Arbeitsjournal. Montag, der 22. Februar 2010. Nach dem Fall Söllner nun mit dem „Fall” Peter Grosz.

10.35 Uhr:
[Am Terrarium. Dilg, Otello.]
Um zehn vor sechs erreicht mich eine SMS. „Habe die ganze Nacht gekotzt. Kannst Du bitte die Kinder in den Kindergarten bringen.” Ich sofort drüben angerufen, erschreckend mattes Stimmchen, also nicht duschen, nicht ans Arbeitsjournal, auch an die Rezension noch nicht wieder, sondern schnell was überwerfen und ab. Dauert. Das dauert, wenn man sein Fahrrad nicht benutzen kann, weil man vorabends am Terrarium den Schlüssel nicht fand und zu Fuß zum Schreibtisch schleppte mit zwei Celli, damit der Junge seines auch gleich hat, wenn er aus der Schule kommt und nach dem Mittagessen gleich zum Instrumentalunterricht weitermuß: d i e also u n d den Rucksack mit dem Arbeitszeug des Tages.
„So kannst du auf keinen Fall arbeiten.” Also Telefonate. Dann die Kinder fertigmachen, der Große zieht ab, jetzt sind die Lütten dran, und von meinen letzten fünf Euro die U-Bahn-Tickets gekauft und los. Danach zurück, aber eine Station weiter, um mit der S-Bahn schnell zur Prenzlauer zu kommen und von dort in die Arbeitswohnung hoch, alles zusammenpacken, abermals nach dem Schlüssel suchen, den Ersatzschlüssel fürs Fahrrad suchen und wenigstens i h n finden, dann duschen, neue Wäsche, eincremen, Arbeitszeug zusammensuchen und abermals abziehn. Jetzt sitze ich am Terrarium, vor mir liegt लक und schläft immerhin; ich bewache sie. In zwei Stunden muß ich für den Großen Mittagessen kochen und bis dahin irgendwie noch etwas Geld auftreiben, damit ich auch einkaufen kann.
Als ich vom Musikkindergarten zur U-Bahn spaziere, erreicht mich ein Anruf des Finanzamts, das ich um eine Fristverlängerung gebeten hatte. Das sei jetzt zu spät, ich sei bereits wieder geschätzt worden, das tue ihm, dem Sachbearbeiter, leid. Freundliche, sehr freundliche Stimme. „Die Schätzung geht am Donnerstag raus.” „Dann muß ich wieder Einspruch einlegen.” „Deshalb rufe ich an, um Ihnen das zu empfehlen. Aber die Schätzung ist eh nicht hoch. Doch immerhin haben Sie dann den einen Monat mehr, den Sie brauchen.” „Ich danke Ihnen.” „Vergessen Sie aber auf keinen Fall, auch die Aussetzung der Vollstreckung zu beantragen.” „Ah, stimmt, das hatte ich beim letzten Mal vergessen.” „Ja.” „Dank Ihnen.” „Gerne.” „Haben Sie einen schönen Tag.” – Sehen Sie?: Menschen.

Aber mit meiner Arbeit wird das heute n i c h t sehr viel. Wie kann einer derart gelassen werden, wie ich es neuerdings bin? Alarmzeichen? Oder einfach nur: Einverständnis mit meinem Leben?

11.39 Uhr:
Ahhh! Ich kann 150 Euro besorgen. Das mach ich dann gleich mal. Und kauf am Rückweg ein.

23.39 Uhr:
[Arbeitswohnung.]
Zunächst einmal >>>> das.
Außerdem >>>> jenes.

Bin soeben erst an den Schreibtisch zurückgekommen, bis dahin war ich am Terrarium. Nun gibt es, nach dem >>>> „Fall Söllner” auch einen >>>> „Fall” Peter Grosz; auch damit hatte ich gerechnet. Nunmehr bin ich allerdings entschieden, einige Hintergründe zu erzählen, die die Öffentlichkeit so nicht kennt, bzw. die ihr verschwiegen oder über die sie hinweggetäuscht wird. Nicht, daß die Öffentlichkeit das tatsächlich interessierte, sie ist ja über Skandale froh, aber ich kann ihr eben auch einen geben. Vielleicht sollte man ihn vorab einmal den, selbstverständlich ganz anders gelagerten, „Fall Wagner” nennen – nein nein, ich behaupte ganz bestimmt nicht, auch er sei ein Spitzel gewesen. Doch einige andere „Fälle” und eine Tendenz insgesamt sind daran angeklammert, um die es bei alledem eigentlich geht. Allerdings sind vorher Gespräche zu führen: einfach, um abzuklären, inwieweit meine Intervention Menschen schadet, denen genug geschadet worden ist, oder inwieweit sie ihnen hilft. Hier gilt der Löwinnensatz “Herzenswärme ist wichtiger als Gerechtigkeit.” Er ist das allererste Gebot. Ich habe jetzt schon fast vier Stunden lang unentwegt darüber telefoniert. Es muß recherchiert werden, was leicht ist, aber viel Zeit kostet, viele viele Kleinlichkeiten, Preziosen, die von „präzise” kommen. – Ja. Dies ist ein erster Warnschuß und ist, wie es einem solchen ansteht, noch in die Luft gezielt.

Im übrigen die Familie versorgt, lauter Alltagskram, der mich nicht arbeiten ließ. Zwischendurch in Windesweile noch ein Lektorat übertragen, aber die Lösung, die mir einfiel, ist schlecht; es gibt eine viel einfachere, nur daß es dazu jetzt wahrscheinlich zu spät ist. Dann mußte ich meine Cellostunde absagen. Allmählich wird dieser Unterricht zu teuer für mich, weil ich, ohne doch eigentlich überhaupt Geld zu haben, ständig etwas bezahle, das ich kaum mehr wahrnehmen kann. Vor der logischen Konsequenz scheue ich aber zurück; sie würde, entspräche ich ihr, mich sehr traurig machen.

5 thoughts on “Arbeitsjournal. Montag, der 22. Februar 2010. Nach dem Fall Söllner nun mit dem „Fall” Peter Grosz.

  1. Lieber Herr Herbst,

    ich bin jetzt in den Dschungeln registriert. Ich wollte eingangs eigentlich etwas von Rudyard Kipling zitieren, aber ich finde das Buch nicht.

    Ich musste bei der Registrierung auf den Akzent d’aigu in meinem Namen verzichten, weil der als Sonderzeichen gilt und die sind nicht erlaubt. Das tut weh. Das ist ein Teil meines Namens und ich liebe meinen Namen. Es gibt keinen anderen Menschen, der so heißt wie ich. Jedenfalls habe ich noch keinen entdeckt. Und wenn ich jemals eine andere entdecke, dann bin ich sicher nicht erfreut! Selbstverständlich liebe ich den Namen, weil die Zusammenziehung von Vor- und Nachname diese ungewöhnliche Bedeutung ergibt, die ich ja auch durch die Gestaltung meiner eigenen Seite betone. Und dennoch entsteht durch diese winzige Nuance, diese kleine Abweichung eine Differenz: der Akzent rettet mich davor, tatsächlich nur eine Methode zu sein oder eine rhetorische Figur. Aber sei‘s drum.

    Was die Löwin sagt “Herzenswärme ist wichtiger als Gerechtigkeit” das ist ein schönes Motto. Und es ist in nahezu hundert Prozent der Fälle sicher auch richtig. Aber in einem von hundert, in einem von tausend Fällen ist es das nicht. Und vielleicht ist der Zusammenhang in dem Sie das Motto erwähnt haben ein solcher Fall.

    Als ich mein Blog konzipiert habe, wusste ich, dass der Zugang ein literarischer sein sollte, selbst wenn sich nicht ausnahmslos alle Artikel um Bücher drehen. Es gibt ja Literatur auch außerhalb von Büchern. Und sogar ziemlich heftige. Ich wollte einen erzählenden Zugang und ich habe mich bei der Konzeption entschlossen, nichts über Politik zu schreiben. Deswegen habe ich mich auch nicht zu dem Erdbeben in Haiti geäußert und zu vielen andern Umständen. Und ich sage auch nichts zu aktuellen Ereignissen in Rumänien oder zur Securitate. In meinem ersten Roman habe ich dieses Thema außen vor gelassen. Ich schreibe und konzipiere gerade meinen zweiten. Und da spielen politische Umstände eine Rolle. Weil ich gerade lerne, dass ich mich aus machen Sachen nicht heraushalten kann.

    Die Securitate: Ich bin sehr gespannt, wie Sie sich verhalten werden und welche Meinung Sie vertreten. Bisher schätze ich Sie so ein, dass sie kein Blatt vor den Mund nehmen und keine Konfrontation scheuen.

    Auch die mit Ihren Kommentatoren nicht. Ich kenne Ihre Erwägungen nicht, warum Sie das zulassen, was zum Beispiel gestern Abend hier passiert ist. Sie werden Ihre Gründe haben. Was ich aber wirklich nicht verstehe: haben diese Leute nichts anders zu tun, als Sie und einander durch wahre und halbwahre Pseudonyme mit Schlamm zu bewerfen? Die sind doch hier zu Gast, da muss man doch ein Mindestmaß an Benehmen mitbringen. Ich finde das ziemlich armselig. Aber vielleicht ändert sich das ja auch wieder? Ich bin ja auch gerade erst einmal eine Woche dabei. Oder sind‘s schon zwei?

    Herzlich (und mit Akzent und Betonung auf dem ersten Vokal)
    Aléa Torik

    1. Liebe Aléa Torik, im einzelnen reagiere ich morgen oder übermorgen, vielleicht bereits morgen aus dem Zug. Was die Securitate anbelangt, ist meine Haltung ausgesprochen deutlich; sie ist aber ebenso deutlich, wenn es insgesamt um Vernichtungen von Menschen geht, egal aus welcher Richtung. Und mit Vernichtung meine ich nicht leichte Denunziationen, sondern, ich zitiere wörtlich: “Den schlachten wir!” Rache halte ich für keine angemessene Option, zumal wenn bewußt inkauf genommen wird, daß auch objektiv Unschuldige – objektiv, insofern andere in einem in Rede stehenden Zeitraum noch gar nicht lebten – mitgeschädigt werden. Sogenannte Kollateralschäden finde ich inakzeptabel. Und die Dinge sind selten so, wie sie offiziell dargestellt werden. Als ich noch an der Börse war, hatte ich einen sehr reichen Kunden, F.T. Der Anschlag auf Herhausen wurde verübt. Man sprach von der dritten Generation der RAF als den Tätern. Da nahm mich der – ultrakonservative – Kunde beseite und sagte in seinem sehr bestimmten Dialekt: “Herr v.R., wenn so etwas geschieht, müssen Sie immer fragen: Wer hat etwas davon? Also: Was hat die RAF von Herhausens Tod? Nichts. Aber andere… denken Sie nach!” F.T., der als Kind aus Nazideutschland hinausgeschleust worden war, weil ihm Vernichtung drohte, hat mich damals vieles gelehrt… ausgerechnet mich, einen aus dieser Familie. Ich habe allen Grund, ihm dankbar zu sein. Ich werde also die Frage stellen und auch Antworten geben: Wer i s t das, der da inkauf nimmt? Und wer hat etwas – und was – davon?

      Ich werde aber jetzt, im Vorfeld, nicht mehr von dem erzählen, was einer längeren Arbeit, die nun schnell geschrieben werden sollte, vorbehalten bleiben muß.

      Fein, daß Sie hier sind.

      ANH

      Und ja: das mit dem Akzent ist sehr mißlich.

  2. Das hatte ich vergessen Das wollte ich noch sagen, hatte ich aber vergessen – das Wort Securitate hat mich rausgebracht -: Ich wünsche Ihnen eine schöne Lesung und gewogene und gespannte Zuhörer und Zuhörerinnen. Und hübsche Zuhörerinnen, das soll man nicht unterschätzen.
    Aléa Torik

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