„Scheiße!” – nämlich die Welt. Thilo Reinhardts so mitreißende wie polarisierende Interpretation der Salomé von Richard Strauss.

[Fotografien: >>>> Monika Rittershaus.]

Damit konnte gerechnet werden, daß es Buhs prasseln würde, gegen die sich allerdings ein paar Bravi durchsetzen konnten, wenn auch nur für die Sänger. Doch mußte damit gerechnet werden, nämlich von der Ersten Szene an, worin der von Prinzessin Salomé entzündete Hauptmann Narraboth sich nicht nur ordinär in den Schritt faßt, sondern mehrfach deutliche Onanierbewegungen vollführt. Schade, dachte ich sofort, das bringt das Publikum schon in den ersten Minuten in die Abwehrhaltung. Und schade, dachte ich nachher, das hat das Publikum in der Abwehrhaltung gelassen. Alles andere, wie unmittelbar schlüssig einerseits, wie mindestens diskutabel andererseits auch immer, hatte da keine Chance mehr. Diese Onaniererei, der später Herodes mit einer Banane Banales noch beigibt, ist aber nicht nur didaktisch verfehlt, sondern auch tatsächlich unnötig: auf welche Weise und wie sehr Narraboth infiziert ist, weiß man auch so, und daß er’s von Salomés Oberfläche, dem Leib, ist – vom Glanz der Modewelt und von der Frau als lockendem Objekt – machen Reinhardts Einfälle von Salomés erstem Erscheinen an klar: in rotgepunktem Pettycoat und rotem weiten Hut à la Rimini der Fünziger. Ja, für die Ästhetik-s e l b s t >>>> dieser nach Art eines Real-Comics ikonographisch erhöhten, ebenso schlaglichthaften wie bildkräftigen Inszenierung ist das Gewichse sogar selbstschädigend: Es beschädigt die Deutung. Man hätte das Publikum in diese hineingleiten lassen müssen, anstelle ihm gleich mit der klischierte Zote eins vor den Hosenstall zu geben. So aber war es ihm leicht, sogar das Herzstück von Thilo Reinhardts Inszenierung abzuwehren, nämlich den Schleiertanz. Jetzt konnte man einfach sagen „Och nein…”, anstelle plötzlich nachzudenken.
Nämlich anstatt den in so vielen Aufführungen entweder tumben oder bizarren, oft einfach nur ungelenken und darum peinlichen Striptease Salomés, um den ihr Stiefvater sie bittet und den auch wir uns immer gern ansehn, öffentlich zelebrieren zu lassen, verlegt ihn Reinhardt ins Private zwischen Prinzessin und Tetrarch – was den Mißbrauch, weil er nun in einem Separée stattfindet, eigentlich deutlicher macht, ohne daß sich die Sängerin noch ausziehen muß. Sondern während vor dem Tempelpalast die Gesellschaft drauf wartet, daß die beiden wieder herauskommen, beginnt sich die Bühne in die innere Phantastik des Theaterpublikums hineinzudrehen und schichtet die so spätpubertären wie verlorenen Phantasien Salomés auf die in die Gegenwart projezierten politischen Interessen, die hinter alledem wirken, und auf deren Gegenkräfte: Jochanaan wird – in Salomés Phantasie – zu Che Guevara, sie selbst zu seiner Gefährtin wie Josefa für >>>> Marlon Brandos Zapata bei Elia Kazan; und wiederum das ist in eine Mischung aus >>>> Kirche der Befreiung & Al Quaida einerseits, andererseits in einen katholischen Symbolismus gebettet, der von Fellini oder gar Pasolini stammen könnte, etwa wenn sich die Hofleute selbsthändig ans Kreuz nageln. Um hier sämtliche Anspielungen auch nur ansatzweise nachzuerzählen und ihre Gründe abzuklopfen, werde ich die Szene allerdings noch mehrmals sehen müssen – was Reinhardts unterm Strich grandiose Inszenierung sowieso verlangt. Zumal die Choreographie sowohl der Bilderfolgen wie des tatsächlichen Bühnengeschehens zur Musik bewundernswert ist: nicht eine einzige Bewegung retardiert dramaturgisch: die Taktung dieser Inszenierung ist atemnehmend partiturgenau. Allein schon diese Kunst wäre mit tosenden Bravi zu entgelten gewesen, egal, ob man der Interpretation-insgesamt folgen wollte.
Indes, man mag sie nicht mögen, doch schlüssig ist sie ohne Rest. Reinhardt konzentriert sich auf Salomé nicht als femme fatale und dämonischer Nymphe, die zugleich die Projektion männlicher Wünsche ist wie deren in Angst pervertierte Abwehr, sondern ihrerseits Salomé ist’s, die projeziert: nämlich Jochanaan als einen, der sie aus dem dekadenten und korrupten, aber auch verlorenen Sexismus ihres Stiefvaters wie aus der machtgierigen, brutalgeilen Schranzigkeit ihrer Mutter hinausführen könnte, wenn… ja, wenn er denn einen Blick für sie hätte und nicht doch nur das wäre, was er eben ist: ein fundamentaler Fanatiker. Er muß das freilich sein, das gehört direkt in die Logik der Revolutionen: nur Fundamentalismus ist fähig, das weltumspannende Militär- und Wirtschaftsimperium Roms brüchig zu machen. Da ist für Seele kein Platz, schon gar nicht für Individual-Psychologie, der vielmehr ideologisch durch Verdammung gewehrt wird: durch das politische Dogma und eine dem Sexismus der Herrschenden ziemlich ähnliche Angst vor Strukturverlust. Diesen Zusammenhang kann die junge Frau nicht erkennen, das genau ist ihre Tragik. Weshalb sie, wie Jochanaan seinen Gott, nunmehr Jochanaan idolisiert: Che Guevara als Jugendlichen-Götze und die Maschinenpistole als Kreuz. Genau das findet sich in Reinhardts surrealer Interpretation des Schleiertanzes wieder und wird darinnen noch ausvariiert. Aber die Inszenierung macht insgesamt, und zwar schlagend, deutlich, wie verwandt der Äshetizismus des Fin de Siècles mit den Comics zum Beispiel >>>> Frank Millers ist: Versteht man dessen Verarbeitung der Mangas in die hyperrealistischen, schlaglichtartigen Bilder seines zeichnerischen Werks, dann wird einem unmittelbar klar, wie modern Reinhardts Inszenierung tatsächlich ist; modern meint hier eine wirkliche Zeitgenossenschaft.Es ist also nicht so, daß Reinhardt die ästhetizistische Überzeichnung bei Wilde und Strauss banal verdoppelte, sondern er läßt sie, jenseits der eingefahrenen Rezeption, neu lesen, ja der Ästhetizismus des hyperrealistischen Comics gibt dem Ästhetizismus des Fin de Siècles die Moral zurück: was sich als Klang-, Bild- und Projektionsrausch genießen oder aber als schwülstig und überladen ablehnen läßt, bekommt hier eine so schmerzende wie erkenntnisgeladene Relevanz. Allein daß Reinhardt zu glauben scheint (oder es als Utopisches übermitteln möchte), es sei für Salomé ein Entkommen letztlich noch möglich, stört die Konsequenz seiner Interpretation. Hier wird sie ebenso seltsam spätpubertär – doch immerhin ist es sympathisch – wie die naive Idolisierung Jochanaans durch Salomé. Zum Schluß steht sie, dem „Man töte dieses Weib!” ihres Stiefvaters entkommen, wie eine falsche Ikone (wiederum Miller: Elektra) unter dem Mond, aber mit blutigen Lippen.Morenike Fadayomi ist eine geradezu ideale Salomé, auch wenn sie die nach wie vor gültige Referenz der blutjungen Hildegard Behrens nicht einlösen kann, teils weil sie deren äußere „Unschuld” nicht ausstrahlt und sie in dieser Inszenieung auch nicht ausstrahlen könnte; sehr wohl teilt sie mit ihr aber die Schönheit der Erscheinung und hat dazu die Fähigkeit, burschikos werden zu können, so daß man ihr das Guevara-Groupie jederzeit ebenso abnimmt wie die luxuriös-verzickte Prinzessin und schließlich den sich pervertierend entladenden Triebdruck. Teils aber läßt Alexander Vedernikovs nur-expressive Auffassung der Musik sanglichen Character-Varianzen kein Spiel. Dabei war Fadayomis Stimme davon viel weniger belastet als etwa der Baß Egils Silins’, um von den kleineren Rollen zu schweigen. Insofern die Akustik des Hauses ohnedies baßlastig ist, war deshalb ständig mit der Überdeckung der Sängerpartien zu kämpfen. Immerhin hat die Komische Oper je in der Lehne des Vorstuhls die dezenten Displays, aus denen, wer mag, das Libretto mitlesen kann. Das eigentliche Problem löst das aber nicht, weil auch die Durchschaubarkeit des Orchestersatzes leidet, der bei Strauss so ungemein wichtig ist. Bisweilen hatte ich sogar den Eindruck, daß Stimmführung und Orchester leicht neben dem eigentlichen Melos lagen, so daß der Schmelz nicht Laut wurde, für den Richard Strauss so berühmt ist. Das betrifft insbesondere jene Stellen, an denen Jochanaan aus der Tiefe seines Verließes heraufsingt oder wo Stauss zwei, ja drei melodisch entscheidende Sentenzen simultanführt. In solchen Momenten ist jeglicher Ausbruch eines musikalischen Vitalismus nur schädlich: statt dessen muß da mit dem Skalpell dirigiert werden. Je mehr man nämlich seziert, um so prägnanter wird die ästhetizistische Lust und ihr Verderben: „Der Ästhetizismus will das Fieber”, schreibt Bataille. Dagegen dröhnend anzuclustern, verklebt das eigentliche, so sehr scharfe Temperament, und zwar um so mehr, je noch immer lauter die Musik wird. Dagegen geht’s dann nur mit Darstellung an, mit Schauspiel. Und hier ist, aber auch stimmlich, der Herodes Andreas Conrads wie ein Geschenk. Endlich einmal steht ein Tetrarch auf der Bühne, der nicht dauernd an >>>> Peter Ustinovs halbeunuchen Batiatus denken läßt. Dazu dann noch das großartige Bühnenbild Paul Zollers: prägnant ikonographiert, wandlungsfähig und nicht symbolistisch, sondern immer auch – gerade, weil eigentlich nur mit wenigen Strichen gezeichnet – konkret, ja überkonkret: so kann die schief aufragende Palastfront mit all ihren Säulen zum entsetzlich scheinbaren Triumph der Salomé ganz nach hinten hinweggleiten, versinken geradezu – bis hin zu den sich ausfließenden Blutbahnen aus rotem Lack auf dem millerschen Schwarzweiß der gesamten Kulisse.Der erste Ruf, der nach dem Lichtschluß zu hören war, war „Scheiße!” – er meinte ganz sicher die Welt. Und daß einmal mehr von ihr erzählt worden ist, wo man doch Freizeiterlösung erhofft hat: wenigstens noch im Theater –

Salome
Musikdrama in einem Aufzug von Richard Strauss.
Nach Oscar Wildes gleichnamiger Dichtung.
Herodes … Andreas Conrad – Herodias … Christiane Oertel – Salome … Morenike Fadayomi
Jochanaan … Egils Silins – Narraboth … Thomas Ebenstein – Ein Page der Herodias … Karolina Gumos
Erster Jude … Christoph Schröter – Zweiter Jude … Peter Renz – Dritter Jude … Matthias Siddhartha Otto
Vierter Jude … Thomas Ebenstein – Fünfter Jude … Marko Spehar – Erster Nazarener … Jan Martinik
Zweiter Nazarener … Raphael Bütow – Erster Soldat … Hans-Peter Scheidegger – Zweiter Soldat … Adam  Cioffari – Ein Kappadozier … Ipča  Ramanović
Orchester der Komischen Oper Berlin. Alexander  Vedernikov
Inszenierung … Thilo Reinhardt – Bühnenbild … Paul Zoller – Kostüme … Katharina Gault
Dramaturgie … Ingo Gerlach – Licht … Rosalia Amato

Die nächsten Aufführungen:
23., 29. April
06., 17., 21. Mai
11. Juni
13. Juli
>>>> Karten.

4 thoughts on “„Scheiße!” – nämlich die Welt. Thilo Reinhardts so mitreißende wie polarisierende Interpretation der Salomé von Richard Strauss.

  1. Sehr gut Sehr gut. Eine Kritik, die den Abend sehr gut beschreibt. Allerdings: Das Onanieren ist kein autistisches Bühnen-Onanieren sondern Soldaten-Zotigkeit. Und als solche nicht besonders abstoßend. Dort also keine Zustimmung. Und auch die Bananennummer ist keineswegs Banane – sondern hart (!) am Text inszeniertes Musiktheater.

    Absolut sehenswert. Hingehen.

    1. @Helmstein. Soldaten-Zotigkeit finde ich – schon gar “als solche” – s e h r abstoßend, zumal mit der gegenwärtigen Erinnerung an Abu Ghuraib; es gibt auch gar keinen Grund, hier Soldaten-Zotigkeit zu inszenieren, vor allem nicht innerhalb eines ästhetizistischen Settings.
      Mich interessiert jetzt allerdings eine Begründung zur “Bananennummer”: inwiefern ist sie hart am Text inszeniert? Nur daß Wildes Herodes die Spur der Zähne Salomés in einer Frucht imaginiert, reicht da ganz sicher nicht hin, und zwar schlichtweg deshalb, weil die Banane in solchen Zusammenhängen das zuallererst sich andienende Klischee ist.

  2. Salomé-Nachtrag für die zweite Aufführung am 15. April. Komische Oper Berlin.

    Einmal mehr erweist es sich, wie sinnvoll mehrfache Besuche derselben Inszenierung sind: Wenigstens, soweit noch die ursprüngliche Besetzung auftritt, entwickeln sich die Interpretationen. Sie reifen. Das betrifft nicht nur den Umgang mit dem Regie-Konzept, der oft lockerer wird und wie selbstverständlich, sondern auch die musikalische Deutung und ihre Geschmeidigkeit etwa im Verhältnis von Stimmen und Orchester. Auch wenn die Balance besonders in den Lautstärken noch nicht vollkommen ist, gab Vedernikovs Dirigat im Druck etwas nach – wovon besonders Egils Silins’ Jochanaan profitierte. Überhaupt wuchs seine Rolle in den Che Guevara noch deutlich hinein – möglicherweise ein Reife-Effekt, der sich eben dem Umstand verdankte, daß er nicht mehr Sorge haben mußte, stimmlich vom Orchester zugedeckt zu werden. Und Morenike Fadayomis Salomé ist nun dermaßen sicher, daß das ebenso trotzige wie verzweifelte Aufbegehren dieser jungen Frau mit höchster Natürlichkeit daherkommt – auch stimmlich: Es ist ihr die Anstrengung überhaupt nicht mehr anzumerken, die diese im Wortsinn mörderische Partie bedeutet; sie ging in jener scheinbaren Leichtigkeit auf, die es überhaupt erst erlaubt, das Publikum auf die Geschehen und ihre interpretierte Bedeutung zu focussieren. Nein, da muß man nicht mehr bangen. Fadayomi hat ihre Rolle vollständig inhaliert und kann sie deshalb ausatmen, ohne auch nur im entfernstesten zu drücken: allen der Name „Jochanaan” wird ihr zu einem weiten Sprech-, nämlich Sangtrichter, worin die doppelten „a”s und das „o”s ihre Schwingkaft wie in großen Orgelpfeifen aufbauen. Was sich, zudem, noch in der Premiere hätte als Mätzchen abtun lassen können, die Inszenierung eines Megaphons, bekam nun auch deshalb nicht nur dieselbe Selbstverständlichkeit, die Fadayomis szenische Characterisierung hat, sondern sie wurde zu einem nahezu Kernstück in Thilo Reinhardts Salomé-Deutung. Ich muß hier unterstreichen, wie gegenwärtig sie ist und wie sehr aus der Zeitlosigkeit eines Fin-de-Siècle-Mythos herausgelöst. Da war dann auch jener musikalisch herzbeklemmende Richard-Strauss-Schmelz wirklich da, >>>> von dem ich vor fünf Tagen geschrieben habe. Zudem hatte ich den Eindruck, die Onanierszenen des Anfangs seien deutlich zurückhaltender vorgeführt worden; eigentlich entsinne ich mich jetzt, Herodes’ Banane einmal beiseite, nur noch einer einzigen, und die war kurz – allerdings hatte ich direkt vor mir einen Sitzriesen sitzen und habe deshalb nicht alles immer sehen können.
    Es wäre interessant zu erfahren, was die vielen jungen Menschen, die gestern abend in Schulklassenverbänden erschienen, zu dieser Inszenierung sagen, denn, meine ich, keine andere Salomé, die ich bisher gesehen, hat derart das Zeug zur Identifikation durch „szenisch Gleichaltrige”, also konkret Spätpubertierende, die ausbrechen wollen und das auch müssen und sollten. Für sie scheint mir Reinhardts offenes Ende des Stücks gemacht zu sein: bei aller Ungeheuerlichkeit der Handlung führt er die Tragik in Utopie. Ob mit Recht oder Unrecht, spielt dabei keine Rolle und ganz besonders nicht eine sogenannte Werktreue, die Katharsis allenfalls noch in jenen bewirkte, die wie Herrodes sagen: „Es wird Schreckliches geschehen” und das hätten sie sowieso schon immer gewußt.
    Dieses ist eine jener wenigen Inszenierungen, die ich ganz gewiß noch öfter besuchen und auf die ich immer wieder hinweisen werde. >>>> Hier noch einmal zur Kartenbestellung.

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