Mit toten Contraden: Das Reisejournal des 8. Augusts 2010, des Sonntags in Amelia.

Trotzdem irritiert über die vertrauliche Geste, hätte Valeria
gern mit einer noch intimeren Geste geantwortet, ihre Hand
unter sein beflecktes Hemd geschoben und seine Brust ge-
streichelt. Aber auf diesem illustren Balkon, vor vierzig- bis
fünfzigtausend Zuschauern, ist das undenkbar.
Hatte ich je den plötzlichen Drang, fährt es ihr durch den Kopf,
meinem Mann die Brust zu streicheln? Ganz ehrlich, ich kann
mich nicht erinnern. (Aber auch er, mein Gott…)
Valeria spürt im ganzen Körper die zahllosen Gesten, die sie in
den letzten Ehejahren hat unterdrücken müssen. Liebkosungen,
Zärtlichkeiten, Umarmungen, wilde Küsse, Ausbrüche, die in ihr
steckengeblieben sind und sie nun schmerzen wie Rheumabe-
schwerden. Einen Strand mit ihm entlanglaufen, Hand in Hand…
sich nackt im Gras wälzen…

Fruttero & Lucentini, Der Palio der toten Reiter

8.41 Uhr:
[Großer quadratischer Tisch in der Küche.
Amelia, Contrada Platea.]
Zweiter Latte Macchiato. Anders als hier sonst begann ich den Tag nicht – w i e sonst aber, nämlich zwischen 7 und ½ 8 Uhr – mit meiner „Buchführung”, also um die Kosten der vorigen Tages zu berechnen und den Kassen„sturz”zu machen, sowie um kurz aufzuzeichnen, was wir, Sohn & Vater & Freund, am Vortrag unternommen, – sondern ich setzte mich mit dem ersten Latte macchiato auf die zwei Stufen, die aus der Casa in den Cortile führen, das Buch bei mir, das ich gestern zu lesen begann und auslesen wollte: meine erste Berührung mit Fruttero & Lucentini; der Roman lag hier auf einer Ablage gegenüber dem Klo. Auf Deutsch, freilich, Serie Piper, die unterdessen Marcel Hartges als Verlagschef betreut, der zu seinen Rowohlt-Zeiten Lektoratskollege Delf Schmidts war und sein Zögling gewesen ist. Es gibt unaufhaltsame Aufstiege. Fällt mir dazu – aber nicht „nur” – ein. >>>> Der Palio der toten Reiter, blöd übersetzt, dieser Titel, auf Marktgriff übersetzt, da er doch „Der Palio der toten Contrarden” heißen müßte und im italienischen Original so auch heißt. Contrarden sind die Zusammenschlüsse von Stadtteilen; auch in Amelia heißen sie so, und auch in Amelia gibt es einen Palio, von palium = „Tuch”, um das mit Lanzen geritten wird. Der berühmteste Palio findet bekanntlich in Siena statt. Doch hier sind wir nun auch in einen hineingeraten, also in die Vorbereitungen bislang; da fand ich es passend, in Frutteros & Lucentinis kleines Buch hinzuzulesen. Und las es auf den Stufen aus.Überhaupt habe ich, bis je ab mittags unsere Ausflüge starteten, wenn >>>> Parallalie die Rundtreppe zum Cortile hinaufkam und ja immer noch -kommt, meist ruhig grüßend, meist gibt es dann erstmal Caffè, fast nur gelesen, jedenfalls kaum gearbeitet. Es ist eine netzferne Welt. Trommelschläge, ab nachmittags, dumpfen durch die kleine Stadt, weil die Contrarden ihren Auftritt proben, meist bereits in mittelalterlichen Kostümen, derweil unten vor dem Stadttor, ein wenig nach Südwesten über den Giardino Pubblico hin, ein Anhöhchen hinauf, auf dem Campo Sportivo der Palio geübt wird, für den aber nicht wie in Siena Halbblüter geritten werden, sondern wendige nervöse Pferde: es geht hier nicht über Steinpflaster hin, auch heute abend nicht hin, wenn das große Ereignis statthaben wird. Gestern nacht – wir waren die steilen Gassen hinuntergestiegen und hatten uns in die Schaulustigen innerhalb der Stadtmauern gedrückt; außerhalb der Stadtmauern waren noch viel mehr Leute, war eine ganze Masse versammelt vor dem Platz des Tores, auf dem sich Ritter und Hellebarden tragende Wachen, sowie Feuerschlucker und andere Gaukler präsentierten – also gestern nacht, beginnend mit dem festlichen Schließen des hölzernen sehr hohen Stadttors, wovor die spätmittelalterlichen Statuten Amelias verlesen wurden (für die Touristen auch auf Englisch, was ein wenig absurd war) – also gestern nacht marschierten die Contrarden dann auf, je einen Trommelzug, manche auch mit Fanfaren vornweg, gemessenen würdigen Schrittes hinaus auf den Platz, wo man Stellung bezog, das Getrommel des je folgenden Zuges scharf aggressiv: Herausforderung für die vorderen. Wir werden euch schlagen! Seid auf der Hut! Seltsam, wie wenig nach Fasching das wirkte, wie eigentümlich real. Vielleicht lag es daran, daß die meist mit enormem Stolz getragenen Kostüme die umbrischen Gesichter, wie >>>> Bruno Lampe leise bemerkte, geradezu betonten, wie die sich strengholzig schnitzten für diesen Abend. Mein Junge war schließlich g a n z affiziert: „Unsere”, sagte er, „unsere Contrarde wird siegen, das weiß ich ganz genau”, war dennoch von einem Ritter im Harnisch ganz fasziniert. Ich schaute derweil nach Schönheiten aus; unter den Frouwen gab es nur eine. Sie lebte vierhundert, vierhundertfünfzig Jahre nach den Kindern der Finsternis. Da ich nicht nekrophil bin, ging die Unberührbarkeit ihres herrischen Blickes anders an mir vorbei, als die toten Contrarden das Leben der Mailänder Maggionis schleichend, geisterhaft, unsicher, aber nachhaltig besetzten, wovon Der Palio der toten Reiter erzählt. Doch wer weiß? Der Palio findet heute abend erst statt. Tagsüber, heute, werden wir über den Mittelaltermarkt schlendern, mein Junge und ich, werden das mittelalterliche Arsenal uns anschauen, dann, wenn Parallalie wieder kommt, einen Spaziergang um die Stadtmauern zum Rio Grande und an dem teils felshanggesäumten Hang des Flusses entlang unternehmen. Dann war das Buch „aus”.

Nachts dann wieder der Wein im Cortile. Bevor wir hinabgegangen waren, hatte ich gekocht. Was ich ja sowieso, besonders gern aber hier tu.Es fehlt allerdings an Gewürzen, ich habe die Küche ein wenig „aufgestockt”: Rosmarin fehlte, Oregano, sogar Basilikum. Dieses wenigstens hab ich gepflanzt, unter die hochgerankte Passionsfrucht an der Mauer, das sollte einen riesigen Busch ergeben; pflanzbaren Rosamarin, leider, fand ich noch nicht. Der Lorbeer stammt aus Bomarzo, wo wir gestern gewesen sind, Il giardino di mostri, mein Junge kletterte auf den ungefügen Monstern herum, bis die Wärter ihn wegpfiffen. Vorher hatten wir Pasoloni besucht, Die Taufe Christi, den Drehort, etwas abseits der Straße, verfallenes Anwesen, die mittelalterliche Steinmühle nur noch Ruinenbrocken, die schweren Mahlräder inmitten zerbrochen, aber das Wasser schwallt kräftig herunter, Wildwasser fast, über die Felsen.

Leider ist vieles dort verdreckt. Lampe erzählte, man habe schon zu reinigen versucht, habe ein ganzes verrostetes Auto aus dem Schlamm hervorgezogen. Ein Stahlrest Motor lag noch herum.

Ah, mein Bub ist auf. Wir werden mal eben die Gassen hinunterspazieren.

14.04 Uhr:
Im Städtchen war noch nichts los: kein Mittelaltermarkt, keine Waffenshow; das wird alles erst, las ich auf einer Affiche, ab 18 Uhr. Sonntagsruhe also. Unten in der Bar Fuorimuro wurden Stückchen gegessen, Zeitungen gelesen, wurde Eis gelöffelt; nebenan auf dem Spielplatz des Öffentlichen Gartens jubelten Kinderstimmen.
Wir spazierten ein wenig umher, dann wieder hinauf, nahmen unterwegs jeder ein süßes Gebäck, deckten oben den Frühstückstisch, frühstückten mit Caffelatte und Salami, Ricotta, frischem Brot Tomaten; von gestern nacht waren noch Melanzane übrig. Mein Junge las Dick Blade Runner weiter, ich suchte mir in der Bibliothek unseres abwesenden Gastgebers, dem hier endlich einmal Dank gesagt werde, einen nächsten Roman, schwankte zu Jack London, aber die Südsee war mir dann doch zu weit entfernt von Amelia; aus einem Grund, den ich Ihnen nicht nennen kann, zog ich Miguel Barrosos Wiedersehen in Havanna hervor, las mich auch fest; aber dann überkam mich die Siesta.
Es ist heiß. Man kann so nicht schlafen. Man soll so auch nicht schlafen. Also hier hinein. Mein Junge übt auf dem Cortile Zielschießen mit seiner neuen Zwille.Wir warten auf Parallalie, der zwischen 14 und 15 Uhr herkommen wollte: sagte er, gestern nacht um halb eins, als er wieder nach Forlone fuhr, in seinen Vorort Amelias. In der Wartezeit bereite ich diesen Dschungeleintrag mit sämtlichen Fotos vor, um heute abend alles möglichst zügig einstellen zu können. Die Löwin hat sich, im Ifönchen, beschwert… indirekt freilich: „Wenigstens Bruno Lampe schreibt hin und wieder mal.”
Wir sind, ???? ???, an den Fällen von Marmore gewesen, vorgestern, und sämtliche vier Sentieri gegangen, auch den ganz hinauf. Davon hat Bruno Lampe schon >>>> im Tagebuch erzählt, aber Bilder hat er keine eingestellt, weil er seinen Fotoapparat hier vergaß. Also d i e nun, ein Auswählchen freilich, hier:Außerdem unternahmen wir einen Abstecher in die im Wortsinn höchstnahe Schweiz. Sozusagen. Was uns nicht daran hinderte, abends, in Amelia zurück, Pizza essen zu gehen, mit Signora M., il dottore Lampe und seinen beiden Neffen. Dort dann, in der Trattoria, fand sich das folgende: IN NUDA VERITAS

— ah, er kommt soeben, der Herr Parallalie. Die Siesta ist vorüber. (In Narni, gestern, waren wir auch. Nein, die Stadt hinterm Schrank ist das n i c h t, die heißt Narnia. Aber, manchmal w i r d Narni Narnia genannt.)

18.42 Uhr:
[Bei Parallalie, Fornole.]
Ganz schnell einstellen, was einzustellen ist. Dann zum Palio. Darüber und über den Gang heute nachmittag, bei dem mein Sohn bis an die Knie im Schlamm versank, später. Er ist, dies zu Ihrer Beruhigung, völlig und glücklich wiederhergestellt beim Baden mit einigen Contradisten, aber lebendigen, strotzend vor kraftvoller Jugend, die ihn beklatschten und ihm die Hand gaben, weil er es wagte wie sie… Hab ich schon irgendwann einmal geschrieben, daß ich meinen Jungen l i e b e?

Ah ja… bitte, liebe Administratoren: falls es hierdrin Tippfehler geben sollte, korrigieren Sie sie.. der Palio ruft…

3 thoughts on “Mit toten Contraden: Das Reisejournal des 8. Augusts 2010, des Sonntags in Amelia.

    1. Nicht nur wegen der Fotos … finde ich die Reiseberichte & Tagebuchaufzeichnungen außerordentlich gut gelungen; als Reisender Schriftsteller gefällt mir ANH sogar noch besser als sonst!

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