Seufzen, Ferne, Risse: Die Nachklänge der Wunder. Das Konzerthausorchester Berlin musizierte mit Lothar Zagrosek Gustav Mahlers fünfte Sinfonie, sowie das Klavierkonzert von Viktor Ullmann mit Herbert Schuch als Pianist.

Lange nicht mehr war ein so zuversichtlicher Lothar Zagrosek zu sehen gewesen, und selten sprühte derart viel von ihm zum Orchester und von diesem zu ihm zurück wie am Abend dieses 16. Aprils, über den ich nun erst schreiben kann, meiner >>>> Augen-OP halber. Doch die Erinnerung an den Mahler ist frisch, was fast vier Tage nach einem Konzert schon ein Zeichen für sich ist. Daß die Aufführung derart gelang, ist aber ganz sicher auch ein Ergebnis der langjährigen Mahler-Erfahrung dieses Orchesters, die es vor allem unter Eliahu Inbal machen konnte, der in den Achtzigern die Referenzaufnahmen einiger Mahler-Sinfonien, seinerzeit mit dem RSO Frankfurt, erarbeitet hat und später Zagroseks heutige Position innerhatte.
Es sei hier gar nicht von dem stupenden Schönklang die Rede, den das Konzerthausorchester am Sonnabend abend zuwege brachte, sondern vor allem von den Seufzern, zu denen es Zagrosek verführte, von den Rissen, die mitten durch die klangwerdende Partitur gingen und von dem tatsächlichen Fernklang, ohne daß eine besondere Positionierung von Instrumenten nötig gewesen wäre – von dieser höchsten und unerbittlichen, wenngleich immer auch verklärten Ambivalenz, die Abschiede von alten Welten bedeuten und die den Beginn einer neuen, sich umorganisierenden fast prophetisch anzeigt: Da wird das Alte zum Klang eines im Wortsinn Wunderbaren, das die Ahnung indes kommender Katastrophen in sich trägt. Zagrosek dirigierte Mahlers Fünfte tatsächlich wie eine Abschiedssinfonie, doch eines Abschieds, der sich wehrt – was es rechtfertige, daß das Adagietto in dieser Interpretation sogar noch einen Hauch länger währte als jene Filmmusik zu Visconti Tod in Venedig nach Th. Mann, die es weltberühmt hat werden lassen. Denn zu recht weist Jens Schubbe in seinem Programmheft-Text darauf hin, Mahler habe das Stück erheblich schneller genommen, und zwar um mehr als fünf Minuten schneller, was bei einem so kurzen Satz Einiges bedeutet. Dafür läßt Zagrosek das Orchester an anderen Stellen geradezu jagen, ohne daß aber die nötige Durchsicht litt, besonders auffällig im scherzanden Mittelsatz, der bisweilen, schon des Schlagwerks wegen, etwas Stravinski-Expressives bekam. Die Bläser schmetterten musikantenkapellisch, gerade auch das Holz, die Oboe war hochgereckt wie bei Klezmer. Grandios der ohnedies grandiose Trompeter des Orchesters, aber hier muß endlich auch einmal die irrsinnige Muskalität des Paukisten genannt sein. Der Saal bebte. Nachdrücklich in der Erinnerung bleibt Zagroseks Focussierung bestimmter Orchestergruppen, etwa der ausgesprochen zügigen und zutiefst oszilliernden Celli zu Beginn des wie zum Zweck der Temperamtessteigerung fugierten fünften Satzes, der attacka auf das Adagietto folgt, mit einer nach dem fernen Anfangsruf alles Sentimentale geradezu hart wegwischenden Geste-zur-Strenge. Vibrieren aber tat der Saal vor allem an jenen Stellen, da die Themen wie collagiert erscheinen – also nicht wie komponiert, sondern wie gehört, ja nachgehört – und drängend auf eine immer nur kurzzeitige Vereinigung zustreben, über die sich gern das Horn hebt, das auf nichtortbaren Generalbässen der Posaunen zu stehen schien. Selbst da, wo die Partitur eine Orchester-Fermate vorsieht, riß nicht der Zusammenhang; Mahlers berüchtigte, fast permanente Anweisung „nicht schleppen!” stand wie ein Regiemotiv über der Aufführung; auch das mag die sehr spätromantisch-schwelgende Auffassung des Adagiettos rechtfertigen. Außerdem: Alle hatten L u s t, sie wollten das so spielen, w o l l t e n aufgehoben sein, beieinander, zusammen, miteinander. Es wird allerdings mein höchsteigenes, durchaus bedrücktes Empfinden sein, daß sich der hier erklingende Abschied auch auf das Binnenverhältnis von Orchester und Chefdirigent bezog: als wäre es allen ein Bedürfnis, gegenseitig, den Abschied voneinander in Würde und Schönheit zu nehmen. Sollte ich recht damit haben, vollzieht er sich in einem hohen Stil. Dann dürften uns, den Hörern, noch einige große, aber eben letzte Konzerte der Ära Zagrosek erwarten.

Eingangs, vor der Pause, wurde des in Auschwitz ermordeten Viktor Ullmanns Klavierkonzert gegeben: deutlicher modern, d.h. fast ohne Rückblick, wenn von impressionistischen Mitklängen abgesehen wird, vornehmlich im Andante tranquillo; die Funktion der mahlerschen Reminiszenzen an tänzerische Kleinvolks- ja Bauernmusik übernehmen hier frühe U-Klänge, manches wie mit dem Ohr Rachmaninovs, anderes nahezu mit Gershwin gehört, aber ohne eigentlichen Schmelz. Stattdessen drängt die Musik, es gibt einiges Stapfende, fast etwas Mechanoides; wie bei Mahler oft „fühlt man sich erinnert”, ohne daß das Stück aber historisch würde. Urbanisierte Musik metropolitaner Metronome mit den melodisch oft einfachen Reißern eines sich durchgesetzten, aber noch jungen Zwanzigsten Jahrhunderts: teils Chaplins Modern Times, teils Langs Metropolis und manchmal eine Spur Ravel; auch die Anklänge an Walzer sind bereits zur Filmmusik geworden. Auch dies freilich, also, musikalischer Synkretismus wie bei Mahler, doch keiner mehr, der den Naturlaut kennt oder ihn gar noch festhalten möchte. Da klang des jungen Pianisten Zugabe wie eine Beruhigung im Saal: Herbert Schuch meditierte ein bachsches Choralvorspiel in der Transkription Ferrucio Busonis. An diesem wiederum war es gewesen, Gustav Mahler die letzte lange Schiffspassage von den USA in den Tod mit kontrapunktischen Spielereien zu verkürzen.
So war um den ganzen Abend der Abschied gelegt: der Aufruhr, die Sehnsucht und die Entfernung.

3 thoughts on “Seufzen, Ferne, Risse: Die Nachklänge der Wunder. Das Konzerthausorchester Berlin musizierte mit Lothar Zagrosek Gustav Mahlers fünfte Sinfonie, sowie das Klavierkonzert von Viktor Ullmann mit Herbert Schuch als Pianist.

  1. Da haben Sie einige Dinge schoen beschrieben, die ich beim Hoehren von Mahler auch sehr geniesse:
    Etwa das katastrophale Neue, das da heraufzieht oder hindurchklingt durch die Risse[], die mitten durch die klangwerdende Partitur gingen.

    (Leider habe ich live auch bisher nur eine Sinfonie gehoert, was, vielleicht aufgrund zu hoher Erwartungen, doch eine groessere Enttaeuschung war: der Klang des Orchestors soff irgendwie ab, er entfaltete sich gar nicht im Raum und hatte gar keine Zeit zu wirken – hatte ich mir den Mahler, der doch Pomp und Pathos nicht scheute(?), zu gross vorgestellt?)

    [..diese Risse fuehrten mich dann auch weiter zu Schnittke, Schoenberg, Berg..]

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