Helsinki 8: Reise-, Konzert- und Arbeitsjournal. Sonntag, der 23. August 2009. Helsinki und Berlin.

10.17 Uhr:
[Helsinki, Hotel KlausK.]
Jetzt aber fix! Hab bis eben >>>> die Kritik zu gestern abend geschrieben und muß jetzt schnellstens zusammenpacken, weil ich um elf Antti Siirala treffe, allerdings hier im Hotel, doch bis zwölf ausgecheckt haben muß. Also keine Zeit fürs Journal. Ob ich vor heute abend in Berlin noch mal drankomme, ist ungewiß.
Guten Morgen, Leser.

10.45 Uhr:
[Vor dem Hotel, Straßenterrass’chen.]
Es hat leicht geregnet. Ich lese über Magnus Lindberg, denke an den Mahler von gestern, bin wieder einmal unsicher, was ich mit einem Instrumentalisten besprechen soll; bei Komponisten ist das ganz anders, da sind die Anknüpfungspunkte sofort da. Übrigens stand gestern abend >>>> Hakola wieder da, im unteren Foyer der Finlandia-Halle: wie völlig allein, ein Brocken, man weiß nicht, ob abwesend, abweisend oder ob einfach nur in sich selbst. Jemand, dachte ich, von dem zu lernen wäre. Vielleicht. Ich neige zu Idealisierungen, ich weiß; ich neige ihnen aber g e r n e zu. Dennoch, erst einmal alles anhören, vor allem die Opern interessieren mich.
So nehme ich Aufgaben mit nach Berlin, wobei deren Zufälligkeit mir durchaus bewußt ist; wahrscheinlich wäre es beim und nach dem Besuch irgend eines anderen Landes, das mir solche Kontakte ermöglichte, gar nicht anders: auch da, überall, sprießen Talente und Könnerschaften und Ideen.
Sonntagsmorgen-Normalität. An meiner kleinen Reise nicht-touristisch ist die Möglichkeit gewesen, sowohl etwas nach innen zu schauen als auch, Berührungs mit Repräsentanzen bekommen zu haben, im übrigen aber immer meiner eigenen Wege (und Meinungen) zu gehen (auch wenn ich sie fast stets nach etwas Zeit revidieren muß). Schaum fällt mir ein, latte macchiato, oben weiß; darunter aber schmeckt es bittrer – sofern man nicht süßt.
Vor mir liegt das Gebirge von >>>> ARGO.

12.49 Uhr:
[Noch immer vor dem Hotel, zigarrillorauchend.]
Nettes Gespräch mit Siirala, sehr schönes Gespräch danach mit meiner Betreuerin, Frau Aho, über die finnische Situation allgemein, das (zu) hohe Preisniveau (Lebensmittel!), die Leere des hinteren Landes, über Bären, die aus Rußland hereinkommen, über das finnische Selbstverständnis und die EU; es ist eine junge Nation, keine hundert Jahre alt, etwas, das man ständig mitdenken muß und was auch den Stolz mitbestimmt, den man für die eigene Kultur empfindet; mir auffällig war, wie wenig sichtbar die sicher existierenden Klassenunterschiede hier sind, ich sprach das selbstverständlich an; über die nicht nur wenig zu bedeutende Rolle, die Nokia ökonomisch erobert hat, sprach ich bereits mit Heino am Freitag. Interdependenzen von Kultur und Wirtschaft usw. Dann die Rolle, die nach wie vor die Kalevala für Finnland hat; „weshalb?“ fragte ich den jungen Oramo gestern. Es sei, antwortete er, Pflichtthema in den Schulen. Vergegenwärtigt man sich den Umfang des Mythos’, kommt man dann schon ins Staunen; wiederum wird einem der Sachverhalt eben sehr klar, wird das junge Alter dieser Nation bedacht und daß man Identifikationspunkte braucht, um so mehr, als selbstverständlich auch hier Markt-Pop über alles hinüberspült, also die globalen Interessen der Unterhaltungsindustrie nachdrücklich zugepackt haben usw usf. „Sie sangen einander in den Staub“, zitierte Lindberg die Kalevala, „aus dem Gedächtnis, frei“, sagte er, „aber der Sinn geht in die Richtung.“ Eben nicht: sie schlugen einander in den Staub. Das sind so Partikel, die haften und die ich mitnehmen werde, ebenso wie die mehrfach geäußerte Meinung, die finnische – eben auch die zeitgenössische – E-Musik sei von finnischer Folklore nach wie vor beeinflußt; etwas, das ich nicht beurteilen kann, weil ich sie überhaupt nicht kenne, nicht mal eine entfernte Ahnung davon habe. „Archaisch“ nannte sie Siirala vorhin und stellte ein weiteres Mal auf >>>> Kaveli Aho ab, um dessen Werk ich mich in Berlin kümmern will, mehr noch allerdings um >>>> Kimmo Hakolas, dessen persönliche Erscheinung ziemlich in mir nachwirkt, so ruppig und felsig, so – dem Wirken nach – kompromißlos. Ich kann mich irren, klar, aber meist ist es gut, meinem Instinkt zu folgen.
In anderthalb Stunden wird mich ein Taxi hier am Hotel abholen, dann geht’s heim. Ich denk mal, ich werd noch einen kleinen abschließenden Spaziergang machen und dabei vor mich hindenken oder auch wegdenken.

19.21 Uhr (deutscher Zeit/MEZ):
[Arbeitswohnung, Hakola, Klavierkonzert. Klingt auf der Anlage
mit den ProAcs noch mal ganz anders, erheblich präsenter, auch drän-
gender.]

Zurück. Postkasten geleert, aber die Eingänge noch nicht gesichtet, sondern den Laptop eingeschaltet, eine kleine Pfeife gestopft und mir einen Talisker eingeschenkt. Beim zollfreien Einkauf in Berlin gab es ihn, da durfte ich aber nich nicht; in Helsinki gab es ihn nicht, auch keinen Ardbek, nur die Standards. Egal. Erstmal auspacken. Den Profi angerufen, ob er… vielleicht … später: >>>> Bar…? Aber keinen erreicht.

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