Übers immer genau Hinsehn ODER Zauber und Entzauberung. Das Arbeitsjournal des Dienstags, dem 25. Januar 2011. Dem Fremden nah und fern.

6.20 Uhr:
[Arbeitswohnung. Simone Kermes, Barock-Arien aus Napoli.]„Weshalb, Herr Herbst, müssen Sie immer so genau hinsehen?” – diese Frage einer Regisseurin, die, als noch der >>>> MEERE -Prozeß die Medien beschäftige, ein kleines Portrait über mich drehte, fiel mir zu der >>>> gestrigen Diskussion auf TT ein, die auch >>>> Kiehls folgenden Eintrag durchzieht „Warum müssen Sie immer so genau hinsehen?” Man möchte doch bitte etwas, das als Geheimnis deklariert ist, weil man daraus den Genuß eines ungefährdeten Miteinanders und Einverständnisses zieht, hinterm Schleier belassen. Nur: Weshalb? Was denn wird befürchtet? Offenbar, daß der Hin-Blick dieses Etwas zerstört oder doch wenigstens ihm Risse zufügt. Aber ist nicht, je deutlicher ich den Körper sehe, um so klarer auch, wie im Wortsinn wunderbar er ist? Seinerzeit, bei dem Einwand der Regisseurin, waren die Sexualstellen in Meere gemeint. Als entweihte der Blick etwas JenseitsDesKörpers. Nur ist da zum einen nichts; selbst unsere Liebe stirbt, wenn dem Gehirn Stoffe entzogen werden, die ihm ihr Empfinden erst möglich machen; zum anderen ist das Wort „Entweihung” genau das Problemfeld. Daß wir von anderer Natur seien, etwa unsere Seele, als bloß materiell, steht dahinter. Um ein solches Anderes aber denken und fühlen zu können (und auch ich fühle und glaube es sehr gerne), bedarf es der materiellen Vorgänge: chemischer, physikalischer im weiten Sinn, elektrisch; der Nerven- und Synapsentätigkeit also wie, im Sexuellen, der Gleit- und, zum Haften, Schleimmittel. Wir vergessen immer, daß der Geist nicht zeugt; niemand kann eine Frau ansehen und sie allein durch Blicke schwängern, und keine kann allein vom Blick eines Mannes empfangen. Hier aber liegt unsere Wahrheit und Herkunft. Selbst die Zeugung durchs Ohr ist, als Konstrukt, ein Verbrechen: es reduziert, was eigentliche das Wunder ist. „Chemie ist sakral” heißt es darum in den Bamberger Elegien.
Was tat ich also? Ich betrachtete ein Bild, das mich berührte, und interpretierte es, indem ich’s beschrieb. Dabei verwendete ich die Begriffe „Möse” und „Schamlippen”. Schon darauf reagierte eine gewisse Pein. Hätte ich von „Vaginallabien” und, was überdies falsch gewesen wäre, insgesamt von „Vagina” schreiben sollen? Nein, ich sollte die Wirkquelle des Bildes überhaupt nicht benennen; hübsch war, daß ich, weil ich mich dem Tabu nicht beugte, ein „verklemmter Oberlehrer” genannt worden bin und selbstverständlich wieder einmal mein Alter ins Feld geführt wurde als etwas, dem gelebte Sexuallust nicht mehr zusteht. So etwas geschieht noch Anfang des 21. Jahrhunderts; ich kann gar nicht genug den Kopf drüber schütteln. Bedachtere sprachen, was nicht besser ist, von „Entzauberung”, wiewohl mir der Zauber des diskutierten Bildes bis jetzt in keiner Weise verlorenging; im Gegenteil ist er durch meinen Blick nur noch stärker geworden, ja er entfaltet sich überhaupt erst jetzt. Dies ist ja doch auch der Sinn dessen, für was wir bereits in der Grundschule das erste Rüstzeug bekommen: nämlich der Bildbeschreibung, die uns schließlich in die Interpretation führt. Gerade in der Bildenden Kunst läßt sich beobachten, daß die Wirkung eines Gemäldes um so größer wird, je mehr wir von seinem Aufbau verstehen. Das gilt namentlich für Neue Kunst, insoweit sie sich von semantischen Plots entfernt hat. Der unmittelbare erste Augenschein, der Schein also, trägt nicht; das, was da schon trug, bleibt in der liebevollen und genauen Analyse erhalten; es bewahrt sich da überhaupt erst, und zwar rein aus dem Bild selber, während ansonsten eine Dauer des Wirkung dieses ersten Augenscheins der bewußten oder unbewußten Anrufung transzendenter Instanzen bedarf, die sämtlichst Funktionen des Über-Ichs und damit fremdbestimmt sind; für die Religionen sind sie offenbar – sic! – Lehrer und wir auf ewig untergebene, wenn’s gutgeht, Gesellen. Es geht aber, wenigstens mir, um den Genuß eines freien und bewußten Einzelnen, um den Meister mithin, also um das abendländische Ideal der Selbstbestimmtheit, die sich sich eingesteht und öffentlich – auch kontrovers – in der Polis vertritt, womit sie erst zur Polis mitwird.
Aber letztlich wirkte in der Diskussion gestern – ich telefonierte darüber nachts noch lange mit der Löwin, der ich die Links auf Kiehls Bild und die erst von mir ausgelösten Diskussionen nach Wien gemailt hatte – die Angst vor dem Tod: daß nach ihm nämlich nichts mehr sei. Statt dessen soll eine Auferstehung des Fleisches imaginiert sein, von der ich mich ständig frage: ja, in welchem Alter sollen wir Toten denn wieder auferstehen? Im Alter unseres Gestorbenseins, sagen wir mit siebzig/achtzig, gebrechlichen Körpers und den Kebs noch an ihm dran? Oder im Alter von anderthalb, fast lallend noch und inkontinent? Oder als Jünglinge, bzw. nach der ersten Blutung und ohne die reife Lebenserfahrung? Was wären wir denn dann? Das mit der Seele mag ja als Märchen noch angehen, die Auferstehung des Fleisches jedoch strotzt von einer Bizarrheit, die vermittels Dummheit-allein vorgestellt werden kann. Das wirkliche Wunder hingegen zeigt uns die Beobachtung der Toten: der Stoffwechsel-weiter, die Metamorphose ins Nächste, zu Erde und neuer Pflanze oder einem Tierteil oder Stein und daraus dann wieder, vielleicht, Geschöpf. In unseren sexuellen Besessenheiten, wenn wir sie mit genauem Hinsehn verbinden, kommen wir der Wahrheit und dem Wunder nahe – bei Frauen, da sie immer offen sind, schneller als bei Männern: ich meine den Blick in die Vagina, dahin, wo nur noch Organ ist und Sekret. Ein solcher Blick reduziert nur dann, wenn er sich moralisch hat mißbilden lassen und aus dieser Mißbildung, die jede Verachtung des Organischen i s t, heraus- und also ins Organ hineingeblickt wird. Die mythischen Erlebnisse, die ich hatte, waren meiner Kinder Geburten, zu denen Blut gehörte, Kot und Urin und eine ungeheure Schmiere, sowie die grenzenlose Schönheit der nachgeborenen Plazenta und ein magisches Neonblau der Nabelschnur… „worauf es hinauswill, das Meer,/ringsum” (Äolia). Anstelle, daß wir das verstehen, indes, ekeln wir uns. Es ist nicht zuletzt dieser Ekel, der zum mißbräuchlichen Übergriff auf Unterlegene führt, zu Verbrechen der Vergewaltigung und Folter. „Ich will endlich wissen, was das ist: Seele!” antwortet der Landsknecht, als man ihn bei Grimmelshausen fragt, weshalb er einen Bauern zu Matsch und Tode trampelt im Brandschatzen umher.

Jetzt habe ich über eine Stunde, anstatt meine Korrektursarbeit zu tun, an diesem Arbeitsjournal geschrieben und könnte noch eine weitre Stunde schreiben. Aber die Zeit drängt. Guten Morgen, meine Leserin. Doch nahm ich mir zugleich die Zeit, >>>> Fritz Iversen zu antworten. Zwischen seinem Vorwurf und der Diskussion bei TT besteht ein Zusammenhang; es ist derselbe Nexus.

Von 21.30 bis 23.30 Uhr mit dem Profi >>>> in der Bar gesessen. Sollte die Kreuzfahrt klappen (es geht nur noch ums Honorar), käme er gerne mit. Innig gern hätt ich die Löwin dabei. Andererseits muß man bei solch einem Auftrag allein sein; der Blick ist anders, wie auf Reisen. In Gesellschaft naher Menschen setzt man sich weniger aus. Also erfährt man auch weniger und bleibt, weil man den Nahen nahbleibt, dem Fremden immer fern.

10.42 Uhr:
[Laut!: Pergolesi, Magnificat in C.]Aber jetzt simmern sie, und ich übertrage die Korrekturen weiter. Wegen des Ultraschallbildes gab es ein fein-pikantes Mißverständnis auf Facebook. – Ah, welch ein Knabensopran! Und der Cigarillo schmeckt!

12.26 Uhr:
[Händel, Orlando.]
Gute Diskussion hierunter, zu der auch >>>> bei den Gleisbauarbeiten eine Position formuliert ist. Ich meinerseits schaffe es zeitlich nicht, mich dort auch noch zu äußern, sondern werde mich heute auf Die Dschungel konzentriert halten. Doch den Link hinüber möchte ich Ihnen an die Hand geben. Die Kombination aus >>>> Kiehls Bild und meinem Kommentar hat etwas zu Sprache und Erregung gebracht, das sowohl für unser Verständnis von Wirklichkeit, meine ich, ebenso maßgeblich ist wie für unsere Haltungen.
Gelöscht habe ich eben nur einen Stand„mann”, der der irrigen Auffassung war, wieder einmal eine persönliche Invektive loswerden zu können. Ich hätte mit einem schnellen Schlag aufs Maul reagiert, würde durch solch einen banal-aggressiven Nebenschauplatz nicht der sachliche Diskussionsgang gestört. Also entschloß ich mich für die Ablage senkrecht. Und nebenbei koche ich und übertrage weiter die Korrekturen, was letztres eine ziemlich langweilige Arbeit ist, aber erledigt werden muß. Nur bisweilen steh ich dabei vor einem Ausdrucksproblem. Und jetzt hakt mein „u” mal wieder.

Hab ich schon mal irgendwo geschrieben, daß ich Händel l i e b e? Er schenkt mir ein solches Glück!

19.09 Uhr:
Mit den Korrekturen bin ich durch, aber jetzt wird die Arbeit doch noch schwierig: Ich habe mich entschlossen, für die Buchfassung der Fenster von Sainte Chapelle den gesamten Strang Weblog-Kommentare-Diskussionen herauszunehmen und den Text zu einer „normalen” Erzählung umzuformen. Das macht nicht nur die Erzählabfolge knifflig. Doch der Zugriff wird direkt, klar, deutlich. Keinerlei Lockendrehen, auch dort nicht, wo das Haar es mehr als erlaubt.
Keine Musik also. Der eh zu späte Mittagsschlaf ward unterbrochen.

Parallel ein reizvoller Briefwechsel mit einer Lektorin. Immerhin.

19 thoughts on “Übers immer genau Hinsehn ODER Zauber und Entzauberung. Das Arbeitsjournal des Dienstags, dem 25. Januar 2011. Dem Fremden nah und fern.

  1. lieber anh, hier bietet sich mir ein anlass, eine beobachtung mitzuteilen, die ich schon seit längerem mache. dazu ist — das betone ich — die diskussion um tt’s fotografie nur der anlass. denn es zu beurteilen fühle ich mich nicht kompetent.

    an Ihrer reaktion ist mir aber folgende spannung (wieder einmal) aufgefallen: Sie betonen immer wieder in wort und werk Ihre skepsis gegenüber dem geist und geben unbedingt dem körper den vorzug, dem “meer, ringsum” eben. soweit.
    dann aber bestehen Sie in ähnlichem zusammenhang (wie p. kiehls fotografie) auf der begrifflichen, also: geistigen durchdringung des gesehenen. wollen es zur sprache bringen und betrachten alles, was dies nicht tut, als eine mehr oder inder ausgereifte form politisch korrekter verklemmtheit. – unabhängig davon, wieviel von letzterer bei einzelnen tt-kommentatoren nun gegeben sein mag, kann man deren einrede auf Ihren kommentar nun aber auch so deuten: sie lassen das bild zunächst einmal im körperlichen, als ereignis, wirken. Sie hingegen, anh, machen sofort den schritt in die be-nennung (auf die Sie ja bestehen), nennen alles beim namen und gehen insofern jener paradiesischen tätigkeit nach, der Sie anderwso mit skepsis begegnen. denn: welcher mensch kennt schon die namen, welche die dinge selbst sich geben?

    kurz: Sie entkörperlichen hier das ereignis, indem Sie auf den begriff bringen. diese spanung zwischen nachdrücklicher körperlichkeit und zugleich drang ins geistige fällt mir immer wieder auf. etwa auch, wenn Sie das absterben des physischen literatur-mediums (vulgo: buch) gegen das eigene hängen an dessen physis vehement affirmieren und sogleich (v.a. ja mit der dschungel) an der entkörperlichung, mithin, ideal gesprochen: vergeistigung der kunst arbeiten.

    das bitte ich nun nicht als kritik oder gar vorwurf mangelnder kohärenz aufzufassen, sondern als beobachtung, die zu denken gibt. mir zumindest, der sich über diese spannung bei Ihnen immer wieder, und nicht ohne respekt, verwundert.

    A.

    1. @Aikmaier zum Widerspruch. Die richtige Konsequenz wäre vielleicht, mich wie D.H.Lawrence, dem eine große meiner Bewunderungen gilt, in die Wildnis zurückzuziehen oder tatsächlich, wie Rimbaud, Mädchen- und Waffenhändler zu werden. Mit beidem spiele ich ja bekanntlich in meinen Gedanken immer mal wieder herum. Ich habe auch das Angebot bekommen, ein Haus wie Roissy zu leiten – was mich gereizt hätte, aber abzulehnen war, da ich mit mindestens derselben Leidenschaft ein Vater und als solcher unbrechbar verläßlich bin.
      Dennoch gehe ich einen anderen Weg als den der Vergeistigung, indem ich ja Kunst betreibe, nicht etwa Wissenschaft, d.h. nach dem Körper analogen Ausdrucksformen suche, die in meiner Berufung sprachlicher Natur sind. Dadurch ergibt sich die von Ihnen zu recht benannte Antinomie automatisch. Mein Gedanke ist aber gerade der, daß die Erklärung von etwas von diesem Etwas gar nichts subtrahiert, sondern erst dann, wenn wir die Erklärungsmöglichkeiten ausgeschöpft haben, wird sich ein Geheimnis zeigen – wenn es denn da ist. Men Satz “Chemie ist sakral” sagt das, meine ich, sehr deutlich.

      Im übrigen hatte sich mein gestern Text verschaffender Unwille an der Weichzeichnerei entzündet, mit der auf viele Bilder Kiehls reagiert wird, solch ein VonVornHereinSympathisieren und im Zweifel Verniedlichen, damit es bei der entspannten Atmosphäre auch bleiben kann und nicht etwa Wirkkräfte genannt werden, die, d a ß sie wirken, uns peinlich sind oder die wir gar ablehnen. Abgesehen hiervon wäre der Beitrag ohne meine Intervention im Vergessenwerden hängengeblieben, nämlich schlicht unter den Horizont des den Weblogs eigenen Zeitstrahls gefallen; so aber hat >>>> das Bild seine eigentliche Valenz erst bekommen. Wie Sie an den Zugriffszahlen sehen können. Sie wurde frei d u r c h meinen Einspruch, der einer des Geistes war und ist.

      Es gehört, schließlich, zu unserer, wenn wir erwachsen sind, Natur, Geschöpfe zu sein, die bis über beide Ohren in der Ambivalenz stecken. Nicht eindeutige Klarheit, sondern dieses ist das Zeichen von Reife. Es gibt keine Einheit, nicht mit einem anderen Menschen, nicht mit einer Gesellschaft und auch nicht mit uns selbst. Aber wir träumen davon, das ist wahr.

    2. ich sehe, ich sehe, worauf Sie hindeuten, anh. und bin, was ambivalenz angeht, ganz einverstanden. allerdings ziehe ich es vor, wie ich auch schrieb, von spannung zu sprechen, statt von widerspruch oder ambiguität. denn erstere braucht es nun einmal, um einen pfeil kraftvoll ins angepeilte ziel (und sei es das herz des feindes) zu setzen. — nur manchmal, wenn Sie gleichsam als der la mettrie des einundzwanzigsten jahrhunderts auftreten, verliert sich, dass auch Sie um diese spannung wissen.

      ich frage mich, ob sie mir ebenso stark aufgefallen wäre, wenn Sie bildender künstler oder musiker wären. vielleicht ist es gerade die arbeit an und mit sprache, die qua zeichenhaftigkeit beherzt ins geistige ausschreitet, während ein gebildetes (selbst konzeptuelles) kunstwerk immer ja körper ist, musik eben klangkörper braucht &c. und dann – “ecco!” – stammen wir alle ja von buchreligionen her…

      “chemie ist sakral”. dieses satz hat im poetischen zusammenhang der elegien seinen platz und seine berechtigung. als argument aus dem zusammenhang gerissen riskiert er aber in die falle eines reduktionismus zu tappen. – viel mehr kann ich mich mit Ihrer andeutung des auswegs anfreunden, der ein, nun, mystischer überstieg ist:

      erst dann, wenn wir die Erklärungsmöglichkeiten ausgeschöpft haben, wird sich ein Geheimnis zeigen

    3. @Aikmair. Spannung. Ambivalenz gehört in die Ontologie, Spannung ist eine Kategorie der Wirk-Ästhetik. Da ich letztere “im Griff” habe – jedenfalls sollte es zu meiner Profession gehören, sie zu beherrschen; vorher kann von Professionalität nicht gesprochen werden -, nimmt sie mein Auge oft nur noch handwerklich wahr. Ambivalenz aber greift hierüber weit hinaus. In meiner Ästhetik gehört der ontologische Begriff Ambivalnz an die Seite des erkenntnistheoretischen Modells der Allegorie. Daß zwischen diesen beiden wiederum eine Spannng besteht, macht sich abermals wirk-psychisch bemerkbar.

      Reduktionismus ist ein ähnlicher Vorwurf wie der andere, der mir gemeinhin gemacht wird: Biologismus. Es können Vorwürfe aber nur insoweit sein, als von denen, die mir die Begriffe vorwerfen, Chemie und Biologie reduktionistisch aufgefaßt werden. Insofern handelt es sich bei den Vorwürfen um… ah! wie heißt der philosophische Begriff dafür noch gleich, daß ein Argument sich selbst schon als Beweis voraussetzt? Schopenhauer nennt ihn in seiner phänomenalen Kritik an Kant. Ich mag jetzt aber nicht nachsuchen, weil ich die Leiter holen müßte, um oben ans Regal zu kommen. ‘s ist 25 Jahre her, daß ich den mir bis heute erinnerten Text gelesen habe.

    4. ‘Wer nicht für mich ist, ist wider mich’, lieber anh, zu diesem spiel sollten meine einlassungen eigentlich kein beitrag sein. ich habe nämlich m.w. gar keinen vorwurf formuliert, sondern nur auf eine differenz hingewiesen: was lyrisch wirkt kann in einer theoretischen oder philosophischen argumentation prekär werden.
      darum lassen sich jene dinge, die wir hier nun argumentierend umkreisen, ereignisse sind’s, auch so wunderbar lyrisch fassen, kaum aber theoretisch. seit jahrzehnten streiten avantgarde-philosophen darüber, ob nun die präsenz oder die absenz leitkategorie der kultur sei — vergebens. und dann tritt uns in einem gedicht plötzlich etwas entgegen, eben: ereignet sich, und jede theorie ist obsolet.

      zur spannung: ich zielte eher auf die innere spannung ab, welche Ihre positionen zueinander aufbauen und die ja offenkundig sehr produktiv wirken. dass es nicht um wirkungsästhetische spannungsbögen à la novellentheorie ging, hoffte ich allgemein verständlich gemacht zu haben.

    5. @aikmaier. Ich habe auch nicht auf etwas als Angriff Empfundenes reagiert. Aber diese Innenspannung ist wahrscheinlich korrekt von Ihnen beobachtet. Nur bin ich mir unsicher, ob sich etwas lyrisch fassen läßt. Wir können uns in der F o r m bilden, also das Handwerk für sie erlernen und sie dann anwenden – mehr aber, glaube ich, nicht. Insoweit bin ich anderer Ansicht als, >>>> dort im letzten Absatz, MelusineB und >>>> Frau Kiehl in ihrem hiermit nach den Gleisbauarbeiten verlinkten Kommentar. Vielmehr, wir haben es nicht in der Hand, ob sich etwas und was darin fängt. Allerdings ist Form ein guter Köder.

  2. Auf die Frage “Was befürchtet man denn?” – wenn die Schleier fallen, die Geheimnisse aufgedeckt und noch der letzte Winkel ausgeleuchtet wird, werde ich aus meiner Sicht in meinem Blog heute antworten. Denn ich bekenne mich dazu: Mir liegt an Schleier, Geheimnis und Dunkelkammer, selbst an so was – scheinbar Überkommenem – wie Scham. Die Gründe versuche ich darzulegen. Mit “Wahrung der Sittlichkeit” haben sie nichts zu tun. Im Gegenteil: Ich will “das Bild” retten, gleichermaßen gegen den allmächtigen Gott, der es mit guten Gründen (im Namen der Sittlichkeit) verbat wie gegen diejenigen “Beleuchter”, die es zum Abbild degradieren wollen (zu denen ich Sie, im Übrigen, nicht zähle, auch wenn man einige Sätze, die Sie gestern und heute geschrieben haben, aus dem Zusammenhang gerissen, so verstehen könnte). Ihre eigenen Werke, denke ich, setzen sich gegen die pure Abbild- und Enthüllungsfunktion einer Schein-Aufklärung zur Wehr.

    1. @MelusineB. Was ein Geheimnis i s t, das muß das Licht nicht fürchten. Es wird Geheimnis bleiben – wie uns der gesamte Kosmos nach wie vor Geheimnis ist, und jede Erklärung, die wir finden, macht es nur noch größer. Als etwas, durch das man mit Dürers Kopf in den Himmel der Seligen stoßen konnte, war der Kosmas flach und schal. Heute erst ist er unfaßbar.
      Nicht anders der Körper. Besonders seine Geist genannte “Funktion”. Welch ein Wunder, daß physikalische Vorgänge das Selbstbewußtsein erzeugen und darüber hinaus erzeugen können, daß etwas wird, das vorher nicht war, z.B. gotische Kirchen als Wohnstatt EInes, den es erst recht nicht gibt, der aber Antrieb wird zu den größten Musiken und Bildern, die die Menschheit je gesehen. H i e r ist das Geheimnis. Und jeder, der sich ihm mit Erklärungen nähert, macht es immer noch größer, während die Anhänger der Verschleierns es zur alltäglichen Haushalthilfe reduzieren. Was ich gestern zu >>>> Kiehls Bild schrieb, war von einem Abbildfunktionalem Lichtjahre entfernt. Was mich nervte, war diese Samtkisserei, die dem aufmüpfigen Mädel, es einverständig desinfizierend, übern Kopf streicht, weil man ja die Möse nicht anfassen darf und schon gar nicht streicheln (Jugendschutz): “Das haste aber hübsch gemacht, meine Kleine. Ach ja, was sind wir für eine nette Familie. So amüsant! So herzig!” W e n n jemand Kiehls Bild reduziert hat, dann waren es einige der witzelnden Kommentare vor meinem, der die Dynamik der Kommentare anlysiert hat, viel weniger das Bild, und zwar schlicht dadurch, daß ich das Bild analysierend ansah.
      Wer im übrigen gegen solche Analysen ist, möge bitte keinen Arzt mehr aufsuchen, sondern seine Wohlfahrt bis zum Dahinkrepieren einem Priester in die Hände legen. Die gibt es nicht nur in den Kirchen zuhauf. Wie sagte man im Mittelalter? “Medizin ist Hexenwerk.”

    2. Das Geheimnis – die Geheimnisse ? Vor Erklärungen fürchte ich mich nicht…Als Kunsthistorikerin (was ja meine “eigentliche” Profession ist) produziere ich bisweilen welche. Meine Kritik an Ihrem Kommentar bezieht sich eben gar nicht auf Ihre “Enthüllungen”, sondern darauf, wie Sie jede andere Reaktion auf das BILD als die Ihre – die eine dezidierte männliche (aber vielleicht eben auch nicht die jedes Mannes) ist (und meinethalben gerne sein soll!) – als “biedermeierlich” oder “niedlich” abtun mögen. Phyllis Kiehls Bild wird weder durch Ihren noch durch andere Kommentare “reduziert”. Es wird wahrgenommen. Ihr – körperlicher – Impuls, wenn ich recht erinnere, war es, sich so zu stellen, dass Sie als Betrachter zwischen die Beine schauen könnten. Es kann dies Bild, wie read An beschrieben und beispielsweise ich unmittelbar nachempfinden konnte, auch ganz andere Impulse auslösen: sich in den dargestellten Körper, seine Muskelanspannung/-entspannung einfühlen. Gleichwohl bleibt es ein BILD. Und interessant insofern es n i c h t Ab-Bild e i n e s zu enthüllenden Geheimnisses ist , sondern als Bild solche erzeugt.

      Niemand, glaube ich, hat es als “herzig” empfunden. Aber durchaus (auch) als witzig. Sehen Sie, ich glaube an Geheimnisse, in der Mehrzahl und an das zur schöpferischen Tätigkeit drängende Bedürfnis sie zu bewahren und zu (ver-)bergen (d.i. ihnen “Hüllen” schaffen).

      Und ich bin überzeugt, dass sie (die Geheimnisse) nicht s i n d (wie Sie meinen), sondern durch kulturelle Arbeit entstehen. So wird aus sexuellem Trieb Erotik (zum Beispiel). Das ist ambivalent (eins Ihrer Lieblingsworte ;-): denn es setzt Sublimierung, also Triebkontrolle und Verschiebung, voraus. Wir erzeugen nur so, Bilder schaffend, Überschuss (Energie) und Überdruck (Spannung).

    3. @Melusine B. Verschiedene Perspektiven. Sie unterschlagen, daß etwa read An’s Perspektive sowie die anderen Einlassungen von nicht nur herzigem Wert sämtlichst erst nach meiner Intervention geschieben wurden; das Bild stand da schon lange drin. Hätte ich nicht scharf reagiert, wäre gar nichts weiter passiert. Und selbstverständlich bezog sich “Sexualverleugnung” auf den schweigenden männlichen Blick. Daß man das Bild, etwa durch Empathie, die bei einer Frau durch Frauen sehr naheliegt, auch anders interpretieren kann, ist selbstverständlich – und vielleicht ergibt sich erst aus der Kombination der Perspektiven eine mögliche Wahrheit, die aber immer noch nicht das Geheimnis des Bildes eigentlich berührt. Dieses wird auch nicht durch Absichten oder Absichtserklärungen des Künstlers berührt, denn ein Bild und ein Buch “weiß” oft mehr als sein Urheber. Er mag handwerklich noch so gewieft sein, wenn ein Geheimnis da ist, steigt es ganz unabhängig von ihm auf oder halt nicht. Er hält die Steigbügel, allenfalls, oder schiebt den Deckel vom Kanal.
      Wenn Geheimnisse allein durch kulturelle Arbeit entstehen, sind sie nicht Geheimnis, sondern kunsthandwerklich hergestelltes Rätsel. Sprich: Sie sind dann ein Nullsummenspiel und restlos selbstbezogen, sei’s auf den Urheber, die Gemeinde oder das Feld der jeweiligen kulturellen Codierung. Geheimnis ist aber immer mehr als das Hergestellte. Selbstverständlich ist der Tristan-Akkord hergestellt, aber nicht sein Klang.
      Mein körperlicher Impuls war, wie ich es auch beschrieb, durch die Haltung der verschobenen Mitte affiziert; das Bild selbst lockte, meine von Ihnen genannte Position einzunehmen, da mag Frau Kiehl intendiert haben, was sie nur will. Tatsächlich sind die meisten Kommentare aber darauf angelegt worden, das Bild zu desexualisieren, und sei es dadurch, daß man hinterher sagt: Das wußten wir doch eh. – Wo immer ich so etwas merke, greife ich ein. Ob’s nun gefällt oder nicht.

  3. Entzauberung Die Wirkung einer zeitgenössischen künstlerischen Arbeit erschließt sich oft nur über den Blick auf Gesamtwerk und Kontext: ohne Bezugssystem bleiben viele Arbeiten flau. War schon immer so, klar. Früher gab es aber nicht so viele hermetische, oder sagen wir individualistische künstlerische Positionen.
    Wer heute uninformiert (als Kind überlas ich immer das „n“ und wunderte mich, dass es so viele Polizisten gibt auf der Welt) eine Gruppenausstellung junger Künstler:innen besucht, sich auf die eigene Vorstellungskraft verlässt, um sich die Arbeiten zu deuten, verpasst im Zweifelsfall eine Menge: der Zauber entwickelt sich aus dem Vorwissen.
    Bei Bildern wie jenem, von dem die Rede ist, scheint das anders, es geht um Körper, wir haben alle einen, da braucht’s keine Vor-, um dieser Ab-bildung nachzuspüren. Zudem handelt es sich um eine Fotografie, kennen wir auch, das Medium. Man kann sich so ein Körperfoto also aus eigenen Mitteln aneignen, ohne dass sich jemand davorstellen und einem die Zusammenhänge erklären muss. Und wird auch grantig, wenn jemand kommt und das, was man als „wissen wir doch alle“ ansieht, in explizite Vokabeln kleidet. Meine Mutter, vierundsiebzig, die regelmäßig auf Tainted Talents mitliest („das Bild ist köstlich“, hatte sie ausgerufen), sprach gestern von Entzauberung. Die klare Benennung dessen, was aus Ihrer Sicht, lieber Alban, zu sehen sei, sei gänzlich unnötig für ihr Vergnügen. Nun ist eine einzelne Frau, selbst wenn’s meine Mutter ist, kein Maßstab, doch ähnlich äußerten sich viele andere auch. Sie fühlten sich um ihre Wahrnehmungskompetenz betrogen von Ihren Ausführungen.
    Mal von der ganz offensichtlichen Tatsache abgesehen, dass ohne Ihre Setzung längst nicht so viele Stimmen zum Thema laut geworden wären: ich selbst glaube nicht, dass man eine Arbeit „kaputt“ reden kann, indem man den Fächer spreizt. Ich bin außerordentlich neugierig auf den Blick der „Anderen“, was mein Wirken betrifft, sonst würde ich es nicht öffentlich darstellen. Wenn ich also innerhalb dieser Reihe mit meinem Körper arbeite, muss und will ich damit rechnen, dass sich unterschiedliche Fächer öffnen. Wer das als Künstler:in nicht will, sollte sich lieber ans private Fotoalbum halten. Ich erfuhr gestern auf TT allerhand über die Blicke der Anderen und fand mich in dem, was ich mit der Reihe beabsichtige, bestätigt. Nicht zuletzt dadurch, dass sich in die wuchernde, teils auch aggressive Diskussion noch nicht einmal Nachts Verbalattacken mischten, die auf meine Person als Beute abgezielt hätten. Ist das nicht großartig? Wer hätte das gedacht?
    Ohne meine Grenzüberschreitungen bekommt diese spezielle Serie keine Kraft, ohne Ihre Grenzüberschreitung/Aufladung wäre eine potentielle, für mich und viele andere, wichtige Diskussion im Weichzeichner verblieben.
    „Mit Samtkissen werfen“ – der Ausdruck, den Sie gestern prägten, amüsiert mich übrigens immer noch.

    1. @Phyllis. Geheimnisse. “Sie fühlten sich um ihre Wahrnehmungskompetenz betrogen von Ihren Ausführungen.”
      Also wirklich, ist das m e i n Bier? So viel Angst! Zumal bei dem Geflocke der Reaktionen auf Ihr Bild von Kompetenz weniger zu spüren war als von hüpfelndem Entertainment. Es ist mein Recht, das Entertainment abzulehnen, sogar jegliches. Wer sich betrogen fühlt, weil ich das Recht, das ich mir nehme, wahrnehme, muß sich fragen, weshalb meine Ausführungen denn derart wirkten, wie ja nun nachweisbar ist. Dabei hat Ihr Bild weißGöttin keinen Schaden genommen. Im Gegenteil. Jetzt erst ist es ins Zentrum und damit wirklich in die Wahrnehmung gerutscht. Schaden genommen hat aber die Prüderie, die so tut, als wäre sie nicht, sondern genösse ihre innere Libertinage. Und den, den Schaden, s o l l sie nehmen. Das ist meine Absicht.
      Ja, es werden sich unterschiedliche Fächer öffnen. Manche sind, ungewollt wahrscheinlich und oft, ohne daß ihre Träger das wissen, von den Motten zerfressen. Dann sehn sie beinahe aus wie die Kleider von Kaisern, die nacktgehn.

      Mein Eindruck ist, daß ich zu den wenigen Menschen gehöre, die tatsächlich noch an Wunder und Geheimnis glauben. Deshalb bin ich so angstfrei, namentlich gegenüber Erklärungen. Die meisten anderen meinen, sie müßten sich ein Geheimnis erst konstruieren, das aber dann natürlich keines ist, sondern versteckt werden muß, damit man es – und man selber – für eines dann auch halten kann. Ungefährdet. Diesen Menschen sitzt Enzensberger Satz in den Knochen: “Das Geheimnis ist, daß es keines gibt.” Sie haben ihn internalisiert und sind deshalb ohne Hoffnung. Das zu verschleiern, dem alleine gelten ihre Schleier. Ich werde sie heben, so lang ich noch kann. Um das wirkliche Geheimnis, von dem ich oben schrieb, zu schützen: indem ich auf es zeige.

    2. Friedrich Schleiermacher schreibt in ‘Vertraute Briefe über Friedrich Schlegels Lucinde’ im Kapitel ‘Versuch über die Schamhaftigkeit’ einleitend: “Das Übelste ist, daß schon vorläufig die Frage entsteht, ob es nicht schamlos sei, von der Schamhaftigkeit zu reden, oder was jemand darüber sagt anzuhören.” Schleiermacher beklagt hier eine Grundstimmung, die von heute aus betrachtet biedermeierlich anmutet. Die von ANHs “schamloser” Betrachtung des phyllischen Bildes “Experimentelle Hirnforschung” ausgelöste Diskussion läßt eine ähnliche Grundstimmung vermuten, in der das heimliche, private Tun opportun ist, das öffentliche Bekennen zu diesem Tun aber nicht – so gesehen ist der aufrüttelnde Beitrag ANHs absolut notwendig gewesen, ja fast schon ein Akt des Widerstandes. Und wenn Melusine den Begriff der Scham ins Spiel bringt, so ist ja eben diese im diskutierten Bild im doppelten Sinne in den Mittelpunkt gerückt. Bernard Williams etwa schreibt (in: ‘Scham, Schuld und Notwendigkeit’): “Die Grunderfahrung der Scham besteht darin, daß ich von den falschen Leuten in einer falschen und unangenehmen Lage auf unangemessene Weise gesehen werde. Diese Erfahrung ist direkt verbunden mit Nacktheit, insbesondere in sexuellen Zusammenhängen. Das Wort aidoia, ein Derivativ von aidos, Scham, ist das griechische Standardwort für die Genitalien, (…).” Übertragen auf die künstlerische Darstellung von “Schamlosigkeiten” (aller Art) ergibt sich so die Notwendigkeit, sich diesen “falschen Leuten” (dies sich für die richtigen, normgebenden halten) gegenüber zu offenbaren, zu behaupten, gleichsam Widerstand zu leisten gegen deren “Kleidervorschriften”. Seitdem Kunst im Selbstauftrag geschaffen wird, ist dieser Widerstand implizit lebendig, das kann garnicht anders sein!

    3. Scham und Genital Für Schamlosigkeit(en) gegenüber den ´falschen´ Leuten bin ich immer. Aber ich schäme mich auch (und dafür eben nicht), wenn ich “ertappt” werde bei etwas, das ich (noch) nicht zeigen will. (Eben nicht von den ´falschen´, sondern von den ´richtigen´ Leuten.) Zwischen “etwas vorzeigen” (wollen) und “etwas verdrängen” liegen halt viele Zwischentöne.

      In dem Zusammenhang will ich daran erinnern, was neben vielem anderen die Fotos aus Abu Ghraib offenbarten, die uns in allen Medien angeboten wurden: “Schamhaft” abgedeckt war immer das männliche Genital. Seine (nicht abstrahierend phallische) Darstellung ist noch am ehesten ein Tabu in unserer Gesellschaft (Männer gehen auch weniger zum Andrologen als Frauen zum Frauenarzt, um eine Thematik aufzugreifen, auf die ANH oben eingeht.) Es gibt aber offenbar wenig Interesse (auch künstlerisches) hierbei “schamloser” zu werden. Warum? (Das ist keine rhetorische Frage!)

    4. @Melusine: Der Phallus, fleischlich. “Seine (nicht abstrahierend phallische) Darstellung ist noch am ehesten ein Tabu in unserer Gesellschaft” – ja, und eines, das an Absurdität kaum zu überbieten ist, da das erigierte Glied von ausgesprochener Schönheit sein kann; das nicht-erigierte allerdings weniger, weswegen man es selbst auf klassischen Statuen, soweit sie nicht sartyrischen Character haben, stets in kindhafter Hinrunterdimensionsierung sieht.
      Eine Erklärung für das bis heute wirkende Tabu habe ich auch nur mit Paglia: “Noch die freizügigste Strip-Tänzerin nimmt eine letzte Verschwiegenheit wieder mit sich von der Bühne” (aus dem Gedächtnis zitiert). Tabu ist also das geöffnete weibliche Geschlecht, das ja das eigentliche ist. Dieses wäre das Analogon zum Phallus, und diese Frau Analogie bekommen Sie denn, wie den steifen Schwanz, auch in unserer Gesellschaft nahezu ausschließlich im Porno öffentlich zu sehen. Ich erinnere mich noch gut an den Skandal, den eine ausgesprochen liebevolle, geradezu herzrührend-warme Szene in dem Spielfilm “Teufel im Leib” ausgelöst hat, worin Maruschka Detmers den nicht einmal recht erigierten Schwanz ihres Filmpartners in den Mund nimmt. Als ich gestern die Imagination gespreizter Schamlippen in dem Beitrag formulierte, mag die folgende Abwehr also auch daher rühren: Ich berührte dieses Tabu, das analoge zum Zeigeverbot des Phallus’.

    5. Eine große Träne fällt auf das heilige Blatt, welches ich hier statt deiner fand. Wie treu und wie einfach hast du ihn aufgezeichnet, den kühnen alten Gedanken zu meinem liebsten und geheimsten Vorhaben. In dir ist er groß geworden und in diesem Spiegel scheue ich mich nicht, mich selbst zu bewundern und zu lieben. Nur hier sehe ich mich ganz und harmonisch, oder vielmehr die volle ganze Menschheit in mir und in dir. Denn auch dein Geist steht bestimmt und vollendet vor mir; es sind nicht mehr Züge die erscheinen und zerfließen: sondern wie eine von den Gestalten, die ewig dauern, blickt er mich aus hohen Augen freudig an und öffnet die Arme, den meinigen zu umschließen. Die flüchtigsten und heiligsten von jenen zarten Zügen und Äußerungen der Seele, die dem, welcher das Höchste nicht kennt, allein schon Seligkeit scheinen, sind nur die gemeinschaftliche Atmosphäre unsers geistigen Atmens und Lebens.

    6. @ANH Diese, meine Einlassung wäre auch ohne Sie passiert. Eben, es war eine Einlassung! Und dafür bin ich sensibel, auch ohne Sie. Dafür reichte mir eingestelltes Bild und meine eigenen summenden Hummeln in den Eingeweiden. Nicht aber, dass Sie jetzt glauben ich wehre ab, mich in Ihr Wasser zu begeben. Ganz ohne herzige Werte!

    7. @Phyllis Wer heute uninformiert […] eine Gruppenausstellung junger Künstler:innen besucht, sich auf die eigene Vorstellungskraft verlässt, um sich die Arbeiten zu deuten, verpasst im Zweifelsfall eine Menge: der Zauber entwickelt sich aus dem Vorwissen.

      Was meinen Sie mit uninformiert? Ich finde kaum etwas weniger erträglich als Ausstellungen, die mir erklären wollen was ich sehe (klar, Kunstwerke die 500 Jahre alt sind brauchen Erklärungen, weil wir manches nicht mehr verstehen können); erstens weil ich dabei nichts lerne (nämlich z.B. ein Bild zu betrachten) und zweitens weil Kunst immer mehrdeutig ist und sich drittens die Bedeutung eines Werks doch zwischen Person und Werk konstituieren muss; viertens, zumindest ist das meine Erfahrung was Literatur betrifft, sind Autoren im Regelfall schlechte Interpreten ihrer Werke – man kann und sollte das den Lesern überlassen (ein kluger Autor erklärt nicht was er geschrieben hat, weil er weiß was er damit zerstören kann); und fünftens werden dadurch doch bestimmte Perspektiven für verbindlich erklärt und andere übersehen.

      Meine Erfahrung ist, dass in der Kunst Verstand und Gefühl (fast immer) miteinander verwoben sind – eine Erklärung kann mir vielleicht eine Komponente des Verstehens (des Nachvollziehens) geben, aber nicht mehr.

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