Einen solchen Jubel hat die Komische Oper Berlin lange nicht mehr gehört. Man mußte ja auch wirklich >>>> auf diese Inszenierung gespannt sein, nicht zuletzt, weil sie Homokis Berufung zum Zürcher Operndirektor ganz sicher mitempfehlen soll. Gespannt aber auch, weil Patrick Lange – der neue Musikchef des Hauses, den alle immer jugendlich nennen – auf den Tisch zu schlagen hat. Was er unfraglich konnte. Von einem angeblich Jungenhaften lasse keiner sich täuschen; wir sahen’s schon bei Thielemann. Nicht nur, daß Lange sein Orchester mit Löwenfuror führt, nein, bisweilen wurde ein derartiger Schönklang erreicht, daß einem die Luft wegblieb: und zwar nicht nur in den Streichern, die gestern abend wie Wolken aus Engeln über Wagners Mischklang wehten, teils da sekundenlang stehenblieben; sondern vor allem, weil dieser Dirigent die Komposition wie eine ausgedehnte Fuge begreift, deren Stimmen unbedingt durchhörbar bleiben müssen, zumal sie auch in die Vertikale komponiert sind. Das erzeugte den Eindruck eines stehenden Windes. Doch auch das innige Melos des Vorspiels zu Aufzug III wurde im Orchester der Komischen Oper wahr und war durch die wirklich schrummenden Bässe – glasklar schrummend! – geerdet, worein das lärmende Volk dann bricht. Daß die Tragik eines Königs Marke miterzählt wird, der Hans Sachs aber noch rechtzeitig ausweichen kann, erzählt eben bereits dieses Vorspiel – als Nachsinnen des entsprechenden Handlungsmotivs aus Aufzug II. An sich bedurfte es da nicht mehr eines Zitats aus dem Tristan; doch Wagner fand es mit Recht sehr schön.
Das Orchester genoß sein eigenes Spiel. Auch das war zu merken. Nur das schwere Schlagwerk wummte aus dem engen Orchestergraben um einiges zu dumpf und deckte dadurch manches zu, das klarbleiben müßte. Daß am Ende von Aufzug II, wenn die herrlich-wüsten Turbulenzen plötzlich zurückgenommen werden, was von über Bläserläufen rufenden Trompeten ausgeleuchtet wird… daß da die Orchestermusiker nicht ganz den nötigen Erlösungsdruck hatten – er muß sich über dem Nürnberger Chaos weit zu einem strahlenden Leuchten öffnen, dann stiller werden und in die Nachtszene, das Chaos da mit, zurücksickern -, allenfalls das, also, ist ein bißchen schade. Ansonsten war der Abend auch in dem szenisch Derbsten von allerfeinster Qualität.
Wovon also zuerst erzählen? Davon, wie Tómmas Tómassons Bariton (Sachs) anfangs ein wenig im Schatten des enorm geräumigen russischen Basses Dimitry Ivashchenkos (Pogner) stand, aber spätestens mit dem zweiten Aufzug da heraustrat, um das ganze Szenario ab da zu beherrschen? Ungerechterweise führte das dazu, daß beim Applaus Ivashchenko die Bravi versagt worden sind, die ihm – Polyhymnia weiß es – zugestanden hätten. Freilich konzentriert sich Wagners Stück zunehmend auf Sachs. Da macht das Volk dann mit, auch wenn gegen Ende dem Sänger – kein Wunder bei dieser Partie – zweimal kurz die Stimme brach. Ein Wunder aber, wie Tómasson es auffing: Wir s a h e n ihn Luft in der Bauchhöhle sammeln und sie dann, eine von unten hinaufsteigende Wogensäule, die Stimmbänder wieder heben. Und mit wie aus einem Knall erblühter Strahlkraft sang er sich frei. Dies alles in Bruchteilen von Sekunden.
Das Eigentümliche und Bezeichnende ist, daß dieser kürzeste Moment einer drohenden Implosion und ihrer Bewältigung dem großen mahnenden Endgesang die besondere Kraft gab, der in Homokis Inszenierung ohnedies etwas plötzlich ganz Gegenwärtiges bekam. Darauf hatte der Regisseur es auch abgesehen. Ihm gelingt das politische Kunststück, ausgerechnet Wagners Meistersinger zu rehabilitieren, denen immer nicht nur ein muffiger, sondern weit schlimmerer Nationalismus angeklebt ist, aber vor allem der deutsche Antisemitismus. Zwar wird David nach der recht massiv ausfallenden Handschelle, die ihn indes zum Gesellen befördert, nach wie vor zur Taufe verwiesen. Aber es ist eine historische Oper, Lehrstück hin und her, und der Historie bekamen weder political noch religious correctness jemals gut. Und Beckmesser, in dem Wagnerkritiker eine hämische Karikatur auf „den” Juden sehen wollen, erinnert in der Komischen Oper eher an Shapespeares >>>> Malvolio. Das ist für Homokis Deutung auch sinnvoll. Die sozusagen gelben Strümpfe Beckmessers schützen Hans Sachs davor, sich ähnlich lächerlich zu machen, ja sein Gespür für Lächerlichkeit öffnet den Mann für das Neue. Er ist insgesamt die sensibelste aller Figuren, die Homoki auftreten läßt: manchmal wird er, aber nur er, P e r s o n.Homikis Bühnenbildner Frank Philipp Schlößmann hat dem Regisseur einen Christkindlmarkt aus Häuschen und einer Kirche gebaut, aber alles aus weißer Pappe ohne Fenster und Türen; wer ein Haus betritt, klappt immer eine ganze Wand auf. So steht das Dorf in der feindlichen Umgebung der dreistöckigen, an das Innere eines riesigen Alienraumschiffes erinnernden, weil von Technik, Metalltreppen und -zügen beherrschten Bauten der ganzen Bühne. Einer Wagenburg gleich haben sich die Häuser darin, ja darunter aneinandergerückt. Wenn der junge Stolzing zum ersten Mal auftritt, stehen sie so eng, daß er kaum da hineinkann. Die Differenz zwischen ihm und den „Bürgern” kann kaum größer sein, die sich eine kleine Heile Welt hier eingerichtet haben: die Sangesregeln der Meister schützen sie. Insofern ist es gar nicht falsch, wenn sich die Leute gegen „den Fremden” wehren, das jedes Neue eben a u c h ist; zwar wollen sie ihn nach Fürsprache Pogners gerne aufnehmen, aber nur, wenn er sich den Regeln unterstellt. Schon hier ist Homokis Perspektive auf die Gegenwart deutlich, die eine Perspektive eben auch Richard Wagners war.
Um das nicht zu verkleben, beläßt Homoki es bei diesem Bühnenaufbau. Zwar, die Häuser lassen sich immer wieder um- und neuordnen; im Nachtchaos des Zweiten Aufzugs, Ende, fallen sie sogar um und bleiben so „durcheinander” auch bis zum Beginn des Aufzugs III liegen. Aber das hat nicht eigentlich eindrucksvolle, überfahrende Wirkung. Nie wird hier filmisch gedacht. Sondern Homoki versetzt Wagners Gesamtkunstwerk ins Labor des epischen Theaters, das er es erst im letzten Bild der Oper verlassen, woraus er es erlöse läßt: aber eben begleitet von Sachsens politischer Ansprache: man möge sich um Herrgottswillen seiner kulturellen Wurzeln versichern. Das ist ausdrücklich n i c h t nationalpolitisch gemeint. Da Homokis kammerspielhafte Auffassung der Meistersinger sowieso kein Über-Pathos erlaubt, wird plötzlich ein Gedanke neu diskutabel, den die linke politische Ideologie für lange Zeit, mit allerdings triftigem Grund, hatte für Deutschland tabuisieren lassen: was denn Identität der oder einer deutschen Kultur sei. Man muß aber nur Hans Sachsens Wort „welsch” gegen ein anderes austauschen, um zu verstehen, worum es tatsächlich immer noch oder wieder einmal geht:
zerfällt erst deutsches Volk und Reich,
in falscher wälscher Majestät
kein Fürst bald mehr sein Volk versteht,
und wälschen Dunst mit wälschem Tand
sie pflanzen uns in deutsches Land;
was deutsch und echt, wüsst’ keiner mehr,
lebt’s nicht in deutscher Meister Ehr’.
Drum sag’ ich euch:
ehrt eure deutschen Meister!
Dann bannt ihr gute Geister;
und gebt ihr ihrem Wirken Gunst,
zerging’ in Dunst
das heil’ge röm’sche Reich,
uns bliebe gleich
die heil’ge deutsche Kunst!
Es ist ausgesprochen mutig von Homoki, diese nach Hitler höchst heikle Stelle progressiv zu interpretieren. Er tut damit aber das Richtige: löst nämlich, was deutsch sei, von der Nationalstaatlichkeit ab; deutsch, in der Tat, waren Kulturen von Prag bis nach Frankreich hinein, politisch war es verheerend, aus dem Kulturraum eine staatseinheitliche Nation zu synthetisieren, zudem von oben delegiert. Worauf Sachs sich überdies bezieht, ist das Heilige Römische Reich deutscher Nationen, das mit dem, was wir nach 1871 Deutsches Reich nennen, wenig zu tun hat; sondern jenes ist recht eigentlich ein Wort für Europa gewesen. „Besinnt euch auf Europa und gebt es nicht her!” ruft bei Homoki Hans Sachs und meint die Künste damit, nicht die Staaten oder Streusand-Fürstentümer. „Wenn Ihr das nicht ehrt, verliert Ihr Euch selbst.”Nun ist es eben ein Nachteil des brechtschen Ansatzes, daß die in der Pappkulisse agierenden Figuren nie eigentlich wirklich Person werden können: bestenfalls werden es Typen. In Homokis Meistersingern haben sie vor allem im ersten Aufzug einiges von Schneewittchenzwergen. Das diskriminiert sie zwar nicht, sondern wir nehmen den vorgeführten Bürgern ihren Schmerz schon ab und die Lust, doch sind es eben Pappefiguren, die so fühlen: sozusagen fühlen sie didaktisch. Das Bühnengeschehen wird zum Bühnengeschehen-als-Minimundus, auf den wir wie in Legoland sehen. Brecht wollte das so für die Erkenntnis, er schrieb ein Kopf-Theater. Nicht aber Wagner.
Worauf nun Homoki setzt, und mit Recht: Sie, die Musik, reiße das Ganze heraus. Bei Wagner spielen sich seelische Vorgänge prinzipiell im Orchester ab. Deshalb geht Homokis Regiekonzept schließlich auch auf, wenngleich – möglicherweise war das so Absicht – erst in Aufzug III, und zwar vermittels eines bühnenbildlichen Tricks, den ich Ihnen eigentlich nicht verraten sollte. Doch sind gewiß schon Fotografien der Inszenierung im Umlauf… – also: Es kommt F a r b e hinein, auf die Häuser, in die Kostüme. Das genügt völlig, das Nürnberger Volk – und uns – die Bedrohung durch die technoide Umwelt-Architektur vergessen zu lassen, wenigstens für den Johannistag. Und die Meistersinger, das frappierte mich fast, die zuvor – nur Pogner nicht – etwas seltsam DDR-Proletarisches hatten, w e r d e n jetzt Leute von Stand, also der Zünfte, vor denen das „einfache” Volk einigen Respekt hat und von dem die Meistersinger, umgekehrt, bemüht sind, sich abzugrenzen. Wozu in Wagners Stück ganz nebenbei der alte Zwist von Form versus Populismus, der in der postmodernen Gleichschaltung von U und E zu den Akten behauptet wird, ständig mitdiskutiert wird. Auch insofern ist diese Oper auf widerständige Weise hochmodern – in Sachen „Länge” sowieso: Wagner stemmt sich, kann man sagen, gegen die Häppchenkultur. Er tat das auch als Zeitgenosse, der nicht bereit war, sich den vor allem Pariser Usançen zu beugen, Ballette in die Opern zu komponieren, damit die Leute, die sowieso erst zum zweiten Akt kamen, noch Zeit zum schwatzenden Repräsentieren hatten – zum Small Talk, sagen wir heute. In der Tat, auch heute: Gestern abend lichteten sich die vorher proppevollen Reihen sichtbar nach dem zweiten Aufzug. Doch wer da gegangen war, hatte erstens so wenig von der Kunst begriffen wie die einstigen Besucher-Beaux der Pariser Grand Opéra, und zweitens entging ihm die „Entschädigung”. Freilich hätte sich Homoki, den vielleicht selber Begeisterung mitriß, die zehnsekundenlange Allgemeinbegattungsszene sparen können, nämlich allein schon, weil sie in das mittelalterliche streng durchregulierte Kleinstadtleben in keiner Weise paßt. Der Johannistag ist kein Frühlingsopfer, nicht einmal fränkischer Fasching. Und wie „das Volk” die soziale Kontrolle verliert, hatte Homoki schon in der sowieso hinreißend komponierten Endszene des zweiten Aufzugs gezeigt, wo eben selbst die Häuser stürzen, die dann im dritten Aufzug, eines der eindrücklichst schönen Bilder, vor der Festwiese mittanzen.
Was diese Inszenierung vor vielen anderen Meistersinger-Versuchen auszeichnet? Nein, sie überglüht einen nicht, sondern geht auf Distanz zu jeder „Großen Bewegung”, die in der von Reißern und Ohrwürmern nur so durchsetzten Musik sehr angelegt und sowohl innerlich wie politisch gemeint ist. Aber die Inszenierung macht es sich auch nicht so einfach, in der Skepsis zu verharren oder gar ironisch oder hämisch herumzuulken. Sondern sie richtet ihren Blick auf ein Menschliches, wie es von Hans Sachs tatsächlich vertreten ist; dieses Menschliche ist, auch, sozial, w i l l also die Gemeinschaft, die er aufruft. Daß er dabei durchaus als Bewahrer eine Elite im Blick hat, schützt ebenso vor dem Kitsch wie sein Verständnis für das Neue, das zugleich einem natürlichen Verhältnis von alten zu neu entstehenden Dingen entspricht. Da ist Homoki die Quadratur eines Kreises gelungen – f a s t, denn der S c h w a n k treibt Schutzgeld bei ihm ein. Homokis Meistersinger ist nicht, wie Wagner anfangs gewollt hat, Komödie, sondern wird auf den epischen Oberschenkel, der feist ist, geschlagen. Anders als im Vorbild von Mozart bleibt der Witz wie von Schaustellern derb, die am Dorfe spielen. Einzig Beckmesser fällt da am Ende ein wenig heraus, wenn er und Hans Sachs, wie das Volk >>>> zum Weltenbrand bei Chereau, ratlos auf der leere Bühne verharren, und einsam. Sowie all jene Szenen, in denen die Menschen allein sind oder zu zweit. Dort denn funktioniert Homokis Meistersinger-als-Kammerstück auch als Studie und Psychologie. Und wird da der vergleichsweise kleinen Bühne der Komischen Oper Berlin auf eine sehr große Weise gerecht.
Richard Wagner . Die Meistersinger von Nürnberg
Komische Oper Berlin
Musikalische Leitung Patrick Lange, Inszenierung Andreas Homoki,
Bühnenbild Frank Philipp Schlößmann, KostümeChristine Mayer
Dramaturgie Werner Hintze, Chöre Robert Heimann, Licht Franck Evin.
Tómas Tómasson, Dimitry Ivashchenko, Christoph Schröter, Carsten Sabrowski,
Tom Erik Lie, Günter Papendell, Peter Renz, Ulrich Eißlinger, Stephan Spiewok,
Augustin Moser, Thomas Scheler, Karsten Küsters, Hans-Peter Scheidegger,
Hans-Martin Nau, Marco Jentzsch, Thomas Ebenstein, Ina Kringelborn,
Karolina Gumos und Jan Martinik.
Chor und Orchester der Komischen Oper Berlin.
Nächste Vorstellungen:
02., 09. Okt. 2010
07., 13., 27. Nov. 2010
12., 26. Dez. 2010
02., 17. Jul. 2011
Die Welschnuss Kann man eine Rezension unumschränkt gut finden, ohne die zugrundeliegende Inszenierung gesehen zu haben? In diesem Fall vielleicht doch: ja. Bleibt nur die Anmerkung, dass man das Wort “welsch”gar nicht unbedingt gegen ein anderes (welches übrigens?) austauschen muss, um Sachs’ Rede zu verstehen. Wo ich herkomme (Bayern), nennt man die Walnuss immer noch Welschnuss, und meint damit etwas Gutes, was uns von den Welschen hergekommen ist, nämlich die köstliche Walnuss. Wagners Dummheit war am Ende vielleicht nur die, dass er dachte, die Walnuss komme direkt von Walhall – weit gefehlt. Das Gegensatzpaar welsch=falsch versus deutsch=echt, ist also eine Dummheit, wie die Etymologie der Walnuss beweist. Dass man sich herrgottsakrament seiner kulturellen Wurzel versichern soll, bevor man loslegt, dass man gleichwohl porös sein soll für das Fremde und Andere und Neue, und dass die Kunst uns dennoch bleiben kann wenn der Staat niedergeht – das könnte die Botschaft der Meistersinger sein und wenn diese Inszenierung das schafft, ist sie gut. – – – Ich wäre allerdings nicht Herr Wolf, wenn ich nicht noch für Herrn Herbst merkerisch anmerkte, dass das Andere, Neue, Fremde auch Pop sein kann. Auch dieser welsche Tand ist nicht per se zu verdammen. Manchmal muss man mit Sachs sagen: im Lenz wohl muss es so sein…
@Herrn Wolf sans Welsch. Erst einmal, danke. Die Güte einer Kritik, die ihren Gegenstand liebt, läßt sich, glaube ich, daran ermessen, ob sie denjenigen, die sie lesen, ein Begehren danach in Kopf & Herz senkt, sich die Inszenierung selber anzusehen, bzw. ein Musikstück sich anzuhören, ein Buch ganz selber zu lesen.
Sie haben selbstverständlich recht mit der Bemerkung zu welsch, zu der historisch noch hinzuzufügen ist, daß dieses “falsch” besonders gegen Frankreich gemeint war; ursprünglich ist “welsch” wohl ein Wort für romanische Völker. Wagners Gebrauch durch Hans Sachs wird weniger mit dem zwei Jahre nach der Uraufführung der Meistersinger ausgebrochenen deutsch-französichen Krieg zu tun haben, spiegelt, denke ich, also nicht oder nicht so sehr eine deutsche Zeitstimmung, sondern dürfte mit seiner Abneigung gegen Pariser Opernsitten, gerade auch mit seiner Abneigung gegen Meyerbeer zu tun haben; imgrunde ist sein berüchtigtes “Das Judenthum in der Musik” gegen ihn gerichtet, der für den jungen Wagner aber kompositorisch ein deutliches Vorbild (“Vater”) gewesen ist. Man könnte seine Haltung so gesehen einen Vatermord nennen, zu dem sich dann eine ungute, weil antijüdisch ausgerichtete Kapitalismuskritik geschlagen hat, die Wagners Erlösungsrassismus noch zunehmend radikalisierte.
Wegen des Pops aber kann ich Ihnen nicht folgen. Denn das, was allgemein unter Pop verstanden wird, ist ja nun eben n i c h t s Neues, sondern ästhetisch sogar ein scharfer Regreß, sowohl was die Kompositionstechnik wie die transportierten “Philosophien”, ich meine jetzt Botschaften, anbelangt. Zudem befindet sich derzeit der Pop, nicht etwa die E-Musik, in der Position des Merkers; das läßt sich auf den Sitzungen der GEMA trefflich mitverfolgen. Keine Lobby ist in den künstlerischen Bereichen so stark wie die der Pop-Industie. Das reicht bis in die Feuilletons der Tageszeitungen hinein. Was kein Wunder ist, da doch unterdessen die große Mehrzahl aller Rezensenten vom Pop und nicht etwa von der E-Musik geprägt worden ist, ja auch kaum mehr vom Jazz, der eine Zwischenstellung einnimt.
Daß es auch im Bereich des Pops herausragende künstlerische Werke gibt, will ich dabei nicht bestreiten; nur sind diese nicht tatsächlich populär, im Gegenteil eher; ihre Urheber darben am Existenzminimum, sofern sie nicht anderweitig Brotjobs haben. Ich möchte hier, wie schon oft, betonen, daß für mich auch ein Großteil der sog. Klassischen Musik nicht etwa zur E-Musik, sondern ganz genauso zum Pop gehört.
Dann sind wir ja sowieso schon fast einer Meinung. Das Zugeständnis “daß es auch im Bereich des Pops herausragende künstlerische Werke gibt”, hatte ich so aus Ihrer Feder noch nicht gelesen, sondern eher das Gefühl gehabt, dass Sie alles, was sich einer E-Gitarre, eines Schlagzeugs und womöglich noch eines 4/4-Takts bedient, von vornherein ablehnen. In der Tat ist das Wort Pop irreführend. Vieles von dem, was ich unter den Begriff des Pop fallen lasse und für künstlerisch wertvoll erachte, ist tatsächlich nicht besonders populär. Das ist aber egal. Popularität darf meines Erachtens überhaupt kein Maßstab für den Wert von Kunst sein, weder so noch andersrum, weswegen ich eben auch immer diejenigen, die dezidiert nur das ganz Abseitige, Unpopuläre wertschätzen, im Verdacht habe, dass sie nicht objektiv an die Werke heran gehen, sondern bloß einem gewissen Außenseiterimage dienen, das sie für sich zurecht gelegt haben.Wer Beethovens Neunte nur deswegen ablehnt, weil sie in jedem deutschen Plattenschrank zu finden ist, ist genauso ein Narr, wie der, der nur mit den Charts geht, seien sie jetzt von KlassikRadio oder von Bayern3 erstellt. Und genauso wenig kann der Grad der handwerklichen Komplexität ein Maßstab für den Wert der Kunst sein, denke ich. Goethes “Ein Gleiches” ist doch ein irrsinniges Kunstwerk und gleichzeitig an Simplizität kaum zu überbieten, populär ist es obendrein, und behält doch, trotz aller Vielzitiertheit, sein Geheimnis. Das ist für mich das Tolle an der Kunst, dass es keine so leicht und schnell messbaren empirischen Daten gibt, die ihren wahren Wert bemessen können, womit wir wieder bei den Meistersingern wären: Sachs ist ja bereits im 1.Akt der Meinung, dass das Volk (ohne Regelkenntnis) das beste Lied prämieren solle, das wäre dann der Pop, und so geht ja die Oper auch aus: die Zustimmung der versammelten Masse zu Walthers Lied überzeugt schließlich auch die regelversessenen Meister. Und vor dem Hintergrund verstehe ich dann eben auch Sachs’ Schlussrede nicht als deutschnationale Verherrlichung, sondern als absolut begründete Aufforderung, man möge nun deswegen, weil einer schön gesungen hat, nicht die Ästhetikprofessoren verachten, die die Kunst in Theorie überführen.