalb nicht beneide, weil ich dieses Portugiesen Kunst so bewundre.
Und irgendwann gibt man den Widerstand auf, den inneren sowieso, aber auch den tatsächlichen – gegens viele Essen, andauernd zu essen, und ergibt sich. Bereits morgens steht die Überlegung auf Deck, ob man nicht schon einen Sekt nehmen möge – wär er nur besser. Allein, in den Häfen besorge ich stets die eine und/oder andere Flasche für meine Nächte an Deck: der Vinho verde ging mir jetzt aus, aber noch steht ein Cava im Kühlschrank und ein Wein aus Campostelo. Auch die enormen Oliven aus Tanger sind noch da, die mit Knoblauch eingelegten; fast hätt ich dort einen Hummer erstanden. Tanger, ach Tanger.
Nordwärts zu fahren, ist für mich stets schon wie Rückkehr. Deshalb würde ich niemals nach dem Hohen Norden aufbrechen, weil schon der Aufbruch dann immer schon die Rückkehr wäre und ein Abschied. Ich bin kein Melancholiker, sondern Tragiker: solche brauchen die Hitze der Sonne.
Mir fiel ein Gedicht zu Olga ein; sofern mich Lobon Antunes nicht abhält, werde ich auf dem Achterdeck daran skizzieren. Diamonds are girl’s best friends… -: was zu mißachten, arrogant ist von mir, diese Sehnsucht aller erglimmenden Sternchen, die Hollywood durchlagern.
Ich rauche an Raucherbord, auf der Seitengalerie, meine Pfeife, eine der russischen oder ukrainischen Bedienungen kommt, schaut mich an, ob ich etwas bestellen wolle, ich schüttle leicht den Kopf, und sie sagt: „Das riecht aber gut.”
Die Glasenglocke erklingt. Sie wird hier zu Mittag traditionell noch geschlagen. Überall sitzen Leute und lesen, und in der Captain’s Bar wird Bingo gespielt. Bisweilen kommt Sonne durch die Wolken, aber auch bedeckt gleißt sie aufs Biskayische Meer. See-Tage sind Meditationen.
16 Uhr:
[Denken Sie dran, wie fahren nach Großbritanniens Zeit, leben hinterm Continent also eine Stunde zurück.]
Bei solche Reisen steigt die Lust auf den Unfug, der durchaus kulinarische Züge tragen kann: etwa enthüllt Romana Calvetti, die für das Unterhaltungsprogramm zuständig ist, die Geheimnisse der Zubereitung des Wiener Apfelstrudels. Äger der Großmutter auf den Großvater ist hilfreich, aber auch eigener auf einen Menschen freier Wahl: nämlich wenn man den gewalkten Teig schlägt. Das muß mit einer Leidenschaft geschehen, die von Schimpfkanonaden befeuert wird: „Mistkerl!”, „Widerling!”, hochdeutsch darf man auch „Arschloch!” rufen. Dann knallt der Teig auf die Platte, bis er weder mehr Luft kriegt noch welche hat.
Andere wiederum werden zu Mannequins; so auch ich. Die hiesige Boutique hatte die Passagiere um modeln’de Hilfe zu einer Modenschau gefragt; Damen scheinen sich einige gemeldet zu haben, nur die Herren blieben aus. Mein innerer Cavalièrism war bereit, den verkaufenden Damen dien Steigbügel zu halten und schlüpfte deshalb in Paul & Shark. Sollten Fotos gemacht worden sein, werd ich Sie später noch teilhaben lassen.
Und denken Sie dran: Parallel immer Lobo Antunes dazu. Doch mittags eine Konversation, die der Reichsgraf von Weußenfels „entzückend!” genannt hätte, mit jenem aus aller Tiefe hervorströmenden Lachen, dessen es nur eines jemals gab und, hoffen wir’s, noch gibt auf dieser Welt oder einer andren.„Womit kann ich S i e noch glücklich machen?” fragt die junge Kellnerin: schlank, ein wenig kleiner als ich, zierlich, aber doch voll Energie; Seglerin, wie sich dann rausstellt.
„O”, antworte ich, „das sag ich besser nicht.”
Sie sofort und lächelnd: „Das übersteigt nicht meine Kompetenz, aber liegt außerhalb meines Arbeitsbereichs.”
Da konnt ich nur noch lachen. Sie lachte mit, tauchte in ihre Arbeitsbereiche zurück, tauchte aber immer mal wieder draus auf, um herüberzulachen. Da war’s, wegen der Modeschau, aber dringend Zeit für die Dusche.
Kühl ist es geworden, die See liegt grau.