Barenboims Mahler. Berlin, März 2010. Philharmonie und Konzerthaus Berlin.

Ich habe bei Menschen mit Macht – nicht unbedingt identisch mit Machtmenschen – ein Autoritätsproblem; allein, daß sie Macht h a b e n, verlangt Rebellen, denn Macht führt nahezu immer zum Mißbrauch; es spielt keine Rolle, für was oder wen diese Macht vermeintlich oder tatsächlich steht (gegenüber Außenseitern und radikalen Querköpfen sind meine Vorbehalte geringer). Manchmal treten aber doch Mächtige in mein Blickfeld, vor denen selbst ich mich verneige. Daniel Barenboim gehört dazu – nicht nur seines musikalischen, kann man unterdessen sagen, Genies halber, sondern weil er es und seine Macht der Menschlichkeit widmet. Sie heißt immer: Politik, und die, die Barenboim vertritt, wäre ohne seine Macht nicht möglich. Kein Orchester des Westöstlichen Diwans ohne sie, aber wohl auch diese vollkommene Virtuosität nicht, die den Mann sowohl „mal eben” als Solisten >>>> beide Chopin-Konzerte „mit einer kleinen Hand”, schreibt Benn, dahinspielen, indes sich auch nicht zieren läßt, zur Nachtzeit in den Clubs Piazolla seine Referenz zu erweisen, und nicht die manchmal etwas ausgestellt generöse Art, durch Monumental-Partituren zu schwimmen, als hätt er ihre Kiemen und man müßte nur hier und dort leicht einmal steuern, wie wenn sparsamstes Justieren mit den Seitenflossen schon genügt.
So war auch das Dirigat gestern nachmittag; bisweilen sah es statisch aus, wie sahn ja nicht die Augen. Bei den Naturtönen blieb Barenboim oft einfach stehen und l i e ß die Musiker. Dort aber, wo etwas gewollt Geziertes in der Musik ist, wo sie die U-Musik ihrer Zeit – heute würde man sagen: den Pop – zitiert (denken Sie an den vom Ehepaar Mahler geliebten Léhar-Walzer aus der Siebten), erlaubt er uns die ironische Geste: kleine Verbeugung vor den Geigen anstelle des Risses, den Adorno konstatierte. Das hat manchmal etwas von angedeutetem Ausdruckstanz, ist von völliger Leichtigkeit und, ja, frei. Dafür wird er bei den Cluster-Stellen, den Klangschichtungen, ausgesprochen lebendig, und zwar auch dann, wenn die rechte Hand kaum den Takt schlägt; die linke aber, sie erzählt von der Musik. Hatte ich’s nicht s o gemeint, als ich meinem Zehnjährigen riet, der dabeiwar?: „höre dieser Sinfonie zu, als sähest du einen Spielfilm.”
Gustav Mahler, im Denken Alfred Rollers, hat immer genau den Raumklang im Ohr gehabt und setzte die Orchestermusiker je nach Spielstätte um. So nun auch hier, im Konzerthaus: Die Celli in der Mitte, die Geigen je rechts und links – und, sehr ungewöhnlich: die zwei Harfen rechts Mitte hinten, die Kontrabässe hinten links. Der Saalklang dankte das. Freilich, ich hätte vergleichen sollen: das gleiche Konzert wurde bereits am Donnerstag abend in der Philharmonie gegeben.
Barenboim schafft es, besonders im ersten, nicht nur seiner Dimensionen wegen immer ein wenig gefährdeten Satz, daß er trotz bisweilen gehaltener Tempi nie schleppt: auch hier folgt er dem Komponisten selbst, der das mit Ausrufezeichen in seine Partituren notierte, wohl wissend, welche Gefahr da droht… nicht nur in der Dritten, sondern generell. Denn der Zusammenhang der Themen und kompositorischen Verarbeitungsmodi läßt sich nicht durchweg gleich mitvollziehen; in den Schichtungen nähert sich die Komposition der Montage; zum Umschlag in die Moderne ist da nur ein kleiner Schritt. Barenboim bindet Mahlers frühe Sinfonik aber sehr bewußt zurück, nämlich an Wagner; selten habe ich den Tristan so sehr herausgehört wie gestern aus dem letzten Satz. Mag sein, daß sich Barenboim genau darüber Mahler erschlossen hat; seine ersten Bayreuther Ring-Aufführungen (ich habe sie seinerzeit aus dem Radio mitgeschnitten) gehören in all ihrer Ruppigkeit und ihrem Schmelz zu den mir liebsten Aufnahmen überhaupt. Entsprechend glättet Barenboim den ersten Mahlersatz der Dritten nicht, wodurch dann wieder, wenn er, man muß sagen: lauscht, Fernwirkungen auch innerhalb des Orchesters zustandekommen, die einen völlig benehmen in dem archetypischen Märchenton. Dafür wird das eigentliche Ferninstrument, Posthorn, dritter Satz, das aus den kargen Gängen spielt, die neben und hinter der Bühne laufen, völlig unsentimental, fast kühl vorgeführt. Und erschreckend fallende, fast gleitende Geigen: konsequenterweise spielt die Klarinette im „Urlicht”, als wär’s Klezmer. So habe ich das nie zuvor gehört. Waltraud Meier nimmt sich sanglich zurück, wird Stimme unter Stimmen, nicht Diva in dem Menschheitszug. Als sie das „erbarme dich über mich” sang, dann schwieg und sich setzte, wurde mir klar, das Erbarmen würde der folgende sechste Satz sein. Und war es. Wie Barenboim die Steicher seiner Staatskapelle da immer wieder nachdrängen läßt – er selbst eine Hand in der Hosentasche, während die Kontrabassisten so tief über ihre Instrumente gebeugt sind, als lauschten sie in sie hinein (was sie wohl auch taten)… – wahnsinnig schön gehaltene Vorausklänge an Mahler IX sodann, und plötzlich – ja, auch für die überraschend, die Mahlers Sinfonik aus dem ff kennen – da leuchtet das Veni, Creator Spiritus der Achten so viel früher voraus –
Vielleicht ist es so, daß zu den deutlichen Phasen des barenboimschen Musikerlebens seit zwei Jahren eine wiederneue hinzugetreten ist und etwas also begonnen hat, das ich seine Ära Mahler nennen will. Es wäre uns zu wünschen – vielleicht auch dem lang schon verstorbenen John Barbirolli, dessen Erbschaft hier angetreten zu sein scheint. Barenboim gibt ihr eine Jugend dazu, die aus vielgelebtem Leben stammt und aus, wichtig, unbeirrtem Zukunftsglaube.

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