Die Stärke von Inszenierungen erweist sich oft daran, daß sie mit großem Recht auch gegen die Absicht ihrer Regisseure verstanden werden können oder daß sich Absicht und Auslegungen seltsam verschoben, oft flirrend, ja schillernd gegeneinander verhalten, so daß letztlich kaum gesagt werden kann, was denn nun „stimme”. Zwar wird das Opernhaus in einen Container entsorgt (Geschichte entsorgt: Bilder werden gestürmt, Paläste der Republik niedergerissen, schon baut man Schlösser der Restauration), aber doch eben auch entrümpelt, was den Blick verstellt oder ihn gar festfror. Das Sakrileg-überhaupt zu begehen, gleich zu Beginn, den roten pompösen Vorhang runterzulassen über die ganze Bühne, ihn abzuknüpfen und wegzuschmeißen, das schmeißt zwar das Theater weg (Kürzungen, Niedergang der Bildung), aber es gibt auch den Blick auf die Wirklichkeit frei: eine mögliche wieder, die w e r d e. Verlust und die Trauer darüber u n d etwas Neues, ein Hoffen auf etwas jenseits des Plüschs und des Pomps: >>>> von Peters Inszenierung ist tiefster Ernst Bloch. Zumal sie Pathos wenig scheut. Denn Menschlichkeit ist selbst bei Schergen, wenn man sie innig anschaut. Das Wiedervereinigungs-Duo indes, Leonores und Florestans, sucht, wie wir es gestern abend erlebten, seinesgleichen: mit einer solchen Leidenschaft aus Glück sang sich das nicht vornehm beiseite, oh nein!: es s c h r i e sich aus, war in der Leidenschaft-s e l b s t. Keine Frage mehr, ob sowas „schön” sei, ob es zivilisiert sei, ob es dem „Guten Ton” entspreche: „So namenlose Freude!” Ja! „So übergroße Lust!” Das ist k e i n e hohle Phrase. Wie auch Pizarros Zaudern nicht.
Benedikt von Peters Inszenierung der von Beethoven nur widerwillig „Fidelio” genannten Revolutions- nämlich sowohl Gattinnentreue- wie Widerstandsoper „Leonore” gehört zu den reinsten Inszenierungen, die ich jemals gesehen habe. Sie ist Beethoven so treu wie Leonore Florestan und Florestan ihr und seinem Recht auf freie Meinung. Es gibt, wiewohl bis in den Klang modernisiert, keinerlei Fälschung, keinerlei Schmock und schon gar keine Mätzchen.
Über den Klang wäre vor allem zu reden, danach erst kommt das Bild. Wir hören zuerst den Akkuschrauber und hören ihn, leitmotisch fast, immer wieder. Wir hören ein Grollen. Wir hören ein leises Sprechen aus dem Off. Wenn Fidelio das erste Mal erscheint, spricht er – also Leonore, sie – über das Mikrophon. Das ist ästhetisch geschickt, doch mehr noch hat es emphatische Wahrheit: die Stimme kommt wie von irgendwo her: zugleich ein unser-Innen wie Prophetie von außen, „oben”. Da schon ist Utopie gefaßt, als träte eine Figur auf die Bühne, die direkt dem kollektiven Befreiungsbewußtsein, dem Unbewußten der Völker nämlich, entträte. Das ist nicht realistisch, doch es i s t.
Damit geht es schon mal los. Während die Abrißarbeiter abschrauben, Plastikmüllsäcke im Container landen. Doch an einer Robe, die auf dem Kleiderstativ hergetragen wird, hält Marzelline fest wie Leonore an Florestan. Auch das ist eine Stärke dieser Inszenierung: daß die eigentlich erzählten Vorgänge mit in andere Personen hineingelegt werden, ihre Seele ergreifen und sie – ändern. Dazu eben immer wieder ein Klang, der historisch nicht zuzuordnen, eben nicht Beethoven, sondern unserer Zeit ist und der die langen Strecken, die noch Otto Klemperer für z u lang hielt, mit Gegenwart füllt: da klingt dann schon mal ein Jazzmotiv herüber, trompetig aus den Leonore-Ouvertüren abgeleitet, oder es weht einfach eine Liedphrase heran. Rauschen dann wieder, nach der Arie, Arbeitsgeräusche, Rücken. Das Pochen, das Jaquino bereits bei Beethoven nervt („schon wieder dieses Klopfen!”) – absolut grandios, wie das mit Beethovens fast immer vorwärtsdrängender Musik korrespondiert. Wir kennen das Verfahren aus der neuzeitlichen Inszenierung von Barockopern. Nur ist es etwa bei Händel sehr viel leichter anzuwenden, weil der Barock selber von ständigen Varianten, Zitaten und vom Manierismus lebt. Bei Beethoven ist sowas schwierig. Allein deshalb wären die Sounddesigner Dethleffsen, Hübner, Koch und Özgönenc permanent zu nennen: sie beugen Beethoven nämlich nicht, sondern arbeiten seiner Partitur auf allersensibelste Weise zu – wo das musikalisch geschieht und nicht über Geräusche, findet es meist an der Grenze der konkreten Wahrnehmbarkeit statt. Die Vermittlung des, idealisch gesprochen, Sentimentalen mit unserer zeitgenössischen Wahrnehmung läßt von der Oper allen Historismus abfallen wie Puder; die Quartette des ersten Aufzugs, die Klemperer, rein über die Dramaturgie der Partitur gedacht, nicht zu Unrecht eliminierte, bekommen über diese neue Klangarbeit genau die Funktion, die Beethoven für sie gedacht haben mag. Von Peter überträgt sie gezielt auf das gesamte Stück: konzentriert es nämlich nicht auf alleine zwei Personen, um, sagen wir, biedermeierliche Gattentreue schilleridealisch in Szene zu setzen. Sondern alle Personen des Stückes werden als politische Subjekte begriffen und genau dadurch z u Personen. Schon das hat Größe. >>>> <% file name="Beethoven-Fidelio-St-Clair-Komische-Oper" %>
Dazu kommt der Herzschlag, der unter Florestans erste Arie Aufzug III gelegt ist und im Nachklang stehenbleibt: von Peters Glaube an die Güte. Sie versucht sogar, Pizarro in sich aufzunehmen. Genau diesen Gedanken hat in den Achtzigern Wolfgang Wagner in Bayreuth umsetzen versucht, als Beckmesser auf der Festwiese in die offenen Arme aller auf-, nämlich zurückgenommen wird. K e i n Verrat durch Negativismus, kein pragmatisches Skeptizieren, das uns den einkömmlich bequemen Frieden mit dem Unrecht finden läßt, und auch nicht die daueröde Verschiebung ins Absurde und Groteske („es gibt keine Tragik mehr” – Quatsch!) oder die hochkorrupten Relativismen des „Die Welt ist ein Text”. Sondern die nach 1989 und dem folgenden Niedergang utopischer Gesellschaftsideen geradezu unmoderne Idee des eigentlich guten Menschen, der nur die Umstände zu durchschauen lernen muß, um sich in Güte zurückzu(er)leben und dem das Paar Leonore/Florestan vorführt, es ist ein „wahres Leben” möglich, egal wie „falsch” die Zustände sind: Man sehe es mir nach, daß ich hier den Konjunktiv nicht verwende.
Ständig gibt es in von Peters Inszenierung Kippen, und zwar sogar in den Auf-, bzw, Abmarsch(iere)-Szenen der Massen. Von Peters Personenführung ist derart perfekt, daß er sogar da die Einzelnen im Blick behält, wo sie die Dynamik der Massenbewegung aufzulösen scheint. Seine ununterbrochene Wachheit erlaubt ihm am Ende auch das große Pathos, in dem genauso Wir sind das Volk! mitschwingt (dessen Gefahren er in die Gesellschaft der übrigen Spruch- und Marschierbänder stellt – da gab es einen ersten Unmut im Publikum, man ahnte bereits spätere Buhs) wie die Drohung der kriegerischen Entindividuation, die den nächstbesten Feind lynchjustizisch aufknüpft. Beklemmend wird das, als sich die sich eben noch emanzipierenden Menschen in eine Truppe schweißen lassen und unter Schwenken von Fahnen losmarschieren, wozu Pizarro am Container lehnt und nur noch höhnisch lacht: so sehr hat er den „realen” Menschen im Blick und so den idealen verloren. Während über das sich entfernende Trommelschlagen die Trompete eines Il Silenzios klingt, resigniert vor Beethovenferne. Am menschlichsten aber wird der Umschlag von Glaube zu Pragmatik und in den Glauben zurück in Jens Larsens unentwegt-bewegter Interpretation Roccos. Der Mann ist ein Lagerkapo, man vergesse das nicht, aber eben auch, als Einzelner schwankend zwischen gütig und verzweifelt väterlich, hilflos an den Werten orientiert,die man ihm vorgab und die ihm, Paradebeispiel des „einfachen Mannes”, das Überleben garantieren. Ja selbst Pizarro schwankt: als er das Brot in der Händen hält, das er dem ausgehungerten Feind geben könnte, den er doch zugleich und immer noch, und mit denselben Händen, meucheln will. Man weiß überhaupt nicht, wie auf alles schauen, gerecht, ergriffen, überzeugt vom ersten Bild an: so restlos durchgearbeitet ist dieses Ding.
Die Sänger waren hinreißend, nur Carsten Wittmosers Pizarro wirkte manchmal fahl – in der Kraft, nicht der Gestaltungsschönheit, und Günter Papendells Fernando schlief so ein, wie von Peter die Rolle tatsächlich einschlafen l i e ß: ein alter Mann, der gar nicht recht weiß, was noch vorgeht; er hat halt seine Befehle, doch sonst die Gicht und einen müden Nacken. Das ist konsequent. Bei Will Hartmanns Florestan hörte man, woher unmißverständlich Wagner kommt, der des Lohengrins, wohlgemerkt, und des Tannhäusers. Ann Petersenns Leonore indes möchte einen mit in den Schlußchor der Oper einstimmen lassen, für die der Choralsatz von Beethovens Neunter eine Variation ist: was „an die Freude” heute heißt, hat einmal „an die Freiheit” geheißen. So ist das wirklich geworden.
Doch das Orchester der Komischen Oper wackelte. Die Fehleinsätze verwischten sich nicht. Das war um so auffälliger, als das überhaupt nicht störte. Im Gegenteil. St. Clairs Dirigat erinnert wahrscheinlich nicht grundlos an Norringtons berühmte Interpretationen der Beethoven-Sinfonien. Man kann sie rauh nennen. Dazu kam, daß der Klang nicht romantisch-satt war, sondern vor allem expressiv, nicht abgeweicht in den Kanten, k e i n e Malerei, ecco!, und weil über das Orchester ein Metallgitter angebracht war, klang es, ja, vielleicht deshalb, bisweilen blechen, außerdem kippte die Orchesterbalance – jedenfalls dort, wo ich saß, 11. Reihe rechts – nach g a n z rechts, ja sogar nach oben zu den Rängen hin weg; manchmal war gar nicht mehr zu orten, woher der Orchesterklang kam. Genau das spielte von Peters Inszenierung aber noch zu: sie repräsentiert nicht, auch für die NeuenReichenSchönen nicht, noch für ein bürgerlich etabliertes Galapublikum voller Pensionsansprüche, schon gar nicht spätromantischen Schönklang, ihm den Verlust an Leben auszugleichen. Sondern die Komische Oper Berlin zeigt einmal mehr, wofür sie steht: nicht für den Schein, sondern für das derzeit lebendigste Musiktheater – mit Betonung auf theater -, das Berlin aufzubieten hat. In gar nicht ungewisser Weise haben wir Westler das dem Osten, den wir okkupierten, zu verdanken. Er entgilt uns Übernahme mit Seele. Nicht anders stand gestern abend vor Florestan Pizarro und wurde von dem Feind bis in sein Herz umarmt.
Die nächsten Vorstellungen: 05. | 09. | 14. | 20. | 23. | 28. Mai. 27. Juni. 07. | 17. Juli. |
Musikalische Leitung Carl St. Clair. Inszenierung Benedikt von Peter. Bühnenbild Natascha von Steiger. Kostüme Katrin Wittig. Dramaturgie Werner Hintze. Chöre Thomas Riefle. Licht Franck Evin. Don Fernando Mirko Janiska. Don Pizarro Carsten Wittmoser. Florestan Will Hartmann. Leonore Ann Petersen. Rocco Jens Larsen. Marzelline Maureen McKay. Jaquino Christoph Späth. 1. Gefangener Matthias Spenke. 2. Gefangener Matthias Gummelt. Extra-Chor Ernst Senff Chor Berlin |
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Esteban Engel, n-tv. Man fragt sich, wo die Leute ihren Kopf haben. >>>> Sie sehen Müll und denken dann auch Müll, jedenfalls entgeht ihnen jede Feinheit: “Doch Florestan ist nicht wirklich in der Zelle.” Primitiver k a n n man nicht wahrnehmen.
Und Christine Lemke-Matwey. Tagesspiegel, 27. April. >>>> Eine solche Kritik läßt sich nur mit Haß erklären. Da geht es n i c h t um meinethalben distanziert-sachlich Auseinandersetzung, sondern um etwas Persönliches, das der Autorin unbewußt davongaloppiert ist und sie blindgemacht hat unter den Hufen der inneren Abwehr.
kritiken na ja das ist durchgängig:
abwehr auch in der morgenpost. Das geht dann so weit, dass diese Kritik (die sich offenbar den alten, d.h. tradierten -welchen eigentlich?- Fidelio zurückwünscht) gar nicht mitbekommen hat, daß vor der Pause 2 Akte gegeben worden. Sozusagen Kritik aus der Mottenkiste.
Und Frankfurter Schule im Programmheft treibt einen Teil der OpernKritiker/Innen – na ja- zumindest wie Affen auf die Bäume.
Entgegengesetzt die Kritik in der BERLINER ZEITUNG. Ich meine die vom 27.4., die heute in der Druckfassung positiv und ausführlich berichtet. Im Netz steht auch noch eine Kritik von gestern, 26.4., ein kürzerer und noch sehr unschlüssiger Text.
und die BZ wie immer in diesem Kulturbereich sehr offen.
…und wenn ich dann tagesspiegel und morgenpost einerseits und FAZ und FTD andererseits sehe, dann sehe ich auf der einen Seite das engstirnige Kleinbürgertum der Bolle Berliner, die sich nach dem Duft der Großen Weiten Welt sehnen, aber aus ihrer piefigen Berliner Luft nicht rauskönnen. Denn da steht der Beethoven noch inmitten der Plüsch- und Häkeldecken der Großmutter auf dem Sockel. Wo soll da noch Platz für Bücher sein: Trotzdem selten, daß sich Kritiker/Innen mit ihrer Abfälligkeit gegenüber “Adorno & Co” so dumm und offen entlarven. Oder denken die, damit bei ihren Lesern punkten zu können? Oder ist es gar eine Warnung vor dem gefährlichen Inhalt des Programmheftes?
so! genug der Kultur. jetzt wieder in die Niederungen der Gegenspionage (ich kann Ihnen nur sagen: LANGWEILIG. 50% des Jobs bestehen daraus, Zeitungsartikel auszuwerten. Für die Anfängerseminare suche ich immer nicht fachspezifische Themen aus)
Matthias Nöther, Berliner Zeitung. Danke für diesen Hinweis. Hier >>>> der Link auf Nöthers Text online. Es scheint einen, wenn man nun noch die Berliner Morgenpost dazugibt, R i ß in den Auffassungen des Westens und des Ostens zu geben, den ich selber in meiner Rezension angedeutet habe: als bräche er genau hier auf. Der hehre Beethoven, auf dem Sockel mißbraucht, wird vom Bürgertm, das ihn draufstellte, als gefährdet gesehen. Insofern ist von Peters Inszenierung tatsächlich auch in der Wirkung von politischer Kraft.
(Ich habe meine Kritik eben noch um einen mp3-Auszüge ergänzt, den ich von einer CD umformatiert habe, die zu Pressezwecken von der Komischen Oper weitergegeben worden ist.)
Tagesspiegel Ich bin Ihrem Link gefolgt und habe dort kommentiert. Aber ich weiss nicht, ob mein Kommentar freigegeben wird. Denn für eine wirkliche Diskussion ist Ihr Blog bestimmt mehr geeignet als der Tagesspiegel.
http://www.tagesspiegel.de/kultur/kunst-ohne-herz-ein-koenigreich-fuer-ein-pferd/1809088.html?ajaxelementid=%23commentLoginArea
Ich habe dort entnommen, dass es auch eine gute Kritik im Neuen Deutschland geben soll. Sich auf dieses Blatt als Zeugen zu beziehen, finde ich aber problematisch.
neues deutschland als zeugen – was soll daran problematisch sein: Dort schreibt eine Kritikerin und warum soll die nicht diskussionsfähig sein. Wie Egon Bahr schon zu Zeiten des Radikalenerlasses sagte: wenn ein Kommunist sagt 2+2=4, müssen wir den Mut haben, zu sagen: ja der hat Recht, auch wenn … sie im ND schreibt. Mein Gott.
im übrigen fiel mir auf: je weniger die Kritiken sich mit der Enstehungsgeschichte der Oper und ihrer Zeit und der Problematik der Utopie beschäftigen, um so negativer sind sie:
Wo ist unser schöner Beethoven? bleibt dann unterm Strich..
@Müller-Ortnau zu Lemke-Matwey Wie ich soeben sah, >>>> scheint Ihr Kommentar vom Tagesspiegel freigeschaltet worden zu sein. Also wenn Sie dort “DCBerlin” sind. Jedenfalls wird da Die Dschungel erwähnt, sonderbarerweise, weil sich sowas online angeboten hätte, nicht verlinkt. Lemke-Matweys Demagogie “außergewöhnlich meinungsstark” zu nennen, finde ich allerdings einen groben Euphemismus.
Mir ist bezüglich der Dame etwas aufgefallen, das einer seltsamen Hypothese den Boden düngt. Ich fragte mich nämlich, weshalb sie so, unter anderen, persönlich auf Homoki, den Intendanten der Komischen Oper, einschlägt. Da bekam ich heraus, >>>> daß sie selber Opern komponiert. Eine erste wurde 2003, und die Dame führte selbst die Regie, in Innsbruck uraufgeführt. Nehmen wir einmal an, sie habe noch eine zweite geschrieben. Nehmen wir des weiteren an, sie sei schon wegen ihrer Tätigkeit als Musikredakteurin für den Tagesspiegel sehr oft in Berlin; vielleicht lebt sie sogar hier. Und als solche sowie als Mitarbeiterin des mächtigen WDRs lernt sie selbstverständlich die Intendanten Berlins schon mal kennen. Ja, meine Damen und Herren, was denken wir uns da?
@Herbst und Profi Nein, ich bin nicht “DCBerlin”. Mein Kommentar ist vom Tagesspiegel bis jetzt nicht freigeschaltet worden. Ich habe außerdem den Link angegeben. Für “außergewöhnlich meinungsstark” bin ich selbstverständlich ganz Ihrer Meinung. Das hätte ich nicht so geschrieben.
@der profi
Ich gebe zu, dass ich mit dem Neuen Deutschland ein Problem habe. Wenn sich etwas “sozialistische Tageszeitung” nennt, habe ich schlechte Erinnerungen. So etwas scheint heutzutage unangemessen zu wirken, aber ich kann und will nicht das Leiden eines Teils meiner Familie vergessen. Es ist für mich nicht nachzuvollziehen, wie schnell bittere Erfahrungen vergessen werden. Aber wenn in einem NPD-Mitteilungsblatt ein guter Artikel stehen würde, hätten vielleicht auch Sie kein angenehmes Gefühl dabei, ihn als Zeugen aufzurufen.
@Müller-Ortnau zum Neuen Deutschland. Aber vielleicht hilft Ihnen der Umstand, daß das ja nun mittlerweile eine ganz andere Generation ist, die das Blatt heute “macht”. Wenn Sie sich die in so vielen Westzeitungen gestromlinte Neigung zur Replikanz anschauen, kann solch ein “sozialistisch” vielleicht doch wenigstens ein Schienbeintritt des Widerstands sein. (Ich schreibe das von sozialistischen Gefühlen, gar einer “Klassen”zugehörigkeit völlig unbelastet und bin, wie Sie sicher gelesen haben, jeglich kommunistischer Praxis recht fern – aber weiß genau, welche Koalitionen ich heutzutage favorisiere: eine mit rechts ganz sicher nicht. Wobei ich dringend bitte, to whom it may concern, >>>> “rechts” von “konservativ” strikt zu unterscheiden.)
Neues Deutschland Kein angenehmes Gefühl ist die falsche Kategorie. Für Kunst und Künstler galt immer etwas anderes. Die ganze überlieferte Kunst seit dem 13. Jahrhundert wäre nicht denkbar ohne die Mäzene, die zugleich oft auch die größten Verbrecher waren. Heute ist Kunst auch ohne Staatsförderung und ohne die kapitalkräftigen Sammler / Mäzene nicht denkbar, bei denen das Geld meist auf eine Art und Weise verdient wurde, die selten der Vorstellung des Künstlers entspricht. Soll man ein unangenehmes Gefühl haben, wenn die Deutsche Bank für ihre Sammlung (eine sehr gute Sammlung) ein Werk kauft? Und wofür steht die FTD? Kann man sich nach der Bankenkrise noch auf eine Kritik in dieser Zeitung berufen? Dann die FAZ in den 60ern und 70ern: Konservativ bis dort hinaus und die Sperrspitze der westdeutschen Restauration. Ich erinnere mich noch gut an Bölls Bonmot über die Feuilleton der FAZ und die Haifische. Damals gab dieses Feuilleton einigen ihr Auskommen. Was also soll ich dagegen haben, wenn das ND einer offenbar guten Kritikerin die Möglichkeit gibt, zu schreiben? Gute Kritiker haben es ohnehin schwer und die Zeilenhonorare der Zeitungen sind gering genug.
profi parbleu! “S p e r r”spitze der deutschen Restauration, womit Sie gewiß die westdeutsche meinen, ist ein zu tiefes Wort, um ihm wirklich in alle Gänge nachgehn zu können.
PARBLEU grand malheur catastrophe
aber ein schöner Vertipper, gell, jedoch westdeutsch ist die Speerspitze doch schon bei mir
als ich es diktierte, dachte ich an den Buchtitel: Determinanten der westdeutschen Restauration nach (ab?) 1945 (suhrkamp?). Das Buch endet aber schon vor Beginn der 60er.
gegenwartsbezug…. >>>> da hat jemand eindeutig seine hausaufgaben nicht gemacht. hingegen >>>> hingegen das hier, und wenn’s hundert mal das blatt “neues deutschland” ist, eine ganz wunderbare beurteilung ist.
wenn ich das alles mal zurückdenke… sind es sinniger weise fast immer die ur-fassungen, die, wenn sich jemand wirklich auf sie einläßt, den gegenwartsbezug finden, die überarbeiteten versionen hingegen nie.
Lieber Herr Herbst,
ich möchte Ihre Leonore-Kritik gerne verstehen, aber ich verstehe sie nicht. Mir ist auch in den ersten 2 Stunden bis zur Pause nicht klar geworden, was Benedikt von Peter eigentlich sagen wollte. Ich finde das, was er als Pressetext rausgegeben hat, dass die Utopie nämlich noch vor uns liegt, sehr schön. Da ich die “Leonoren”-Urfassung sehr liebe, war ich mit den allergrößten Erwartungen reingegangen.
Ich hätte mich gefreut, wenn die Entsorgung von Opas Oper im Container (an sich noch keine große Leistung: das macht jede Generation mit ihren Vorgängern) den Blick, wie Sie schreiben, auf irgend etwas frei gemacht hätte: Doch auf was?
Wenn Rocco als bonhomme, der sich gern mal ein Bier genehmigt, dargestellt, dann ist das sicher die schwer erträgliche und unauflösbare Dialektik dieser Figur. Aber damit trat Jens Larsen auf der Stelle. Es führte zu nichts. Nichts rieb sich an ihm als Ratlosigkeit, phantasieloses vor sich hin Gespiele, Langeweile. Die Banalität des Bösen als Plattitüde. Wo ist da die von Ihnen gelobte Präzision der Inszenierung? Im übrigen finde ich es schon eine gewaltige Verharmlosung, wenn man einen Gefängniswärter, und zwar nicht irgendeinen, sondern einen, der Beihilfe zum Mord an einem Wehrlosen leistet, gleichzeitig mit einem Bühnenmeister gleichsetzt. Oder sind die heutigen, gewerkschaftlich organisierten Bühnenmeister die Mörder der Kunstgattung Oper?
Widerlich fand ich den Gefangenenchor, in den Wächter wie Gefangene einstimmen. Stellen Sie sich das mal in einer Diktatur vor: Herr Kim Jong-il und seine Opfer, Putin und Chorodowski, die chinesische KP und die Menschenrechtler… Nun kann man sagen: das ist der Zynismus der Gewalttäter (und die Dialektik der Gewalt: denn allzu oft werden die Opfer von gestern zu den Tätern von morgen, wie nicht nur das Beispiel Odenwald-Schule oder die junge DDR der einstigen Nazi-Opfer zeigt). Nur leider hat Herr von Peter wieder nichts daraus gemacht. Es bliebt bei der nackten, platten Behauptung. Ein Haufen kluger Ideen ist aber keine Konzeption. Ideen hat jeder.
Dann der alberne Pizzarro auf seinem Karnevals-Pferd. Man kann Gewalt so verspotten, dass sie zusammenkracht. Offenbach und Heine und Karl Kraus haben das gekonnt. Aber hier war das meines Erachtens sowas von geistlos-blöd. Vor allem wieder: was folgte für die Figur und unser Verständnis daraus. Die reine Behauptung, das Gewaltherrscher Popanze, arme Würstchen sind, ist doch billig wie Brombeeren (hätte man früher gesagt).
Dann: das von Ihnen viel gerühmte Spiel. Also Marzellines Spiel mit der Puppe Leonore – ich wusste vor Peinlichkeit gar nicht, wo ich hingucken sollte. Da wurde eine Sängerin in ihrer schauspielerischen Unbegabtheit wie ein Tanzbar am Nasenring ausgestellt. So war so bemüht, “intensiv” zu sein, dass sich die Balken bogen. Das muss man doch beglaubigen, dass diese Frau sich nach Fidelio verzehrt: bei Senta mit ihrem Bild funktioniert es; bei Hoffmann mit seiner Olympia funktioniert es; bei Kokoschka mit seiner Alma funktioniert es. Aber bei Fräulein Marzelline hat es nicht funktioniert.
Dann fanden Sie die Sänger so gut. Also in der Premiere hat Frau Petersen ihre Arie (“Komm, Hoffnung”) so falsch gesungen, dass sie sogar die Hörner rausgebracht hat. Und ich schwöre Ihnen: sie hat die Hörner rausgebracht, nicht umgekehrt. Ich kenne die Arie gut. Ich kann sie Ihnen jederzeit vorsingen. Und spreche da noch nicht mal von ihren “Damenschreien”=Spitzentönen, die sie völlig unkontrolliert und mit letzter Kraft irgendwo in die Höhe gepfeffert hat nach dem Motto: “Hauptsache, ich komme hoch; wo ich lande ist zweitrangig.” Ich spreche auch nicht von ihren schwindelerregenden Koloraturen, die sich durchkurvten wie eine Lastwagen-Kolonne auf einem Alpenpass. Ich spreche nur von ihrem Vierteltongesang.
Lieber Herr Herbst. Ich glaube nicht, dass man weiterkommt, wenn man die Deppen, die eine Inszenierung nicht (gleich) verstehen, als Hüter biedermeierlicher Nippes-Figuren und etabliertes Galapublikum mit Pensionsansprüchen abkanzelt. Ich glaube, dass ich ziemlich geübt bin im Auskniffeln schwieriger und dekonstruktivistischer Inszenierungen. Ich liebe es, wenn eine Inszenierung mir ein Werk völlig neu zeigt, meinetwegen auch gegen die vorgeblichen Absichten der Autoren, und dabei alle meine Vor-Urteile hochgehen lässt. Aber bei dieser Inszenierung hab ich nach einer Stunde die Waffen gestreckt, mein Hirn unterm Sitz verstaut und das ganze Theater nur noch über mich ergehen lassen. Ich halte es für politisch extrem gefährlich, wenn man die Menschen im Theater dazu erzieht, ihr Hirn an der Garderobe abzugeben. Sebastian Baumgartens Danton am Maxim-Gorki-Theater ist auch so ein Fall.
Ich las Ihre Kritik in der Hoffnung, hier vielleicht zu verstehen, dass etwas Interessantes, Aufregendes, mir vielleicht sogar Neues in der Inszenierung drin steckt, deren Absicht, die Utopie als etwas vor uns Liegendes zu zeigen, mich so berührt hat.
Aber auch: die Leidenschaft aus Glück habe ich nicht gehört, noch erlebt. An dem Klang-Design fiel mir nur sein mangelndes Rhythmus-Gefühl auf. Damit meine ich das Verhältnis von Pausen, gesprochenen Passagen, Klang und Musik. In wieweit es Beethovens Motivik oder Rhythmik aufnahm und ins Zeitgenössische verlängerte, ist mir völlig unverständlich. Das wäre eine Spannende Geschichte gewesen, was ja in der Kostümierung auch nur angerissen, aber nicht ausgegoren war: die Spannung zwischen 1789, 1805 und heute. Und dann noch in einer Art Weiter-Komponierung der Musik. Tja, aber dazu fehlt Herrn von Peter, scheint mir, dann doch die künstlerische Potenz.
Das Einzige, was mich von Anfang an belustigt und unterhalten hat, war das ständige Pochen und die angefangene Florestan-Arie im Container. Das war ein Offenbachischer Witz. Der aber leider keine Folgen hatte. Die Phantasie hat den Container nicht gesprengt. Die Utopie auch nicht. Sie sind dort nicht mal drin erstickt. Nichts. Einfach ein Schulterzucken des Regisseurs. Ich weiss auch nicht. Ja, wenn er es auch nicht weiss, dann soll er den Mund nicht so voll nehmen und seinen Job machen: nämlich versuchen, auf die Höhe Beethovens zu kommen so gut es geht. Wenn er ein Genie ist, darf er alles machen. Wenn er uns statt dessen etwas geben kann, darf er das Stück auch kurz und klein schlagen. Aber einem einen Haufen “Ideen” hinknallen, die jeder intelligentere Gymnasiast hat, und dann die Schultern zu zucken und zu sagen: Ich weiss auch nicht weiter. Ich weiss auch nicht, wie man das alles in eine Logik kriegt. Ist das nicht ein bißchen unbedarft?
Ich habe nichts gegen Herrn Peter. Jeder soll sich nach seiner Fasson blamieren, heißt es bei Danton. Aber “absolut grandios”? Hm!? Versteh ich nicht.
Herzliche Grüße
Ihr Boris Kehrmann
P.S.: Etwas erstaunt war ich auch über Ihre positive Bewertung der Musik von Lucia Ronchetti (“Der Sonne entgegen”). Das “Dies irae” am Ende war doch der bahre Kitsch. Und die Talkshow davor, aus der sie gar nichts mehr gemacht hat, ein Offenbarungseid. Was fanden Sie denn bemerkenswert an der Musik?
Lieber Herr Kehrmann, es ist ganz offenbar, wie verschieden wir auf diese Inszenierung schauen; das entspricht übrigens völlig der kleinen Applaus-und Buh-Schlacht, als der Vorhang fiel und sich wieder hob. Es zeigt zudem, wie lebendig diese Kunstform Oper ist und, kurz, daß uns ganz offenbar je andere Wahrnehmungen, oder auch Falschnehmungen, berühren.
Ich selber, Sie werden das gemerkt habe, schreibe aus meinen Begeisterungen heraus, und von Peters Inszenierung h a t mich begeistert. Also versuche ich, das meinen Lesern zu vermitteln und sie vielleicht mit meiner Begeisterung anzustecken. Ich habe in aller Regel keine Ideal-Vorstellung einer Inszenierung in mir, sondern lasse mich eigentlich immer erst einmal ein auf das, was ich zu sehen und zu hören bekomme; nur bei wenigen Stücken bin ich, sagen wir, voreingenommen, solchen, denen ich aus welchen Gründen auch immer ständig nah und für die ich darum empfindlich bin. Fidelio/Leonore gehört nicht dazu. Bislang hatten mich alle Aufführungen (auch Einspielungen), die ich sah, sehr kühl gelassen – mit Ausnahme einer Leonore am Bremer Theater der Endsiebziger unter Hermann Michael mit Wilfried Minks’ mir unvergeßlichem Bühnenbild. Von Peters Inszenierung riß mich nun sofort mit, und es ging meinem mich begleitenden besten Freund ebenso und vielen anderen, die da waren. Meinem väterlichen Freund DB, meinen Wahlvater nenne ich ihn, wiederum, der aufgrund meiner Rezension eine Aufführung besuchte, ging es ganz ähnlich wie Ihnen, wenn auch unter anderen politischen Perrspektiven, bei denen wir ohnedies oft differieren.
Was die Musik anbelangt, so schneide ich, wenn ich eine Kritik schreiben soll und will, die Aufführung nahezu immer mit und überprüfe dann vor und während des Schreibens meine Eindrücke. Oft sind sie dann anders, in diesem Falle bestätigten sie die direkten Eindrücke des Vorabends.
>>>> Zu Ronchetti.
Daß das Dies Irae Kitsch war, bestreite ich nicht. Es gibt aber Kitsch, den ich mag; ich erinnere mich, daß ich die Musik handwerklich gut gemacht fand; es ist aber nicht meine, also halte ich mich mit Verurteilungen ohnedies zurück. Nicht so bei der Inszenierung, für die ich mit Ihnen völlig konform gehe: das war schrecklich, fast noch öder als >>>> Ruzickas Hölderlin, was einiges heißt. Doch Mussbach ist wenigstens Profi, während hier ein schlecht geführtes Schülertheater am Werk war.
Wie auch immer: Danke, daß Sie sich für Ihren Kommentar so viel Mühe gemacht haben. Es paßt in Die Dschungel gut, wenn verschiedene und vor allem so, wie bei Ihnen, begründete Meinungen unter- und nebeneinanderstehen, unabhängig davon, ob sie den meinen entsprechen.
Ihr
ANH
Lieber Herr Herbst,
wollen Sie mir nun nicht doch erklären, was Sie z.B. an dem Kindergeburtstags-Pizarro (Hoppe, hoppe Reiter) oder an dem Gefangenenchor, der zwischen Tätern und Opfern, Wächtern und Bewachten nicht mehr unterscheiden will oder was auch immer so toll fanden?
Es geht ja überhaupt nicht um die Frage, ob einem das gefällt oder nicht, sondern einfach darum, was jemand darin sieht.
Herzliche Grüße
Ihr Boris Kehrmann
P.S.: Meinen Sie, dass wir uns politisch unterscheiden oder war das auf Ihren Wahlvater bezogen?
Und der Bremer Fidelio: War das nicht der Lehnhoffsche mit den Enzensberger-Texten?