Arbeitsjournal mit Abel Ferrara. Sonntag, der 6. März 2011. Vergewaltigungen als Bittgebet. Mittags ins Freie des gogolinschen Calvino-Hotels.

8.04 Uhr:
[Arbeitswohnung. Vagn Holmboe, Cellokonzert.]
Erst um kurz nach sieben auf. Noch immer antriebsschwach. Saß gestern matt nur herum, aß viel zu viel, vor allem wieder dunkle Schokolade zur inneren Aufhellung und sah mir direkt hintereinander, >>>> Brossmanns Empfehlung folgend, drei Spielfilme >>>> Abel Ferraras an, die mich auch fesselten; allerdings fehlt ihnen die Magie, die ich bei Lynch und Cronenberg spüre, über welche beiden wir vorgestern nacht auf Ferrara dann gekommen waren. Ein Film steht jetzt noch aus, The Addiction, den ich nur auf US-amerikanisch bekommen habe; bei „schwierigen” Filmen fürchte ich immer, daß meine Sprachkenntnis nicht reicht – nein, nicht die Kenntnis, sondern das Gefühl, das es braucht, um Zwischentöne zu erfahren. Das Eigentliche einer Sprache findet sich doch jenseits ihrer funktionalen Kommunikativität.
Gut gefällt mir allerdings der untergründige Katholizismus, vor allem des in „Bad Lieutenant” erzählten, wirklich ungeheuren Vorgangs, der eine von zwei Jugendlichen brutal vergewaltigte Nonne diesen beiden vergeben läßt; sie will nicht, daß sie strafverfolgt werden, und der grandios agierende Harvey Keitel, ein absolut männliches Wrack, realisiert ihren Wunsch. Aber nicht das ist es, was in mir jetzt dauerhaft nachklingt, sondern der Satz dieser Nonne, daß nämlich die Vergewaltigung ein Gebet um Hilfe gewesen sei, wie sie es noch niemals derart offen und unmittelbar vernommen habe. Darin liegt etwas Schwarzglühendes; die Wahrheit glüht darin so schwarz. Das wird aus mir nicht mehr rausgehen. Und dann erscheint dem Mann der stigmengezeichnete Nazarener auf dem Mittelgang des Kirchenschiffs: eine Szene wie bei Pasolini. Was sie hier derart kraftvoll sein läßt, ist der brutalrealistische Erzählstil, den dieser Spielfilm ansonsten hat.
Und wie ich dies hier jetzt so schreibe, weiß ich, daß ich meine Antriebsschwäche spätestens um zehn Uhr beenden werde: auf dem Crosstrainer beim 10-km-Hindernislauf.

Im Postfach liegt eine schöne Mail >>>> Zazies, der ich mein Hörstück zu Anthony Burgess rübergeschickt hatte, weil sie den Mann persönlich gekannt hat und >>>> ein irres Privatfoto von ihm in Facebook veröffentlichte. Ich selbst war mit der Arbeit der Regisseurin nicht sehr zufrieden gewesen; damals (1996) hab ich meine Hörstücke noch nicht selbst inszeniert. Jedenfalls habe ich ihr, zaziezufolge, Unrecht getan. Also: Abbitte, Barbara Heizmann. Sie werden mir aber erlauben, glaube ich, mir jetzt den zweiten Latte macchiato zu bereiten. Es ist ein herrliches Licht draußen, und ich heize immer noch nicht wieder. Mag sein, es hängt damit zusammen, daß wir bereits – nämlich, erzählte meinen Junge, meteorologisch – Frühlingsanfang hätten; so habe ihm seine NaWi-Lehrerin erzählt. De facto, aber, ist es nachts noch scharf kalt. Doch kümmr’ ich mich um Fakten ja gerne einen Schmutz und glaube an den Frühling lieber.

Schönes klassizistisches Konzert, übrigens.

9.09 Uhr:
Und n o c h eine Szene fällt mir jetzt ein, ebenso ungeheuer und ebenfalls aus Bad Lieutenant:
Bei der polizeilichen Vernehmung wird die Nonne nach dem Aussehen der Vergewaltiger gefragt. Erst antwortet sie überhaupt nicht, was der Zuschauer auf den traumatischen Schock zurückführt, als Realist, der er ist. Dann aber sagt die Nonne: „Jesus hat Wasser in Wein gewandelt. Ich hätte den bösen Samen in fruchtbares Sperma umwandeln können.” Hier wüßte ich jetzt gerne, wie der letzte Satz auf Englisch lautet: bad semen ./. fertile sperm? „Bad semen” hat eine dunkle mythische Kraft, dem das fast nüchterne und doch sehr viel weitere, weil mit Hoffnung belegte „fertile sperm” fast etwas Aufklärerisches entgegensetzt: von einer Nonne geäußert ist das, wohlgemerkt.

13.32 Uhr:
Zurück vom Training, 10 km in 52 min als Steigungs- und Hindernislauf, danach 1300 m locker ausgelaufen, bißchen Bauchmuskeltraining, paar Klimmzüge und Dips, zweimal Sauna. Das Wetter ist so schön, daß ich mir jetzt >>>> den Gogolin schnappe, in dem ich mich schon gestern spontan festgelesen hatte; hier haben >>>> die Kulturmaschinen wirklich, glaube ich, einen guten Griff getan. Allein schon der Titel ist absolut wunderbar gewählt. Ich bin mir sicher, ich werde Ihnen über dieses Buch noch sehr viel mehr schreiben. Jetzt erst einmal, mit ihm und Pfeife und Tabak, wieder hinaus – solch ein Licht!

20.27 Uhr:
[Ralph Vaughan Williams, Fünfte Sinfonie (Vinyl, Sir Adrian Boult).]
Seit dem letzten Eintrag bis eben Peter H. Gogolins >>>> „Calvinos Hotel” gelesen und bis zur S. 136 gekommen; ist ein ehrlicher, kleintypiger Satz, der sehr viel Text auf die Seite gibt; aber der Schmökercharacter dieses Buches liegt sehr angenehm in der Hand, und dann taugt dieser Roman auch noch was, was eine Untertreibung ist. Es ist wirklich ein ganz toller Roman, vor allem auch sprachlich, und ich kann Ihnen nur herzlich empfehlen, ihn zu kaufen und zu lesen. Wenn ich ihn ‚durch’hab, werde ich sicher noch eigens drüber schreiben, will aber meiner Freude doch schon mal jetzt Ausdruck verleihen. Es ist nicht nur Freude, sondern auch Glück, weil es meine eigene, von den >>>> Kulturmaschinen verlegte Arbeit in einen Zusammenhang stellt, in dem ich mich nun ohne Einschränkung wohlfühlen kann. Das ist besonders wichtig, wenn man in kleinen Verlagen publiziert, die ihre Veröffentlichungen nur bedingt diversifizieren können.
Jedenfalls saß ich knapp zweieinhab Stunden ein gemummelt auf einer Parkbank am Helmi und las, derweil die Sonne auf mich und die Bankbachbarn schien – bis mir dann aber doch etwas zu kalt wurde und ich wieder heimging, um am Schreibtisch weiterzulesen und dabei meine Boxen zu genießen, diesmal mit dem Engländer Vaughan Williams, für den ich eine den continentlern auch dann nicht immer verständliche Neigung habe, wenn sie Britten, geschweige Birtwistle oder gar Ferneyhough schätzen. Aber Sie müßten mal den Klang dieser Emi-Pressungen hören, wie tief er hier hinter den Boxen liegt und meinem Arbeitszimmer quasi einen ganzen Konzertsaal hinter die CD-Wand einwölbt. Das genieße ich jetzt dermaßen, daß ich ganz sicher nicht mehr hinausgehen werde heute abend, auch wenn eben der Profi anrief, um wegen >>>> der Bar zu fragen. Ich werde wohl auch nicht mehr heute den letzten Ferrara-Film, The Addiction, sehen, sondern einfach weiterlesen; nur zwischendurch einzwei Brote will ich essen; habe den ganzen Tag über nur, als ich von der Parkbank zurückkam, den selbstgeschnibbelten Fruchtsalat mit Joghurt gegessen; brauch also mal was Festes zwischen die Kiemen: Krustenbrot und Mecklenburger Tilsiter, Handkäs, ein Packung Flußkrebsfleisch. Und mit der Löwin telefonieren, vielleicht auch etwas skypen zur Nacht.
Wein, Wasser, Pfeife. Meinen Sundowner-Talisker nahm ich schon.

2 thoughts on “Arbeitsjournal mit Abel Ferrara. Sonntag, der 6. März 2011. Vergewaltigungen als Bittgebet. Mittags ins Freie des gogolinschen Calvino-Hotels.

  1. @anh, ‘bad lieutenant’ ja, lieber herr herbst, das ist ein großartiger film, gerade in der konsequenz, mit der das scheitern dieses abgewrackten menschen – als erlösung, letztlich, erzählt wird. auch mich hat er seit dem ersten sehen nie wieder losgelassen.

    zu Ihrer frage: wenn ich mich recht entsinne, spricht die nonne bei der vernehmung von ‘bad seed’ und tatsächlich: ‘fertile sperm’. mit allen implikationen, die Sie angedeutet haben. diese figur ist nun wirklich eine der unheimlichsten, die ich je inszeniert gesehen habe.

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahren Sie mehr darüber, wie Ihre Kommentardaten verarbeitet werden .