Provence. Wolf von Niebelschütz ODER Die Kunst eines vollkommenen Satzes.

Da stehen die Alpen bis zum Knie im Meer, und aus ihrem Körper muß man die Küste fühlen, den Streifen Haut, den das Wasser umschmeichelt, von Castellane herauf muß man kommen und aus den Schluchten des Verdon, aus den Tälern mit ihren ungeheuren Schatten und ungeheuren Felsformationen, über Pässe, die höher sind als in Deutschland der Brocken, elfhundert, zwölfhundert Meter, über Hochmoore und Schotterhänge, zwischen denen in Schweiß und Selbstverleugnung ein Feld Lavendel bebaut wird und Bienenkästen wie in der griechischen Einöde von Delphi stehen, man muß die verlassenen Dörfer gesehen haben, die freiwilligen Ruinen auf den Plateaux de Lure, der Vaucluse und des Laubéron, mächtigen, kahlen Stöcken, die wie tote Walfische aus Stein in der Landschaft liegen und höher sind als der Schwarzwald, oder die Ockerbrüche bei Apt und bei Roussillon, wo die Flanken der Berge unter dünner Grasnarbe angeschlitzt sind und weithin in allen Brechungen des Rotspektrums leuchten, aber es ist kein lächelndes, ein tief melancholisches, ergreifendes Leuchten, oder die aus Steinen im Rund getürmten und mit Steinen geschlossenen Hütten der Hirten und Feldleute, die „Bôris”, Sinnbilder eines harten, klaglosen Lebens für ein paar Francs Ertrag – das alles muß man gestreift und „herzenein” genommen haben, um die Provence begreifen zu können als das, was sie ist: den hingekneteten Rohentwurf zu einer Landschaft par excellence, zu einem Kompendium des Landschaftsbegriffes überhaupt, zum Kompendiösesten, was es an Landschaft gibt.
Wolf von Niebelschütz, Provence, 1956.

So daß wir begreifen, wie aus der Landschaft heraus >>>> Die Kinder der Finsternis nicht nur entworfen, nein, b e g r ü n d e t wurden: jeder Character, jedes Geschehen in diesem Buch hat hier seinen Ursprung; sie sind miteinander verbunden wie in der zitierten Beschreibung die Sätze, Nebensätze und Rhythmen zu dem Gewebe eines einzigen Satzes.

27 thoughts on “Provence. Wolf von Niebelschütz ODER Die Kunst eines vollkommenen Satzes.

  1. Eine wunderbar poetische Landschaftsbeschreibung, wie ich sie lange nicht mehr gelesen habe.
    Vor dem geistigen Auge steigen die beschriebenen Orte und Landschaften auf… Merci für den Link und Ihren Besuch bei mir, lieber ANH, das Niebelschütz-Buch hab ich mir notiert.
    Herzlich
    Teresa

    1. @Teresa HzW. Schön, Sie weiterhin unter meinen Leserinnen zu wissen, auch wenn Sie >>>> Ihr eigenes Weblog jetzt sicher sehr beschäftigt und Ihre von mir sehr geschätzten Kommentare hier eher selten geworden sind. Ich kenne das Problem gut. Ist man in den eigenen Arbeitsabläufen leidenschaftlich drin, bleibt oft wenig Zeit, um nach nebenan zu schauen. Ich mache mich deshalb ja selbst anderswo recht rar. Allerdings gibt es andersläufige Anfallszeiten.

    2. @ANH Oh, eben entdecke ich diesen Kommentar von Ihnen, lieber ANH, und es ist, wie Sie schreiben, ein eigenes Blog ist ein sehr gefräßiges Wesen, das ständig neue Nahrung fordert, die es zu “beschaffen” gilt.
      Die TREUE, die halte ich Ihnen, als “lautlose” Leserin sowieso… Ich las im Sommer mit großer Begeisterung Ihre Einträge über die Reise nach Paris… und freue mich auf das Buch, das darüber/daraus erscheinen wird.
      Mit einem eigenen Blog wird es auf die Dauer nur schwierig, allen gerecht zu werden und überall gleichzeitig zu kommentieren, schaffe ich nicht, zumal es neben dem Blog den eigenen Weinberg des Lebens gibt, der – zwecks Broterwerb(oder sollte ich besser sagen: Weinertrag) – im Lauf der Jahreszeiten [in unterschiedlicher Intensität] zu bestellen ist. Also versuche ich es reih herum mit meinen Kommentierungs-Besuchen 😉
      Über Ihren Abstecher in mein Blog habe ich mich, ebenfalls, sehr gefreut!
      Herzlich
      Teresa

    3. Liebe Teresa, das Problem ist mir ja völlig bewußt, zumal gerade ich zu denjenigen gehöre, die die Blogosphäre außerhalb der eigenen Arbeit kaum bereichern. “Weinertrag” bedeutet: Sie sind Winzerin? Oder muß ich das, was ich bedauerte, rein metaphorisch verstehen?

    4. Erklär‘ mir Niebelschütz! Lieber Herr Herbst!

      Ich bin verblüfft. Ein Ritterroman. Ich fühle mich wie Don Quichotte. So der Eindruck der ersten Seiten. Zwar eine phantastische Sprache: Alte, veraltete, längst vergessene Begrifflichkeiten; ungewöhnlicher, zur Aufmerksamkeit zwingender, dynamisierender Satzbau (anders, aber ähnlich unkonventionell strukturiert wie bei Johnson oder Herbst); klarer, in Kapitel gegliederter Aufbau mit sinnhaften Kapitelüberschriften, alle Kapitel bisher nicht zu lang, wie überhaupt das Werk mit gut 500 Seiten überschaubar, bezwingbar erscheint.

      Aber: Eine Geschichte aus dem 12. Jahrhundert mit Hirten und Bischöfen, Lehnsherren, Furten, tapferen Kriegern, edlen Rittern, Einfall der Araber in Südspanien. Nicht Grimmelshausen. Erinnert mich eher an den Kitsch der jungen Jugendjahre: „Das Sarazenenschwert“ von Frank Yerby. Im besten Sinne vielleicht ein historischer Roman. Bernd F. Lunkewitz hätte das gemocht und verlegt. Niebelschützens Verlag brachte dieses Werk nämlich 1959 heraus. Zeitgleich also mit Johnsons „Mutmaßungen über Jakob“ und Grass‘ „Blechtrommel“. Und s o wie die letztgenannten stellt man sich ja eigentlich moderne Literatur vor. Andere Themen, andere Sprache. Ich bin verblüfft.

      Das Buch hätte ich nie angefangen zu lesen, wenn nicht Alban Nikolai Herbst es nicht im Blog von „Unendlicher Spaß“ genannt hätte. In einem Streit mit dem Literaturkritiker Elmar Krekeler darüber, ob es im deutschen Sprachraum vor Erscheinen des Wallace-Romans und vor „Der Turm“ und „2666“ „großmütige Literatur“ gegeben hätte. Das hatte Herr Krekeler nämlich verneint. Und ANH, mit seinem aus „DieDschungel“ bekannten Furor, hatte eine Gegenliste solch „großmütiger Literatur“ aufgestellt, auf der u.a. und neben seinem eigenen „Wolpertinger“ (zu Recht: Ein großartiges Buch!) auch Niebelschütz stand.

      Trotzdem bin ich auch inhaltlich ein bisschen irritiert. Es ist in dem Roman nach m e i n e m Eindruck (!) sehr dezidiert aus einer sich scheinbar über andere erhebenden Erzählerperspektive heraus von „Mohren“, „Juden“, „ Goijs“ die Rede. Da zucke ich zunächst. Ich vermute, es ist Ausdruck der Haltung der Leute um 1120 nach Christi. Kein hohes Mittelalter, keine Renaissance, keine Aufklärung, keine Menschenrechte, keine französische Revolution, keine nationalsozialistischen Verbrechen, kein 20. Juli, keine Demokratie, kein Grundgesetz. „Juden“ tragen einen „gelben (!) Hut“ und sind Geldverleiher, „Mohren“ sind die in Europa einfallenden Wilden, die den Weißen die Kehlen durchschneiden. Ich zucke und zögere. Mal vorsichtig sehen, wie das weiter geht …

      NO

      Anmerkungen zur Lektüre von Wolf v. Niebelschütz: „Kinder der Finsternis“

    5. @Dr. No zu den Kindern der Finsternis. Nein, lieber Dr. No, das hätte Lunkewitz ganz sicher nicht getan, aus verschiedenen Gründen, zu denen aber gerade auch die hohe Literarizität dieses Romanes gehört; er ist kein “Unterhaltungs”roman, wenngleich er durchaus – auch – unterhält. Aber gegen den Strich.

      Nur ein paar Kleinigkeiten zu Ihren Bemerkungen, damit Niebelschützens Perspektive klarwird. Es kann nicht um politische oder sonstige Korrektheit gehen, freilich aber um Menschlichkeit. Wobei sie das ist oder zeigen sein sollte, was darunter im “Spiel”feld des Romans, sowohl der Zeit wie des Raumes, verstanden werden kann – ohne eben, daß ein Autor hier selbst den Finger hebt. Die Schärfe der Perspektive wird klar – darauf wies ich an anderer Stelle kurz hin -, wenn man die von Niebelschütz gewählte Bezeichnung für ausgerechnet diesen Text nicht lapidar oder als Ironie, sondern wörtlich nimmt: Märchen. Das Archetypische wird dann nämlich klar, daß der Roman mit den meisten Märchen teilt; auch ein Archetypisches des Grausamen, von dem w i r ja immer nur meinen, es sei überwunden. Der Balkan hat uns anderes gelehrt, und was derzeit auf von deutschen Soldaten in Afghanistan getan wird, darüber können wir nur glauben – oder eben nicht. Was Niebelschütz versucht, denke ich, und was ihm in weltliterarischem Format gelungen ist, das denke ich eben auch, das ist, wie diese Figuren aus sich selber heraus ihr Leben gewinnen, und zwar aus dem Boden, den sie bearbeiten, aus dem Sturm, gegen den sie sich schützen, und aus der – empfundenen – Fatalität. Noch funktioniert auch die heidnische Beschwörung: einige Szenen um Maitagonny verdeutlichen das fast wie Schocks. Man kommt aus der – eben: empfundenen – Gottgewolltheit nur vermittels List heraus und/oder, wie Barral das vorführt, mit einer fast schon barbarischen Kraft. Das genau spiegelt sich in N’s Sprache, die meines Wissens nur noch ein einziges Pendant hat: nämlich in Döblins “Berge, Meere und Giganten”, einem Romanungeheuer, dem man ganz ähnliche Vorwürfe machen kann und wohl auch gemacht hat. Auch dessen Roman gehört, weit weit höher einzuschätzen als der Alexanderplatz, zu den großen Dichtungen des deutschen Sprachraums im 20. Jahrhundert.
      Die Perspektive, die Niebelschütz wählt, ist nahezu ausschließlich diejenige Kelguriens (N’s Fiktionalisierung der troubadourischen Provence) und seiner Bewohner, seien es Bauern, nämlich Leibeigene, seien es die bestimmenden Familienclans, bzw. Sippen. Selbstverständlich werden von denen, und zwar, je ohnmächtiger sie sind, die einfallenden Araber, bzw. Mauren (“Mohren”: das Wort war gebräuchlich) als einfallende Wilde angesehen, so, wie die Wikinger in ganz Nordeuropa bis nach Paris oder die Hunnen in Mitteleuropa usw. Daß umgekehrt die in Palästina einfallenden christlichen Horden ganz genauso als einfallende Wilde angesehen wurden, ist wohl ausgemacht, darf aber eben in diesem Roman seiner perspektischen Einheit wegen gar nicht erwähnt werden; würde es das, wir hätten es mit einem pädagogischen Text zu tun, der ohne jede Wirkung aus jener der sowieso-Zustimmung bliebe. Ja, Niebelschütz darf solche Aussagen nicht einmal als Rollenprosa treffen, sondern sie müssen die Prosa selber auch s e i n.

      Damit meine Antwort nicht zu lang wird, nur noch eine Kleinigkeit: daß N den Juden einen gelben Hut tragen läßt – es ist ein Spitzhut – liegt schlicht daran, daß solch ein Hut für Juden vorgeschrieben war. Sie werden, lieber Dr. No, noch lesen, welch eine Rolle mit welchen Entwicklungen der jüdische Kaufmann bei Niebelschütz innerhat; ebenso werden die “Mohrenhorden” ausgesprochen deutlich dadurch relativiert, daß N keinen Zweifel darüber läßt, w e r hier auf höherer zivilisatorischer Entwicklung steht. Auch Barral erkennt das. Daß sich ein Pakt mit dem hilfreichen Mirsalon nur dadurch aufrechterhalten läßt, daß Barral einen Scheinkrieg mit ihm führt, sagt mehr über die politischen und menschlichen Umstände als jede äußerliche Erklärung.

    6. Erklär‘ mir Niebelschütz Lieber ANH, takk for sist!

      Kurze Erläuterung vorab: Meine Lektüre-Kommentare sind spontan. Sie erfolgen direkt nach Beendigung eines Leseabschnitts unter dessen konkretem Eindruck. Oder es bricht etwas aus, was länger schwelte. Ganz ungefiltert. Ganz Gefühl. Ich versuche, alles andere auszublenden. Auch Ihre Erläuterungen und Kommentare hier und anderswo. Mit denen kann ich mich ja gesondert auseinandersetzen. Hier jetzt.

      Wohl gemerkt: Die Finsterniskinder gefallen mir und ich werde wohl auch den Kammerherrn kaufen. Aber ich lese diesen Roman bisher als Unterhaltung – mit dem Strich. Sie halten Niebelschütz für einen großen Schriftsteller. Das interessiert mich, das versuche ich zu verstehen. Es fällt mir schwer. Ich lese Ihre Erläuterungen, aber es fällt mir trotzdem schwer.

      Zur „Menschlichkeit“:

      Das Setting des Romans ist finsteres Mittelalter und die Figuren notwendig grausame Bauern. Okay, in d i e s e m Umfeld ist Barral quasi Humanist: Gleichberechtigung der Frau; multikulturelle Offenheit; fürsorgender Vater, Ehemann und Liebhaber; verlässlicher Freund und treuer Soldat; modernen Methoden gegenüber aufgeschlossen. Dort, wo er jemanden zum Tode verurteilen könnte, lässt er es mit ein paar Backpfeifen bewenden und alle das Gesicht wahren.

      Aber ist das jetzt die message? Und wenn ja, macht das große Literatur aus? Warum sollte ich das lesen, wenn es nicht eine höchst spannende Rittergeschichte wäre?

      Zu. „Aus sich selbst heraus ihr Leben gewinnen“.

      Das tun die Figuren. Sagen Sie. Durch Überwindung der Gottgewolltheit (Fatalität, Kismet) vermittels List oder barbarischer Kraft. Was heißt das?

      „Aus sich selbst heraus ihr Leben gewinnen“ – ich mag diese Formulierung. Ich mag sie, weil es dem entspricht, was man, so finde ich, versuchen muss im Leben. Aber „aus dem Boden“? Ich weiß einige Beispielsstellen, welche Sie meinen und suche sie noch heraus. Ist faszinierend! Aber sinnhaft? Literatur?

      Danke noch einmal für die bisherige Erklärung und

      Beste Grüße

      NO

    7. Erklär‘ mir Niebelschütz Nach rd. 150 Seiten (ca. 30 % des Buches) hat sich nicht viel geändert. Eine großartige Rittergeschichte in beeindruckender Sprache! Macht Spaß und strengt nicht an.

      Die inhaltlichen Bedenken haben sich bei den Mohren etwas gelegt: Die Hauptperson ist selber fast dunkelhäutig und das überlegene Wissen der Sarazenen wird ebenso ausgebreitet wie deren Edelmut. Das ist wie die Winnetou-Darstellung bei Karl May. Insofern gilt für das Buch:

      Schenke ich meinem Patenkind demnächst, dann liest der auch einmal etwas Vernünftiges!

      Das Judenbild dagegen ist immer noch bedenklich tendenziös. Mit der Veranschaulichung der allgemeinen Haltung in damaliger Zeit allein ist das nicht zu entschuldigen, es fehlt nämlich die ab- bzw. aufgeklärte Korrektur des Erzählers oder eines Protagonisten als Kontrapunkt, als Maß, als Korrektur, als political correctness.

      Okay, aber ANH hat ja schon erläutert, dass es nicht um correctness geht. Nicht gehen kann. Aber wie unterscheide ich zwischen literarischer Notwendigkeit und unkorrekten (intolerablen) Haltungen/Einstellungen?

      NO

      Anmerkungen zur Lektüre von Wolf v. Niebelschütz: „Kinder der Finsternis“

    8. Erkär‘ mir Niebelschütz Lieber Alban Nikolai Herbst,

      Ich komme zurück auf Ihren Kommentar vom 26. Oktober (oben): Die Figuren gewinnen ihr Leben „aus dem B o d e n, den sie bearbeiten …und aus der empfundenen Fatalität“; „heidnische Beschwörungen“, Entkommen aus der Gottgewolltheit durch List.

      Sie meinen Szenen wie die Zeugung der Tochter Ghissi: Barral gießt in seinem Lehensort Ghissi mit Wein einen Kreis, eine Bannmeile, um die innersten Häuser, ringt in einem symbolisch-mythischen Kampf den Stärksten, einen Schmied nieder, beschläft dann innerhalb des Weinkreises eine vom Dorf Auserwählte, die Dorfschönste Maitagorry, verheiratet sie mit dem Schmied und neun Monate später wird mit Graziella die „Tochter Ghissi“ geboren (Barral auf S. 204 ff):

      „Mit acht Jahren schwor ich, die Ödnis Ghissi soll leben durch mich.“ ……. Nackt im tanzenden Feuerschein rangen sie. Nackt trat Maitagorry auf die Schwelle ihres Hauses. Barral warf den Schmied. Breitbeinig kniete er über ihm. Breitbeinig stand er auf … „Heraus aus meinem Kreis! Der Herr über Ghissi zeugt ein Kind aus seiner Erde. Komm, Erde Ghissi!“ … Maitagorry … ging in seine Arme und lag auf dem Kirchplatz.“

      Das hat etwas. Etwas ganz eigenes. Aber ich verstehe es schwer. Und frage mich: Ist das Literatur und warum?

      Noch einmal zur political correctness: Ich weiß schon, was Sie meinen, wenn Sie kommentieren, es ginge nicht um Korrektheit. Ich weiß nur nicht, ob das so stimmt. Ich habe eine nicht uninteressante Besprechung des Buches gefunden und stelle zu unserem Thema einmal einen Passus ein:

      „Mit heutigem Politikverständnis und heutiger Moral ist diese Welt nicht zu begreifen, auch nicht mit den Darstellungen hochmittelalterlicher Gesellschaften, wie man sie aus handelsüblichen historischen Romanen kennt. Barral ist ein “guter” Herr, er sorgt für seine Leute, begreift sich selbst als “Bauer” im besten Sinne, der will, dass sein Land blüht, gedeiht und aus Kriegen herausgehalten wird. Dennoch ist er Teil der unglaublichen Brutalität und Willkür dieser Zeit, er bestraft und mordet aus Kalkül, er widmet sich sehr berechnend dynastischen Ränkespielen, glaubt aber auch an die Macht der kirchlichen Sakramente ebenso wie an die der archaischen Naturmagie. Die Willkür und Ignoranz mancher Entscheidungen ist für den modernen Leser oft schwer nachvollziehbar und wird durch die farbenprächtige, tiefgehende Einführung in die mitteleuropäische und maurische Kultur mit all ihren kulturellen, sozialen und religiösen Konflikten doch plausibel gemacht; nur so ist beispielsweise verständlich, warum Barral sich schließlich sogar aus eigenem Willen der Folter der Inquisition ergibt.“

      Was halten Sie denn davon?

      Noch ein Wort zum Archetypischen:

      Ich lese in der ersten Auflage des Diederichs-Verlags von 1959. Da steht von „Märchen“ kein Wort. Aber auch hier verstehe ich, was Sie meinen: Leben und Sterben in Kelgurien: Frauen gebären, von vielen Vätern, viele Kinder in diesem Roman – und ebenso viele sterben wieder oder kommen tot oder als Fehlgeburten auf die Welt. Die Mütter trauern (und die Väter ein bisschen) – und dann geht das Leben weiter. Schicksale werden klaglos getragen. Man findet sich ab, akzeptiert. Haltung!

      NO

      Anmerkungen zur Lektüre von Wolf v. Niebelschütz: „Kinder der Finsternis“

    9. @Dr. No. Die Antwort gaben sie sich selbst. Und frage mich: Ist das Literatur und warum?Ihre Antwort:in beeindruckender SpracheWas sonst zeichnete Literatur aus? Wobei es hier nicht nur die Sprache, sondern auch die Konstruktion ist. Ist Célines, ich kann mich da nur wiederholen, Reise ans Ende der Nacht seines Rassismusses wegen k e i n e Literatur? Und die Pisaner Cantos wären es ebensowenig?

      “Und dann geht das Leben weiter.” Eben. Ich kenne kein Buch sonst, daß dieses derart unerbittlich jemals dargestellt hätte und immer noch Ja sagt zum Leben. Und wegen der Rolle des Juden: warten Sie ab, warten Sie ab. (Tun Sie aber eh. Das Buch h a t Sie schon.)

      Noch etwas zum Märchen. Wenn Sie die hinteren Seiten durchschlagen und die Stammbäume finden, dann steht dort drunter:

      Märchen bedürfen keines Stanmbaumes; Personarien verraten wenig über das Leben der Figuren; ohne Spannung steht das Unwesentliche neben dem Wesentlichen, scheinbar verwirrend. Die Beigabe dient ausdrücklich nur denjenigen, deren Lektüre unterbrochen wurde: als Hilfe zur Rückerinnerung, nicht zum Vorauseilen. Besser ist es, dem Spiel frischen Sinnes zu folgen, als sich ängstlich zu vergewissern.
      Wolf v. Niebelschütz

      Allein diese kleine, im Ton fast mozartsche Beigabe zu einem ausgerechnet solchen Roman birgt eine ganze Poetologie.

    10. Erklär’ mir Niebelschütz Ist das Literatur?

      Auf S. 183 angelangt. Unverändert: Das Buch ist klasse.

      Höchst fesselnd:

      Eine gradlinig erzählte Rittergeschichte mit rotem Faden und klarem Helden. So spannennd zuweilen, man mag an manchen Stellen das Buch kaum weglegen, beispielsweise beim Zweikampf zwischen Sarazenenfürst und Markgraf oder beim nächtlichen Schutz der Schönen vor einem Vergewaltiger-Edelmann.

      Höchst informativ:

      Ritterlichkeit, Minnegesang, Turnierkämpfe, Burgleben, Kirchenkonflikte, mittelalterliches Städtewesen, Inquisition, Araber, Ackerbau, Vermischung der Kulturen. Und eine große Sprache! Wortmächtige, anschauungsstarke Beschreibungen, rhythmische, dynamische Sätze, elegantes, anspruchsvolles Erzählniveau, gelehrtes, altes Vokabular.

      Aber Literatur?

      Jedenfalls nicht die Literatur, als die wir „moderne“ Bücher jener Zeit zu kennen glauben, nicht die Literatur, die wir aus der Schule kennen. Keine kargen Geschichten im lakonischen Ton der Trümmerliteratur wie bei Heinrich Böll; zwar saftiges, plastisches Erzählen wie in der „Blechtrommel“, aber ohne deren Symbolik, ohne die Verfremdung von Grass, keine sozialkritische Haltung, ohne Grass‘ Sprachexperimente; keine (vermeintlich) „modernen“ Themen der zwei Deutschlands wie bei Johnson „Mutmaßungen“ oder des „Ich bin nicht Stiller“ wie bei Max Frisch; keine Beschreibung der gegenwärtigen Welt wie bei Martin Walser („Ehen in Phillipsburg“) – auch alles Werke, die (um) 1959 erschienen sind. Aber auch per heute sieht es meines Erachtens nicht anders aus. „Die Kinder der Finsternis“ wirken – zunächst einmal – harmlos und veraltet neben „2666“, „Unendlicher Spaß“ und „Wolpertinger“.

      Also: Ist das Literatur?

      Wenn jemand wie Alban Nikolai Herbst über Autor und Buch und Werk veröffentlicht, ist die Antwort klar. Aber warum ist der Text gut? Bisher bleibt mir als Erklärung nur die Sprache, also das Vokabular und vor allem der Rhythmus der Sätze.

      Schon in der Anfangspassage:

      „Es lag ein Bischof tot in einer Mur am Zederngebirge fünf Stunden schon unter strömenden Wolkenbrüchen. Die Mur war hinabgemalmt mit ihm und seinem Karren und seinen Maultieren und seiner Geliebten, unter ihm fort, über ihn hin als schmettere das Erdreich ihn in den Schlund der Hölle, kurz vor Anbruch der Nacht.“

      wird das deutlich für mich:

      – Der Satzbeginn „Es lag ein Bischof“ ist ja völlig ungewöhnlich für deutschen Sprachstil, am ehesten kennt man das noch von dem „Es war einmal“ aus dem Märchen – und soll daran vielleicht auch erinnern: Ein Märchen in (oder: trotz) moderner Zeit. Vor allem aber werde ich durch diese Struktur des Satzbeginns so unvermittelt in das Geschehen geschmissen, dass ich sofort das Gefühl habe, ich sitze da auch und für mich persönlich sind die 5 Stunden gerade an meinem Auge vorbeigezogen. Und m.E. sieht man dann in den Folgesätzen auch, dass das auch genauso beabsichtigt war, denn da hatte tatsächlich jemand 5 Stunden zugeguckt. Für mich ist die Gestaltung des Satzanfangs ein toller Hineinschleuder-Effekt, der aber nicht anhält, weil ich auch gleich wieder abgebremst werde, denn ich muss beim Weiterlesen mir schnell parallel altes Vokabular überlegen, was war `mal gleich noch eine „Mur“?

      – Dann dieses „fünf Stunden schon“ ist so schräg in den Satz eingepasst, wie man das normalerweise nicht machen bzw. erwarten würde. Und entweder „strömender Regen“ oder „Wolkenbrüche“ eigentlich, oder? Eigentlich (also geläufigen Regeln wie: Ort vor Zeit, Subjekt-Verb-Prädikat-Objekt u.ä.) müsste der Satz bei normalem Bau doch etwa lauten: „Ein Bischof lag in strömenden Regen schon fünf Stunden tot in einer Mur am Zederngebirge.“ Tut er aber nicht. Vielmehr erfährt er durch Umgestaltung einen Rhythmus, eine Dynamik, eine Aussage, eine Wucht – das ist, finde ich, schon Kunst.

      – Und ein Gleiches mit dem „kurz vor Anbruch der Nacht“ am Ende des zweiten Satzes. Kunst!

      Literatur?!?!!

      NO

      Anmerkungen zu Lektüreeindrücken von Niebelschütz: Kinder der Finsternis

    11. @ no; das scheint jetzt aber doch recht merkwürdig, no? Sie konstatieren “kunst” und fragen nach “literatur”. wie denn das? diese paarung kenne ich normalerweise nur umgekehrt: literatur ja (sprich: etwas, das aus lettern besteht), kunst aber nein?

      wonach fragen Sie eigentlich, wenn Sie nach literatur fragen?

      fragt, mit allerheiligsten grüßen,

      aikmaier

    12. Erklär’ mir Niebelschütz Jetzt hat mich das Buch – schon lange. Bin auf S. 302! Ungemein spannend:

      Sex und Gewalt, Liebesgeschichte, Kirche gegen Kaiser, verrinnende Zeit, überlege Kultur der Fremden, Kultivierung von Ödland, ausgestoßene Mörder und Bekehrung, Zucht; Tod und Sterben auch von in der Lektüre lieb gewonnen Helden und Damen. Ein buntes Epos, ein Märchen aus alter Zeit, eine Saga von Familien und vom Reifen eines Landes. Kurz (wie alle gute Erzählliteratur): Eine Geschichte von Liebe und Finsternis.

      Gute Literatur ist auch, wenn man nicht mehr aufhören kann weiter zu lesen. Ich habe es schon öfter erzählt (aber sie gefällt mir wegen ihrer Anschaulichkeit einfach so gut) – die Geschichte des Prüflings Oscar Wilde, der im Examen einen Textauszug zwecks späterer Interpretation vorzulesen hatte und auf das mehrfache „es ist genug“ des Prüfers schließlich verärgert antwortete, man möge ihn beim Vorlesen jetzt nicht unterbrechen, er wolle wissen, wie die Geschichte weiter ginge.

      Und die Sprache! Diese Sprache Niebelschützens. Immer wieder diese Sprache. Gerade besonders beeindruckt bin ich, wie Niebelschütz in quasi abgehackten Dialogen enorme Geschwindigkeiten erzeugen kann. Ein Beispiel, in welchem der Held Barral, „Dachs“ genannt, gesucht wird, um sich mit dem Markgrafen zu besprechen (S. 184):

      „Ich schicke Euch den Dachs“. Er fand ihn beklommen. „Dachs: Zum Grafen!“ – Barral trat ein. – „Was hast Du mir zu sagen“, fragte Dom Peregrin leidend. „Nichts.“

      Oder der Rhythmus der Sätze, ihre gedichtähnliche Komposition (S. 184):

      „Bedanke Dich bei Dom Carl, daß ich wenig gebe, bei Sartena, daß es mehr ist, als ich sonst gegeben hätte.“

      Oder diese merk-würdige Stilfigur (ich weiß nicht, wie sie heißt), bei der appositionsgleich eine Begrifflichkeit, nicht ein Relativsatz, an den Anfang gestellt wird, der eine gesamte, ansonsten umständliche Beschreibung ersetzt. In dem einen Beispiel gleitet der Held gewandt wie ein Marlin oder Hecht in einen Fluss, um einen Toten zu bergen (S. 190):

      „Ein Raubfisch, fuhr er ins Wasser, schnitt die verklammerten Finger des hageren Sartena-Oheims oberhalb des Hermelinkragen vom Hals des Erwürgten und tauchte auf.“.

      In einem anderen Beispiel die Beschreibung einer Geierart, die, obwohl Aasfresser, auch wehrlose Lebende anfallen (S. 189):

      „Die Milane kümmerten sich nicht um Unterschiede. Aasvögel, hackten sie auch in pulsende Todesnot.“

      Eindrucksvoll! Finde ich.

      NO

      Anmerkungen zur Lektüreerfahrung von “Kinder der Finsternis” (Wolf von Niebelschütz)

    13. Erklär’ mir Niebelschütz Auf S. 442 angekommen. Hin und her gerissen. Sehr spannend nach wie vor, beeindruckende Sprache nach wie vor. Aber in dem Maße, wie deren beider Glanz durch Gewöhnung abstumpft, kommen wieder kritische Fragen. Die Fragen nach Antisemitismus und nach Kitsch.

      Vor allem das Judenthema, nach wie vor. Eigentlich geht das so nicht:

      „Wie sind die Summen? jüdisch? christlich?“ Sie waren schlimmer als jüdisch. „Ein Jude, Herr Abt, würde sich schämen. Von einem Pabst erwarte ich das nicht.“ (S. 402)
      – so beim Feilschen um die Lösung von Gütern aus Pfandhaft.

      „Zäh wie ein Jude“, sagte der Kardinalpräfekt … als ihm der Kardinalkanzler … den Stand schilderte“ (S. 409)
      – so bei den Verhandlungen des geächteten Helden mit der Kirche.

      Es mag dafür Erklärungen, Theorien, was auch immer geben, aber mir gefällt das ganz und gar nicht. Für mich klingt das antisemitisch. Und zwar ungeschützt. Es sind nicht nur Figuren, die so reden, sondern auch der Erzähler. Ohne Absicherung, ohne Kontrapunkt, ohne Relativierung, soweit ich erkennen kann – wenn man einmal davon absieht, dass der einzige Jude, welcher in dem Roman überhaupt vorkommt, Jared, außerordentlich sympathisch gezeichnet ist, zum Helden wird und dem Romanhelden Barral, unbestrittene Hauptfigur, Freund und Helfer ist.

      Ich selber für mich weiß, wie ich damit umzugehen habe, kann das einordnen, dann ausblenden und den Roman im Übrigen genießen. Ich bin ein großer Junge. Aber können die kleinen das auch? Sehr zweifelhaft, und deswegen schenke ich das Buch vielleicht doch noch nicht meinem Patentkind. Nicht bevor er, wie ich ja auch, sich mit den geschichtlichen Tatsachen über Antisemitismus in der Welt und über alle Zeiten vertraut machen konnte, nicht bevor er in der Schule über Nationalsozialismus und Auschwitz unterrichtet wurde, nicht bevor er in England die Nazi-Comics über die Deutschen gesehen hat und von amerikanischen Freunden (die einen ja als „Erklärer“ sehen, vielleicht sogar mehr) nach Hitler und nach Judenverfolgungen befragt wird, nicht bevor er Jonathan Littels schreckliche „Wohlgesinnten“ und Ruth Klügers fürchterliche Konzentrationslagerberichte in „Weiter Leben“ gelesen hat, nicht bevor er in Yad Vashem nicht Deutsch laut sprechen mochte vor Scham.

      Okay, viel mehr als diese beiden o.a. Stellen habe ich bisher in dem Roman nicht als bedenklich identifiziert. Einverstanden, das sind klitzekleine Geschehenisse am Rande, der Roman handelt nicht vom Antisemitismus, keineswegs, es ist eigentlich nur eine gute, tolle Rittergeschichte. Aber trotzdem.

      Hinzu kommt, jetzt, wo ich mich nun in Rage geschrieben habe, auch der Vorwurf einzelne kitschiger Züge und Stellen:

      Der Held Barral ist der Größte, er haut alle Gegner um, seine Knechte lieben ihn, alle Frauen werden schwach, er ist einfach der Größte, ein Lassiter der Ritterzeit. Ich bin gespannt, wie Melusine dieses Männerbild findet. Und wie das dazu passende Frauenbild, das der wild und ewig und feurig Liebenden, alle anderweitig verheiratet, aber „Barrali“ im Herzen treu und ansonsten hörig. Ich darf einmal zitieren, wie eine der innigsten Geliebten einem Mädchen einflüstern will, sich ihm, den ja eigentlich von ihr, der Flüsternden, geliebten, aber sie ist ja nun zu alt, sich ihm, dem Alternden und verletzt mit dem Tode Kämpfenden, dem Helden, hinzugeben:

      „Ihr liebt ihn, Fräulein, einen Mann wie Mon Dom trefft ihr einmal im Leben, ein einziges Mal laßt ihr ihn sterben, und bis ans Grab zermartert Ihr Euch mit Vorwürfen. Wer sind denn wir? gegen ihn?“ (S. 427/428).

      Dieses Schmachtstück hätte Frank Yerby in meinem alten „Sarazenenschwert“ nicht schlechter hingekriegt.

      Aber, aber – und das macht das Urteil eben so schwierig – es gibt eben auch diese anderen Stellen. Einige sind schon zitiert. Hier kommt mehr:

      Es gibt eben auch diese Mischung aus Erzählgeschwindigkeit und völliger Leserüberraschung, wenn ein (guter) Kardinal sich vor die (böse) Inquisition wirft und Niebelschütz dann in unnachahmlich genialer Manier mit zwei, drei skizzenhaften Sätzen ganze Epen erzählt, nämlich von der flammenden Rede des Inquisitors, von deren rhetorisch meisterhaftem Aufbau, und wie zwischendurch eine störende Taube beim Herumfliegen nach mehreren Fehlschüssen endlich mit einem Pfeil getroffen wird, aber am Ende, wenn der Leser nägelkauend auf die Entscheidung des Kardinals wartet nach dieser Rede des Inquisitors, heißt es:

      „ … ein oratorisches Meisterwerk, das den Unterwürfigen … nicht rühren konnte, denn er war tot“ (S. 413).

      Diese Mischung aus Erzählgeschwindigkeit und völliger Leserüberraschung, wenn Barral plötzlich eine Tochter von einer Nebenfigur hat, und seine Tochter, kaum hat der Leser akzeptiert, dass es die überhaupt gibt, statt sie zu verheiraten, beerdigen muss:

      „Fastrada wollte Marisa besuchen, von der ich ein Kind habe, … Valesca …, ich muss sie unter die Haube bringen.“ Er brachte sie, statt unter die Haube, unter die kühle Erde des Gottesackers im Weiler Sankt Paul, gestorben am Bauchfieber“ (Barral auf S. 360).

      Meisterlich! Man ist eben hin und her gerissen.

      NO

      Anmerkungen während des Lesens von: “Kinder der Finsternis” (W. v. Niebelschütz)

    14. Lieber NO!

      „Ich bin gespannt, wie Melusine dieses Männerbild findet?“ Wollen Sie mich hier in die PC-Rolle drängen, die Prüfinstanz, die alles be- und aburteilt danach, ob ein „korrektes“ Männer- bzw. Frauenbild vorliegt? Ich mochte Lassiter. (Und schließlich spielte der von mir – optisch – geschätzte Tom Selleck, den wiederum Aléa Torik regelrecht abstoßend findet, wenn ich mich recht erinnere, die Hauptrolle in dem später entstandenen Film. Die Geschmäcker sind eben verschieden.) Noch in den lächerlichsten Traumfiguren der Kulturindustrie kann ich, selbstverständlich, denn was sonst hätte mich geprägt, meine eigenen Träume wieder erkennen.

      Ansonsten: Diesen Wunschtraummann, den Niebelschütz sich hier offenbar schafft, finde ich, so wie Sie es beschreiben, amüsant, aber vielleicht doch auch ein wenig traurig, weil eine bestimmte Idee von „Liebe“ dahinter steckt, die zumindest ich nicht sehr befriedigend finde. Wenn ich meinen Bruder besuche steige ich regelmäßig an der S-Bahn-Station Taunusanlage aus. Da befindet sich so ein edler Club mit Türstehern. Große Limousinen fahren vor und aussteigen jeweils, als sei es ein Film von Monty Phytons, rechts ein alter Knacker und links eine superjunge Blondine in Highheels (oder auch mal zwei). Diese Männer brauchen Bewunderung (für ihre Macht, ihr Geld, ihren Status) und diese Frauen brauchen jemanden, dessen Glanz auf sie abstrahlt. Manchmal ist es wohl pures Geschäft. Manchmal aber, denke ich, halten die Beteiligten das auch für Liebe. Es ist nur so: Alles Gefühl hängt hier an Besitzverhältnissen (das muss nicht immer Geld sein; es kann jede Form von „sozialem Kapital“ sein). Sie liebt, was er hat, und er liebt sie, weil er sie (deren Wert – in der Marktwirtschaft – davon abhängt, wieviele andere sie haben möchten) haben kann. Jede Liebe ist bedroht, aber eine solche – meine ich – besonders. Er weiß wohl im Grunde seines Herzens, dass er mit seinem „Kapital“ (welche Form auch immer es hat) auch sie verlieren würde und sie weiß, dass sie ihren Marktwert erhalten muss, um geliebt zu werden (das mag dann in die Resignation münden, immerhin weiter als Kupplerin für den „Geliebten“ auf dem Markt mitzumischen, wenn der eigene Wert nicht mehr groß genug ist). Ich glaube, dass Menschen, die so lieben, sehr viel Angst haben müssen und innerlich sehr unsicher sein werden. Denn sie können nie s i c h in den Augen des anderen geliebten Menschen erkennen, sondern immer nur ihren „Wert“. Und so bleibt alle Beschwörung der „Einzigartigkeit“ (des Geliebten, der Geliebten, der Liebe) eben bloß Beschwörung, die dauernd neue Bestätigung braucht. Ich – ganz ohne moralische Wertung – empfinde das als traurig.

      Aber: Wenn jemand wie Sie, das schrieb ich schon anderswo, ein solches Buch faszinierend findet, dann ist was dran. Davon bin ich überzeugt. Das werde ich demnächst mal überprüfen. (Jetzt lese ich gerade Werner Bräunigs „Rummelplatz“ und bin davon gefesselt und – ja! – begeistert.)

      Herzliche Grüße

      Melusine

    15. @Melusine und Dr. No. Schuld und Buße. Ihre Männerbeschreibung hier, liebe Melusine, geht an der Barral-Figur komplett vorbei. Das liegt aber einfach daran, daß Sie das Buch (noch) nicht kennen.

      Dr No, auf Ihre Einwände reagierte ich sehr gern ausführlich, aber ich habe die Zeit jetzt nicht. Nur eines kam mir, als Vater, der ich bin, sehr schlimm hoch: nicht bevor er in Yad Vashem nicht Deutsch laut sprechen mochte vor SchamDas ist, wenn man es Kindern abverlangt oder sogar will, daß Kinder das erleben, eine bösartige Traumatisierung von Kindern. Zumal sie sie für etwas erleiden sollen (als Rache? als Strafe?), an dem sie absolut keine Schuld haben. Im übrigen erzeugt(e) man mit genau dieser Art von “Verarbeitung” der deutschen – historischen! – Schuld nichts als eine notwendige Verdrängung, die u.a. auch zur Ausbildung einer neofaschistischen Jugendlichen-Reaktion geführt hat. Die Linke, ob aus BRD oder DDR, völlig wurscht, hat durch solches Verfahren den Neo-Nazismus als Fluchtziel überhaupt erst gefüttert; er ist ihr Erzeugnis. Ich bin darauf an anderer Stelle ausführlich eingegangen.
      Bereits von Schuld der Deutschen zu sprechen, ist insofern verfehlt, als alle Deutschen vor Hitler strafrechtlich gesehen ganz sicher nicht schuldig waren und die Deutschen danach waren es auch nicht. Es gibt keine erbliche Geschichtsschuld. Wer das anders sieht, möchte bitte auch von den Italienern und Franzosen verlangen, für das Völkerschlachten an den Katharern geradezustehen; oder, um das “moderner”, nämlich mit Lezama Lima, auszudrücken: Die gesamten weißen USA sind auf dem Völkermord an der indianischen Vorbevölkerung begründet. Dieses habe dann ebenfalls, und bis heute, zur persönlichen Scham, die englische Sprache zu sprechen, zu führen. Ich kann und werde mich, als Erwachsener, verpflichtet fühlen, jeglichen möglicherweise kommenden Faschismus’ bereits im Keim abzuwehren – dieses Gefühl der Verpflichtung ist aber eines der Einsicht, nicht der Schuld. Die ich nämlich nicht habe. Wie sollte denn ein heutiges K i n d solch eine Schuld haben? – Das ist alles eine politisch säkularisierte Form der schwer inhmamen Erbschuld- Idee.
      Wenn, was freilich zu erwarten steht, jetzt jemand meint, ich wollte die vom Deutschland Hitlers begangenen furchtbaren Verbrechen auch nur im entferntesten kleinreden, der wird von mir nichts als mitleidiges Kopfschütteln ernten: d e r nämlich dann hat sich den Verbrechen nicht gestellt und schon gar nicht versucht, sie für das eigene Leben zu verarbeiten; sondern er sakralisiert sie, um um eine Form der persönlichen Verarbeitung herumzukommen.

      Was aber Leseempfehlungen oder -bewahrungen im allgmeinen angeht, sollten Sie Ihren jungen Verwandten um Göttinswillen auch keinen Luther in die Hand drücken, auch Marx übrigens nicht. Der Antisemitismus zieht sich seit dem Mittelalter quasi durch die gesamte europäische Literatur. Er hängt auf das engste mit dem Christentum zusammen. Ihn da herauszubekommen, dem gilt seit nunmehr Jahrzehnten eine große Anstrengung der modernen christlichen Theologie. Daß Ihnen das bei Niebelschütz – so, wie Sie es lesen – weitergetragene jüdische Bild nicht gefällt, verstehe ich desunerachtet durchaus. Aber halten Sie sich die Perspektive dieses Romans vor Augen: sie kommt aus dem Innern des Mittelalters und will und muß auch daher kommen.

      Im übrigen, Dr. No, unterschätzen Sie Jugendliche enorm, jedenfalls jene, die schon Kopf genug haben, um ein Buch wie Niebelschützens überhaupt zu lesen. Als ich 16 war und Abenteuerromane aus Afrika las, war mir klar, daß, wenn jemand von den “Wilden” schrieb, das nun wirklich nicht mehr für bare Münze genommen werden konnte. Weshalb sollte das bei jüdischen Figuren anders sein, zumal Hitler bereits für Acht- bis Neunjährige auf dem Lehrplan steht?

    16. @ANH Das Buch kenne ich nicht, stimmt. (Und mir ist auch schon aufgegangen, dass die marktwirtschaftlichen Strukturen bei Niebelschützens Ritterroman wohl weniger eine Rolle spielen.)

      Nur eins: Ich gebe da gar keine “Männerbeschreibung”, sondern eine von Paaren. Das ist wirklich ulkig, wie immer jeder denkt, es ginge (ausschließlich) um Männer, wenn über Geschlechterverhältnisse geschrieben wird.

    17. Scham und Verantwortung Lieber Alban Nikolai Herbst,

      nein, das ist ein Missverständnis, ich habe nicht sagen wollen, Kinder sollten nach Yad Vashem (ich glaube sogar, Kinder können da gar nicht `rein). Ich wollte sagen, Kinder müssen lernen und sich entwickeln, möglichst in guten Schulen oder sonst wie, damit sie mit d i e s e m Buch richtig umgehen. Überhaupt wollte ich hier nicht pädagogisch auftreten, sondern als Leser (also als Schüler). Und ich wollte das ehrlich gesagt auch gar nicht so hoch aufhängen, von wo Sie es jetzt herunter geholt haben hier.

      S I E hatten in Ihrem ersten Kommentar geschrieben, man könne die Finsterniskinder a u c h zur Unterhaltung lesen – gegen den Strich. Ich glaube mittlerweile, dass Sie recht haben. Unterhaltung ja, aber man muss es einordnen können: Es ist ein Erwachsenenbuch. Und insofern sind die Finsterniskinder natürlich mit meinem alten Schinken „Das Sarazenenschwert“ doch nicht zu vergleichen (auch wenn ich das hier manchmal ketzerisch ins Spiel bringe): „Sarazenenschwert“ kann und muss man mit dem Strich lesen, das ist brav, da passiert nichts, auch wenn man das unbedarft liest.

      Ich kann es zwar nicht wirklich beurteilen, aber ich verstehe Ihre Erläuterung zur künstlerischen Perspektive von Niebelschütz. Ich verstehe, dass es aus der Sicht der Figuren heraus wohlmöglich so klingen muss wie es eben manchmal für mich (unangenehm) klingt. [Aber sonst versteht das niemand (hätte ich fast geschrieben)]. Also, der normale, der flüchtige Leser, der Leser historischer Unterhaltungsromane a la „Medicus“ oder „Päpstin“, das (Patent-)Kind gar, wird das mit der Perspektive kaum verstehen oder gar wissen können. Die lesen das wohlmöglich mit dem Strich und also falsch. Gegebenenfalls gefährlich falsch.

      Ich glaube nicht, lieber ANH, dass wir beide hier unterschiedlicher Meinung sind. Zu Recht sprechen Sie von Faschismus-Abwehr aus Einsicht. Ich auch. Habe ich von Schuld geschrieben? Der Möglichkeiten, Einsicht zu gewinnen, gibt es viele. Ich hatte einige aufgezählt. Schule, zumal gute Schulen, ist eine davon. Yad Vashem (für Erwachsene) wäre eine mögliche andere. Für mich war es eine. Weniges auf dieser Welt hat mich so sehr getroffen. Buchstäbliche Ewigkeiten habe ich hinterher in dieses weite, sonnige Tal da geschaut und mit den Tränen gekämpft. Wir werden angeschaut mit Augen, wir Deutschen, im Ausland. Identifiziert an der Sprache. Die Sprache Goethes, natürlich, die auch. Die Sprache der Demokraten dieser Berliner Republik, natürlich, die auch. Aber eben nur „auch“. D A S hatte ich gemeint, als ich von Scham schrieb.

      Das ist ein hohes Thema. Davon wollte ich gar nicht schreiben in meinem Kommentar. Das ist viel zu hoch. Wer bin ich denn, dass ich das hier verhandeln würde wollen. Ich wollte von einem Roman sprechen. Nur von einem Buch. Und davon, wie erwachsen, erzogen, gebildet – was auch immer – man sein müsste, um hier ja nichts falsch zu verstehen.

      Denn das wäre die Frage des lesenden Arbeiters hier, also meine:

      Ob der Niebelschütz sich bei der Behandlung dieses heiklen Themas nicht ein bisschen verhauen hat: 1959, mal gerade 14 Jahre nach Auschwitz und Krieg, denkt sich ausgerechnet ein Deutscher ein Buch aus, in welchem u.a. die Besichtigung von Antisemitismus in der Welt behandelt wird – und man muss für die richtige Einordnung dieser Textpassagen mit solchen Kompliziertheiten kommen wie Erzählerperspektive. Um es einmal ganz, ganz milde zu formulieren: Das Timing für dieses Buch war recht unglücklich. Man könnte wohl mit Fug und Recht auch sagen: Das zeugt wohlmöglich bei aller Ästhetik des Buches von einer gewissen Geschmacklosigkeit des Autors. Und da sind wir – wohlgemerkt – in der Skala auf der sehr wohlwollenden Seite. Das würde ich für mich persönlich sehr viel drastischer formulieren.

      Übrigens: In meinem humanistischen Gymnasium hatten wir im Englischunterricht unter dem Thema „Minderheiten“ bzw. „Rassendiskriminierung in den USA“ die Vernichtung der Indianer behandelt. Witzig, dass Sie das zufällig ansprechen.

      Herzlich

      NO

    18. @Dr. No zur Moral. Danke für die Erläuterung wegen der Kinder; ich bin da vielleicht überempfindlich und hab es falsch verstanden. Wie ich nun lese.

      Im übrigen meine ich, daß Ihre moralischen Anmerkungen zu Niebelschützens Thema so berechtigt sind, wie sie an der Sache auch wieder vorbeigehen. Diese Ambivalenz ist es, die ungern geleistet, sondern nach Lobbies meist wegentschieden wird, jedenfalls, in der Bundesrepublik, wurde. Man sah bewußt nicht hin, welche eine Größe von Dichtung das war und ist; man wollte das so nicht, Punkt, und machte es kaputt. Was aber nie lange gelingt, sofern etwas wirklich von höchster ästhetischer Qualität ist; ein paar Jahre lang, Jahrzehnte allenfalls; wenn er Pech hat, erlebt der Autor den Umbruch nicht mehr. Im Falle Pounds und Célines vollzog er sich früher, wiewohl diese beiden Autoren, vor allem aber Céline, an Bedenklichkeit gar nicht zu überbieten sind. Es braucht irgendwann einen oder mehrere von der gleichen ästhetischen Valenz, um das Ruder herumzureißen. Und man reißt es dann halt herum.
      Was die Geschmacklosigkeit anbelangt… so fürchte ich, Niebelschütz hatte gar keine Wahl. Themen suchen sich ihre Autoren; geschieht das umgekehrt, wird nichts – jedenfalls nichts, das bliebe – daraus. Und anders als viele Mitläufer der Dritten Reichs, die dann später zu den Vorsprechern seiner Kritiker konvertierten, so, wie nach 89 auch manch Linker begann, das Hohelied der USA zu singen, um sich dafür mit Berkeley-Professuren entgelten zu lassen, – anders als diese speziellen Charactere blieb Niebelschütz in seinem Konservatismus immer fest. Konservatismus, nicht etwa massiver, gar gewaltsamer Reaktionismus. Imgrunde war er, ein hübsches Wort, das sich schon wieder verlor, “Altes Europa” – mit den Vorzügen, aber auch den Teufelsfüßen dieses alten Europas. Wenn man das so weiß, wie man bei Doderer seine Neigung zu den Nazis weiß, kann sich die Kunst dieser Bücher entfalten.
      Ich bezweifle übrigens stark, daß sich Die Kinder der Finsternis umstandslos auch von jenen lesen lassen, die eine Vorliebe für den U-Bereich des Ritterromanes haben, sei’s als historischen, sei’s als Fantasy-Roman. Zumal, wenn Sie Ihre Fragestellung, wer sowas denn lesen dürfe, auf Genet ausweiteten, auf Bataille, Artaud und andere, hätten wir schnell wieder einen Index, der mehr wichtige Bücher hinter Verschluß brächte, als öffentlich dann übrigblieben – was zudem eine völlig Absurdität wäre, wenn man sich klarmacht, was alles völlig frei verfügbar im Netz steht.

    19. auf Melusine zu Niebelschütz Liebe Melusine,

      wer war noch ‚mal schneller als sein Schatten: Lassiter oder Lucky Luke? Was Sie da über die prägenden Traumfiguren der (Pop-) Kulturindustrie und Wiedererkennung schreiben, ist ja fast noch interessanter als das eigentliche Thema.

      Bei letzterem ist es schade, dass ANH so wenig Zeit hat. Denn ob das von Ihnen beschriebene Beziehungs- und Männerbild wirklich an der Barral-Figur vorbeigeht (ich meine: nein), wäre spannend mit ihm zu diskutieren. ANH hat natürlich recht: Rein äußerlich passt IHR Kernsatz („Diese Männer brauchen Bewunderung (für ihre Macht, ihr Geld, ihren Status) und diese Frauen brauchen jemanden, dessen Glanz auf sie abstrahlt.“) nicht so recht, denn Barral wirbt nicht auf dieser Grundlage und nicht mit diesen Mitteln; und er wird auch geliebt, als er noch Hirte und macht- sowie besitzloser Jungritter war. Ich kann mir allerdings vorstellen, dass Sie richtig liegen. Denn in Wahrheit stellt sich angesichts von Barrals unaufhaltsamem Aufstiegs und dauerndem Erfolg die Frage mach Status und Glanz gar nicht. Bis auf ein Mal. Da ist er für eine längere Periode schwach. Und siehe da: Seine dann gegenwärtige Frau ist unzufrieden.

      Und ob Ihr Beschrieb an Niebelschütz (und so habe ich Sie nämlich verstanden), vorbeigeht (ich könnte mir vorstellen: nein), wäre noch spannender.

      Natürlich fehlen SIE fehlen als kritische, korrigierende Disputantin der Finsterniskinder. Aber Sie haben ja erzählt, was für Bücherstapel neben Ihrem Bett stehen. Da kann man wohl auf keinen kurzfristige Ergänzung hoffen. Aber der „Rummelplatz“ soll ja auch ganz schön sein.

      Überhaupt erinnere ich mich an Ihre Bemerkung zu Ihrer DDR-Neurose nach 1989 und nutze jetzt die Gelegenheit zu ergänzen: Christoph Heins „Von allem Anfang an“ über die erwachende Adoleszenz eines Jungen in der DDR hätte/würde Ihnen gefallen; Brigitte Reimanns Tagebücher (u.a. „Alles schmeckt nach Abschied“) ist das Beste, was ich in dem Bereich gelesen habe; und Erwin Strittmatters „Der Laden“ ist für mich quasi Weltliteratur. Außerdem: I C H finde ja, man verpasst etwas, wenn man Tellkamps „Turm“ auslässt.

      Und ein begeistertes Wort allerdings noch zu Ihrem Morel: Mommsens „Römische Geschichte“ las ich parallel zum Geschichtsleistungskurs – also ewig her, versteht sich. Aber das ist etwas, das bleibt. Gut, der Morel-Mann! Und Sie wissen natürlich, dass der Mommsen damals den Nobelpreis dafür bekommen hat? Den für Literatur, versteht sich.

      Herzlich

      NO

    20. Lieber NO! Eine harte Formulierung ist das “Ihre DDR-Neurose” – doch ist was dran. Ich las Literatur aus der DDR bis 1989 -und dann nicht mehr. (Ein “schlechtes Gewissen” vielleicht, weil mir die “Brüder und Schwestern im Osten” bis dahin gleichgültig waren? Zwar gehörte ich nicht zu denen, die den Sozialismus dortiger Prägung aus der Ferne verherrlichten – dazu waren Honecker, Mielke & Co. schlicht nicht sexy genug. Meine Haltung – die keine war – war einfach Indifferenz. Dafür – kann sein – schäme ich mich immer noch ein wenig.) Zu Tellkamps “Turm” werden Sie mich gegenwärtig allerdings nicht bewegen. Zu bräsig wirken der Ton (die ersten Seiten hatte ich mal angelesen) und der Mann z.Zt. auf mich. Da lese ich dann eher erst mal Niebelschütz.

      Lucky Luke war´s, der schneller schoss als sein Schatten. Und ich bekenne mich dazu: Ich liebte Comics, amerikanische Fernsehserien (Lassie, Bonanza, Raumschiff Enterprise, Bezaubernde Jeannie, um nur einige zu nennen) und Hollywood-Filme. Alles andere wäre gelogen. Auch hier bin klar gegen den Stalinismus: Kein Trotzki wird zur Geschichtsklitterung später aus den Fotos geschnitten. Die Kulturindustrie, die der Adorno uns so madig machen will, zu meiner “Bildung” gehört sie dazu. (Und dafür schäme ich mich nicht.)

      Herzliche Grüße
      Melusine

    21. Ohja, liebe Melusine, was wären unsere Kultur-Erfahrungen jener Tage ohne die “Rauchenden Colts, Flipper, Daktari, Immer-wenn-er-Pillen-nahm oder Mit-Schirm-Charme-und-Melone”, mit denen ich Ihre Reihe der damaligen TV-Serien gerne ergänze. Mittlerweile werden diese Serien als “Six-Pack” bei den Medienmärkten heutiger Tage “versilbert”.
      Am meisten schmunzle ich, wenn heute junge Mädels (zwischen 15 und 18) bei Kirschblütentee und Räucherstäbchen unter dem Che Guevara-Poster hocken und Jimi Hendrix hören.
      Herzlich
      Teresa

    22. Erkär‘ mir Niebelschütz Im Kapitel „Fatima“ (S. 469 ff) nimmt ein Teilaspekt dieses Romans, ein wichtiger Handlungsstrang, eine (für mich) ganz überraschende Wendung. Das gefällt mir. Erzählen kann er, der Niebelschütz. Auch wenn – wie im creative writing-Krus – diese überraschende Wendung genau an der richtigen Stelle kommt, nämlich nach Einführungen und ersten Ankern steuert dieser Teilaspekt der Geschichte mit der überraschenden Wendung zielgenau auf seinen Höhepunkt zu. Der aber kommt (wohl erst) noch).

      Dieses Kapitel ist im Gesamtbild des Romans inhaltlich ungewöhnlich. Es verlässt die Ritter und widmet sich mehr den „Wilden“. den Mohren, den Sarazenen, also den arabisch-afrikanischen Muslimen. Freilich alles in dem knappen, rhythmischen, verdichteten Stil des Herrn von Niebelschütz, der die Kunst dieses Buches ausmacht. Ein weiteres (bewunderungswürdiges) Beispiel:

      [Er] „Höre, Fatima. Es ist denkbar, und ich hoffe es für mich, daß Dein Gemahl, der Fürst, wenn neu vermählt, Dich nicht wünscht.“ … [Sie] “Wie sollte ich schreiben? Nie verließ ich Palast und Haremsgarten, der Hafen ist weit, der Henker nah.“

      Was hat der zweite Satz für einen Rhythmus! Was für eine Knappheit in der Formulierung, welch‘ schöne alte Wendungen in der Begrifflichkeit! Unbearbeitet schriebe man vielleicht etwa: „Es ist ja denkbar, dass Dein Ehemann Dich nicht mehr wiedersehen will, weil der Fürst sich neu verheiratet hat; ich würde mir das wünschen für mich.“ Egal, wie man das umstellt und umformuliert, nie bekommt es die Poesie und den Schwung wie hier bei Niebelschütz, immer klänge es wie umständlich, prosaisch.

      Oder auch der vierte Satz! Der Rhythmus ist wie ein Gedicht, man stelle das erläuternderweise in Strophenform dar:

      „nie verließ ich
      palast und haremsgarten
      der hafen ist weit
      der henker nah“

      dann hört man es, finde ich. Und spätestens beim Lautlesen hört man die Vokalkonzentration:

      Das dreifache „i“ in der ersten Zeile;
      das vierfache „a“ in der zweiten Zeile;
      das dreifache „e“ in der vierten Zeile, kontrastiert mit dem „a“ am Ende,
      was alles seinerseits einen Kontrapunkt setzt zu dem beginnenden „a“ in der dritten Zeile (die dann mit anderen Vokallauten weitergeführt wird).

      Oder man genieße bewusst in diesem vierten Satz die Begriffspaargegenüberstellungen Palast/Haremsgarten – Hafen/Henker; man genieße die Alliteration von H –afen und H-enker; man genieße die Verbindung der Gegensätze „weit“ – „nah“, und genieße letztere in Verbindung mit stutzender Überraschung, weil man bei normalem Sprachgefühl erst die kurze Entfernung erwartet und dann erst die weite (denn man steht ja hier und will erst nach dort), und außerdem die Weite normalerweise mit „Ferne“ umschrieben erwartet, denn: „nah und fern“ ist ja, wie man im täglichen Sprachgebrauch doppeln würde.

      Zum Inhaltlichen dieses Kapitels:

      Die Welt des Islam, ihre Denkart wird dargestellt, Harem, Feinheit der Lebensart, Tod und Hinrichtung, Abgrenzung zu den „Christenhunden“, Edelmut, Reichtum und Kultur, Gott, Allah, Prophet, Santiago de Campostella, die Kaaba in Mekka. Es geht, wenn ich das richtig verstehe, um den (scheinbaren?) Gegensatz zwischen christlichem Abendland und entwickelter Kultur und Eleganz des Morgenlandes, um schönes Äußeres bei gleichzeitiger „unaufgeklärter“ Denkungsart im Gegensatz zur inneren Haltung, zu den Errungenschaften durch Christentum. Zitat:

      „Ihr Christen, erhabene Fürstin, treibt einen hohen Aufwand an Edelmut für nichts.“ – „Und Ihr Moselum“, erwiderte sie, „verschwendet Grausamkeiten, um Euren Edelmut zu verhüllen“.

      Quintessenz: „Fatima“ ist das Kapitel „Der edle Wilde“. Ein bisschen wie bei Karl May.

      Nicht ganz dazu passt allerdings, dass der Kalif zwei schwangere Haremssklavinnen köpfen lässt in den Gemächern, nur weil sie schwanger sind von seinem gestorbenen Vater, dessen Macht er nun übernommen hat. Also wie man das kennt von afrikanischen Löwenrudeln, wenn ein junges Alphatier nach Rudelübernahme die Jungen des alten Alphatiers tot beißt. Das hätte es bei Winnetou nicht gegeben. Aber vielleicht ist auch Hadschi Halef Omar der bessere Vergleich; der war ja nicht ganz so Apatschen-edlmütig. Und der Halef in diesem Roman, der Kalif, spricht:

      „Oh könnten die Menschen doch gleich Dir [Fatima nämlich] die Feindschaft begraben! Die Erde ist schön; man verwüstet sie. Die Menschen sind edel; sie köpfen einander“.

      Diese Wehklage des Moslems nach christlicher Vergebung ist schräg. Denn: Nicht man köpft einander, er köpft! Dieser Sultan hat gerade zwei Frauen aus null Anlass hingerichtet und Nibelschütz lässt diese Figur diese Sätze sprechen!? Das verstehe, wer kann. Es sind immer wieder diese Stellen, wo ich an der literarischen Qualität zweifele. Hat der Nieblschütz diesen Widerspruch nicht gesehen? Das kann ja eigentlich nicht sein!? Sollen die Araber so widersprüchlich dargestellt werden? Das macht für mich auch keinen rechten Sinn! Aber andererseits ist diese Begebenheit auch eine perfekte Umsetzung des o.a. Zitats mit den edelmütigen Christen und den edelmütigen „Moslemun“, denn der mordende Kalif lässt Fatima schließlich frei. Oder ist das Ganze eine literarische Vorbereitung auf das, was noch kommt?

      Kurzum: Selten bin ich bei einem Buch bei einem Autor so hin und her gerissen. Selten hinterließ ein Buch so einen ambivalenten Eindruck wie dieses.

      NO

      Gedanken zu: “Die Kinder der Finsternis”

    23. Erklär’ mir Niebelschütz Ein bemerkenswerter Roman ist zu Ende gelesen.

      Fatimas Schicksal klärt sich. Und dann kommen Judiths Töchter!

      Ein schwerer Konflikt bahnt sich an, vorbereitet schon durch Ahnungen und Träume des Helden. Es ist ein bisschen wie bei „Maria Stuart“, wo zwei Königinnen aufeinandertreffen, nur anders. Der Leser ist aufs Äußerste gespannt, ob und wie das gut gehen kann und ersehnt den Fortgang. Und erfährt – nichts! Wolf von Niebelschütz frustriet zunächst bewusst die Lesererwartung, gibt keine Informationen, beschreibt nur kurz und präzise die äußere Handlungen und lässt uns unwissend und gespannt wie ein Flitzebogen zurück. Zunächst. Später dann erfährt man, was man wissen will – soweit man es muss für das Verständnis des Fortgangs der Handlung. Der Leser bekommt die Informationen erst, als – Kapitel später – „Maria Stuart“ und „Elisabeth II.“ miteinander reden. Und in der Rede erfährt man dann indirekt auch endlich etwas über die Begegnung zwischen „Maria Stuart“ und „Mortimer“. Nicht schlecht gemacht!!

      Noch einmal am Ende des Romans zum Thema Land und Boden. In Ergänzung der Ghissi-Szene am Anfang: Barrals Zeugung der Tochter Ghissi mit Maita (auf S. 204 ff). Auch am Ende des Romans gibt es so eine Stelle, als Barral Siedlern die Gemeinde St. Guilhem zuweist – und noch seine Frau quasi um Erlaubnis für das Beschlafen der Auserwählten bittet (Barral auf S. 528):

      „Hier habt Ihr Land! ….Hier habt Ihr Mutterboden! … Ich bin Euer Herr, gesegnet von Alter und von Kraft! Her mit dem Stärksten, daß ich ihn niederringe. Her mit der Schönsten, daß ich meiner Erde ein Kind mache! Roana, Ihr erlaubt?“

      Und noch später, ganz zum Schluß, als der alte Barral eigentlich zu alt ist für solche „Bocksprünge“, heißt es noch einmal bekräftigend, erklärend (S. 534):

      „Der Herr der Erde muss seiner Erde, da sie Jungfrau ist, die Kinder machen.“

      Das hat etwas. Etwas ganz eigenes. Aber ich verstehe es schwer. Meine bekannte Frage: Ist das Literatur und warum?

      Egal, der Roman über Barral, den Dachs von Ghissi, den Wassermann, den Schäferkönig, den Friedensfürsten, endet so hoffnungsfroh wie Faust II endet.

      NO

      Anmerkungen zur Lektüre von Wolf v. Niebelschütz: „Kinder der Finsternis“

    24. Vielleicht hat Herr Niebelschütz entdeckt das Menschen viel vielschichtiger sind, als man hier im assozialen Westen behauptet.

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahren Sie mehr darüber, wie Ihre Kommentardaten verarbeitet werden .