Das Silvesterjounal in der Form eines Nachrufs. Freitag, der 31. Dezember 2010.

8.57 Uhr:
[Arbeitswohnung.]
Mein Junge, der über den Abend furchtbar hustete, ein harter Husten, der in der Brust schmerzt, schläft tief und ruhig auf dem Vulkanlager noch. Als wir nachts >>>> von der Trauerfeier zurückkamen, hatten die Apotheken längst geschlossen, doch ich fand noch Silomat-Dragées, und er bekam heiße Milch mit Honig, worin ich etwas getrockneten Thymian verrührt hatte. Es scheint geholfen zu haben. Jedenfalls hustet der Junge kaum noch, jetzt, und hustete auch die Nacht hindurch kaum; andernfalls hätte ich selbst nicht ruhig geschlafen.
Er hatte unbedingt mitgewollt, so, wie er Ursula auch unmittelbar vor ihrem Tod noch hatte besuchen wollen. Am Wannsee war das Boot geschmückt worden, die Gäste nahmen aus ihren Blumensträußen einzelne Blumen heraus, ein jeder ging für sich zum Boot und legte die Blumen darauf. Am Ende des Stegs war eine Feuerstelle unterhalten. Ein jeder schrieb Wünsche auf kleine Billets, die in kleine Umschläge kamen. Nachts schritten Grüppchen zum Feuer, teils über den Steg, teils übers Eis, und taten ihre Umschläge auf die fackelnden Scheite. Hier auch war ein Loch ins Eis gehackt. Etwas von Ursula kam da hinein und sank auf den Grund. Mit weiteren Blumen wurde die Stelle bedeckt. Es war bereits tiefdunkel. Ein Feuerwerk wurde entzündet. Im selben Moment läuteten ferne Glocken, wie um, ohne sich ihr aufzudrängen, daran zu erinnern, zu welcher Kultur auch diese Frau gehört hat. Es war der Klang einer innigen Gläubigkeit in Pastell.
Gekommen waren nicht nur die Freunde, gekommen war nicht allein die Familie; gekommen waren, auch von weither, teils mit dem Flieger, Bekannte, Kollegen. Da waren, sowieso, die Segler. Vor das Bootshaus war ein kleines Zelt aufgebaut, darin es Fisch- und Bohnensuppe gab, und Kuchen, und an der Theke gab es Glühwein und heißen Apfelsaft mit Zimt für die Kinder. Die dezent herumtollten. Immer wieder ging jemand hinaus zu dem Boot, zu dem Feuer, und weinte, viele mehrfach, um auch für sich den Abschied zu nehmen. Ein Film wurde gezeigt, den Carlos von der Sterbenden gedreht, mit ihr, wir sahen auch die Tote schließlich liegen, die Haut so weiß wie gestern der Schnee. Ursula hat aus ihrem Sterben kein Verkneifen gemacht, sie hat darüber gesprochen, immer wieder, über die besondere Intensität nun der Farben und der Begegnungen auf der Straße in den letzten Wochen, da sie noch gehen konnte; Fremde, die sie angesehen und angesprochen hätten; die letzten Blicke aus den Fenstern ihrer großen Kreuzberger Wohnung hinaus, vom Balkon: der Film war, seltsam, auch eine kleine Sinfonie für Berlin, das zwei Jahrzehnte lang der im Rheinland geborenen Frau Heimat gewesen, nämlich das Basislager dieser häufig reisenden Lektorin, die bei >>>> deGruyter >>>> Noam Chomsky betreut. Ursula Kleinhenz hat für nach ihrem Tod eine Briefsendung an die Freunde vorbereitet, die wir dann mit der Post erhielten: eine CD mit von ihr ausgesuchten Liedern, dazu ein Booklet mit Fotografien, die die nun Gestorbene zeigen, vor allem auf See. Auf einem der Bilder steht sie mit zwei Freunden; den einen nennt die Untertitlung, den anderen nicht: Chomsky. „Weshalb?” hatte bei der Vorbereitung der Sendung Freund G., der die Freundin bis ganz zuletzt täglich begleitet hat, gefragt, und sie hatte geantwortet: „Ich möchte nicht angeben.” – Ursula.

Eine Trauerfeier habe ich bislang nicht erlebt, die auch nur ungefähr so stilvoll gewesen wäre. Das Bootshaus heißt „Bolle”, das Boot heißt „Ticino”. Es liegt unterm Löwen nahe dem Haus der Wannseekonferenz. „Traut”, hätte meine nun schon lange verstorbene Großmutter gesagt, waren Hochintellektuelle, Künstler und einfach nur Menschen, einfache Menschen, stundenlang beisammen. Das wird, hoffen wir, die kommunikationsbegeisterte Frau glücklich gemacht haben. Derweil sie, ließ sie uns wissen, nun alleine segelt. Keiner weiß, wohin, und keiner, auch sie nicht, ob das „alleine” auch stimmt. Was von ihr aber noch in der Welt blieb, hat ebenfalls zu reisen: an vier Meere. In einer Begleitung, die sicher ist.

8 thoughts on “Das Silvesterjounal in der Form eines Nachrufs. Freitag, der 31. Dezember 2010.

  1. Ich finde es achtbar, dass sie ihrem Sohn diese Entscheidungsfreiheiten lassen. Mir wurden in ähnlichen Situationen schon (aus dem Instinkt heraus das Kind zu schützen) vieles abgenommen. Man bereut oft die Entscheidungen am meissten, die man selbst nicht treffen konnte.

  2. Ihre Zeilen – ein gefühlvoller Abschied von einer lieben Freundin; auch wer sie nicht kannte, dem haben Sie sie eindrucksvoll nahe gebracht. Eine stille Umarmung sendet Ihnen Teresa.

  3. Du bist nicht vergessen Herzlichen Glückwunsch, liebe Ursula, von deiner Kollegin im Geiste aus Wuppertal. Ich sitze hier und weine um dich und bin berührt von diesem Text über deine Trauerfeier. Unglaublich schön! Sail away… Petra Hahn

  4. Du bist nicht vergessen Wie gerne hätte ich “Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, liebe Ursula, von deiner Kollegin im Geiste aus Wuppertal” gesagt. Ich sitze hier und weine um dich und bin berührt von diesem Text über deine Trauerfeier. Unglaublich schön! Sail away… Petra Hahn

    1. Liebe Frau Hahn, danke, daß Sie hier die Gelegenheit nutzen. Ich habe aber den Eindruck, daß Sie erst den einen Glückwunsch geschrieben und dann den anderen hinterherverfaßt haben, so daß einer quasi – aber nicht in Gänze – doppel dort steht. Ich mag das von mir aus nicht löschen, und Sie selbst, weil Sie als Gästin schrieben, können es nicht. Wenn ich einen von beiden hinausnehmen soll, dann geben Sie mir bitte Bescheid.
      Im gemeinsamer Erinnerung an Ursula:
      Unbekannterweise Ihr
      ANH

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