Meine Seeabenteuer (6): TANGER. Des alten Jim Hawkins’ Reisejournal des Donnerstags, dem 11. Mai 2011.

Strait of Gibraltar, Sicht auf Spanien.

15.44 Uhr:
[Promenadendeck, Raucherbord vorm Captain’s Club.]
Nachmittags-Kaffee nach dem Mittagsschlaf auf Achterdeck, Pfeife: Herbert Motzeks Evening Latakia.

Gegen fünf Uhr zwanzig passierten wir Gibraltar, gegen fünf Uhr dreißig Tarifa, von dessen Höhe aus die ASTOR zur Senkrechten der Schiffstrennungslinie in Richtung Tanger wendete. Als die Sonne aufstieg, gedachte ich Ursulas, und der Wind stieg ihr mit und weinte. Da krängte das Boot nach Steuerbord.Um Viertel vor sechs las ich Barbara Huttons Gedicht „The Casbah”, erst auf Englisch, dann in der deutschen Prosa-Übersetzung, >>>> für die sich Bilger entschieden hat. Schon kam der Lotse an Bord und führte uns in den vor allem d amit vergleichsweise kleinen Hafen, daß der marokkanische Monarch ihn zu dem größten des gesamten Mittelmeerraums machen will. Immerhin, die gesamte Küstenbebauung östlich des Hafens ist, seit ich vor fünfundzwanzig Jahren zum ersten Mal hiergewesen bin, neu. Als wir das Grünlicht der Mole passierten, rief ich meine Löwin an.
Zum ersten Mal ist es auf dieser Reise eine Stadt, bei der es mir wehtut, daß wir so schnell wieder fuhren. Fünf Stunden blieben mir an Land, von denen ich zuerst auf der Terrasse einer arabischen Bar, direkt am Verkehrskreisel vor der Hafeneinfaht, Platz nahm, rauchte und einen schwarzen Kaffee trank. Was ich notierte. Wie Menschen leben. Der Schuhputzer trägt den Fußhocker rechts unterm Arm der Hand, die den Holzkasten mit den Wichsen trägt. Der Arme am Bordstein zum kleinen grünen Rasenrondell, der andere Arme, der auf dem Rasen liegt.
Hier hätte ich bleiben mögen. Irgend eine abgefuckte Pension für drei Tage, essen mittags mit den Hafenarbeiterinnen und -arbeitern, dazu der geradezu fette Pfefferminztee: wie ein Chutney aus Wasser – derart scharf, daß man nicht von ihm nehmen kann, aber so süß, daß man nicht von ihm lassen kann (so lautet die Regel für wahre Chutneys).
Anders als früher kaum mehr Schlepper am Hafen; aufdringlich wurden die fliegenden Händler erst in der Kasbah, also der Burg oberhalb des Gassengewirrs der Médina, wo ich schließlich aus trockenen Binsen geflochtene, ziemlich edle Schuhe erstand, vergleichsweise um ein Bakschisch, aber doch im Preis nicht s o unvernünftig, daß ich mir hätte vorkommen müssen wie ein Kolon ist, der auf Ausbeutung aus ist. Davor waren bereits Geschenke erstanden. Hier wird mitgelesen, deshalb schreib ich davon nicht mehr (und er lächelt fies, der Herbst). Außerdem nahmen mich vor den Händlern zwei Jungens in Schutz, die sich als Führer durchs Viertel anerboten hatten. Da flohen sie plötzlich hinweg, und ein junger Mann rannte drohend herzu: wie man Tauben verscheucht oder ausgehungerte Hunde, die zu nah an die Proviantbeutel kommen.
Die beiden hatten sichtlich Respekt, aber fanden mich, als ich alleine weiterschlenderte, schnell wieder. Sie machten ihren Tag. (An meinen eigenen Jungen zu denken, der, ohne daß der Vater es wußte, den Vulkanführer machte, während er schlief, und nachher mit Geld spielen konnte. Was war ich da stolz. – Solfatara.)Als ich zuerst durch den oberen Markt ging, aßen die Händler noch in ihren kajütenähnlichen Kammern, vor denen noch die Stände nicht aufgebaut waren. Dich Bäuerinnen mit spitzen festen Hüten aus Stroh hockten draußen die Straße entlang und hielten feil, was sie mitgebracht hatten: Berge von Gemüsen, dazu frischen Ricotta, der in schmale Palmblätter gebunden wird; man kann den Frauen zusehn dabei. Wettergesichter, arabisch meist, selten maurisch. Im Stadtbild herrscht die Burka vor, aber immer wieder auch junge Frauen ohne Verhüllung, bisweilen mit der verhüllten Freundin zusammen. Allesie scheinen ein Ziel zu haben, während die jungen Männer wie die alten gern an Ecken und Plätzen stehen und sitzen. Man kann sich den Fisch rösten lassen am Grill und ihn stehend verzehren.
Die Moscheen waren alle noch zu, ich hätte in ihnen gern Einkehr genommen, Besinnung an einer der Säulen, die ein Zentrum nicht kennen. Allah ist, wo immer man sitzt oder steht. Ich wäre gerne die vier paradiesischen Flüsse entlanggegangen, so leisen wie unbekleideten Fußes. Die Zeit war zu kurz. Sie war viel zu kurz. Nun habe ich Wehmut. Seltsam ist, wie sehr meine Ankunft hier Rückkehr war, und ich fühle, daß es immer so sein wird: Tanger wird immer Rückkehr sein und nie eine Ankunft. Doch weiß ich zugleich, wie luxuriös dieser Gedanke ist, den einzig entschuldigt, daß er Gefühl ist. Ein solches ist stets ohne Schuld.

17.36 Uhr:
Erinnerung an die Haschischraucher. Am Markt, ein enger Seitendurchbruch, dahinter drei alte Männer, die die Pfeifen vorbereiten: sehr lange Pfeifen mit kleinen und engen metallenen Köpfen. Man lädt mich ein, ich lehne dankend freundlich ab; aber nun begleitet mich ständig ein Haschischverkäufer, preist seine Droge, bleibt zurück, der nächste Haschischverkäufer nähert sich, preist gleichfalls. Ich scheine enorm nach einem Haschischraucher zu wirken, bin jedenfalls – ich habe vorhin Passagiere gefragt – der einzige, der Angebote erhielt. Das ist offenbar nicht nur eine Frage des Alters; es gibt auch ein paar jüngere Menschen, wenn auch nicht viele, an Bord. Aber Queequeeb sah ich, wie der in der Médina einiges in ein Stoffsäckchen tat – Stoff hat hier einen wirklich schönen doppelten Sinn.Ich wäre versucht. Hier.
Ich sollte nicht: Zweimal probierte ich’s aus und hatte jedesmal noch tagelang Flashbacks.
Aber ich wäre versucht. Hier. Welches Wort mir, dieses „Hier”, deutlich macht, wie wenig ich von Tanger schon fort bin. Immer noch bin ich da und sehe den Einkaufswagen mit Hut, der wie vergessen im Rasenstreifen vor der Moschee steht.

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Aber wir sind bereits auf dem Atlantik, dem atlantischen Stück der Meerenge auf den Weg nach Lissabon. Genau parallel zu uns, voneinander in einem Abstand von vielleicht einer halben Meile, fahren zwei Container-Frachter. Es ist diesig geworden, auch etwas kühl, und der Wind hat noch aufgefrischt. Bereits gestern nacht ging ein kurzes Gewitter mit Regentropfen von Taubeneigröße über uns nieder. Man darf dennoch die Sonne nicht unterschätzen: die Reflektion des Lichts durch das Meer, von der mir die Haut meines Schädels erzählt.

Also der Urlaubsalltag wieder an Bord. Der damit begann, daß ich – schlief. Auf dem Achterdeck. Im Wind.
Ich erwachte, sah zur Uhr. – Ach du Güte! Die Lesung der Kollegin…
Ich kam eine Stunde zu früh, weil wir noch nach afrikanischer Zeit fahren, also eine Stunde gegen Sie zurücksind. So konnte ich den ersten Teil dieses Beitrages schreiben, nur auf die Bilder mußten sie noch warten bis jetzt. Hier, zum Beispiel, hört man zu:

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