Helsinki 7: Salonens Mahler. Das dritte Konzert. Finlandia-Halle: Saariaho – Sibelius – Mahler. Helsinki, 22. August.

Einhundertfünf Jahre alt ist Mahlers Sechste unterdessen, und manche wirkungshistorische Ideologie, namentlich von Adorno auf den Weg gebracht, ist verblaßt; ihre Wirkung ist dennoch, das zeigt >>>> Esa-Pekka Salonens Interpretation deutlich, ungebrochen, auch wenn mit Recht weniger auf „Aussage“ gesetzt wird, gar auf biografischen Hintergrund (die drei Hammerschläge, die den Komponisten „fällten“ usw.). Vielmehr macht Salonen deutlich, welch eine musikalisch glühende Arbeit hier vorliegt; das betrifft auch das von Adorno so genannte „Katastrophische“ dieser Musik, besonders im Schlußsatz, wenn die riesigen Klangmassen unaufhaltsam und vom Hammerschlag fast nur mühsam unterbrochen, weniger aufeinandertreffen, wie das in Collagen der Fall wäre, als sich ineinander vermahlen, oft mit gegenläufigen Rhythmen, oft nur um Bruchteile gegeneinander verschoben. Wir haben in den vergangenen Jahrzehnten solche Ungleichzeitigkeiten, die eigentlich Fast-Gleichzeitigkeiten sind, zu hören gelernt, Reibungen, Risse; bei aller Feuerköpfigkeit verliert Salonen genau diesen Aspekt nie aus dem Blick, er leitet die Musik „tatsächlich“, wobei er etwa die Tempodifferenzen in den einzelnen Sätzen tendenziell noch verstärkt, ohne daß er sie zelebrieren würde. Da klingen dann die Idyllen in der Solo-Geige viel weniger idyllisch als eher meditativ, ja rücklauschend, und drängen sich im Ton eben nicht solistisch vor. Vor allem befolgt Salonen Mahlers ziemlich berechtigte und häufige Partitur-Mahnungen „nicht schleppen!“ aufs Präziseste; schlagen ein langsames Tempo und dann wieder der maschinenartige Marsch aufeinander, gibt er häufig momentlang ein schnelleres Tempo vor, wodurch dann eben der Riß nicht überdeckt wird, aber der musikalische Fluß nicht einen Moment der Gehemmtheit kennt, kein Stocken, kein retardierendes Stutzen der Zeit. Das ist großartig gemacht, ebenso wie besonders der Klarinettist des Philharmonic Ochestra genau den musikantischen Ton trifft, den Mahler gemeint haben wird, mit kurz punktieren Seufzern, denen ihr Zigeuner-Ursprung anzuhören bleibt, ohne Schönung, aber wunderschön in der klanglichen Linie geführt. Die Bläser insgesamt, durchweg, strahlen in sensibelsten Farben; wie etwa die Trompete ihren Ton nach„ziehen“ läßt, ohne daß das ein Echo wäre, geht ziemlich ans Herz. Doch auch und sogar die Celli setzen ihren Character, nämlich gegen die sperrigen Kastenakustik der Finlandia-Halle, immer wieder durch.
Es ist nicht ganz klar, weshalb Salonen den musikideologisch am wenigsten belasteten Satz der Sinfonie, das Meisterstück des Scherzos, in alter gegenmahlerscher Tradition nach wie vor an zweiter Stelle spielt: die ästhetischen Folgen sind für das Klangerleben enorm; ob da eine Angst herrscht, das Publikum komme ohne den Ruhepunkt, die Erholung sozusagen, vor dem ungeheuren vierten Satz nicht aus? Dabei gibt Salonen, der im übrigen völlig ohne Show dirigiert, doch genügend Entertainment: etwa wenn er die Kuhglocken nicht aus dem Orchester, sondern wie Mahlers frühe Trompetenrufe als quasi Fern-Orchester spielen läßt – keine sehr gute Idee, weil es die Konzentration stört und, wie im übrigen auch der berüchtigte Hammer, der hinten bei den Schlagzeugern riesig sichtbar allezeit daliegt, nicht ohne unfreiwillige Komik ist. Was sowieso den Hammer anbelangt, wäre besser insgesamt über eine andere praktische Lösung nachzudenken, als daß man die Partitur materialgemäß ausführt. Der Schock ist längst verflogen, schon weil wir in den vergangenen hundert Jahren ganz andere Lautstärken zu ertragen und, ja, auch zu genießen gelernt haben: jede Techno-Nacht verschafft größere und dauerhaftere Schocks als solch ein Struwwlpeter-Hammer, bei dem man auflachen muß, wenn der Mann im Frack ihn schwingt. Gut hingegen Salonens Idee, die Glocken des vierten Satzes vom Rang spielen zu lassen; gut deshalb, weil sich ihr Klang, anders als der der Kuhglocken, nicht eindeutig orten läßt: das erfüllt das kompositorisch Gemeinte in seiner ganzen Ungefährheit, die ja überhaupt bei Mahlers „Fern“klängen gemeint ist; imgrunde sind sie bereits bei ihrer Entstehung ferne Erinnerungen gewesen: das genau meint ja die Komposition, und zwar unabhängig vom biografischen Hintergrund. In diesem Sinn, ungefähr und doch plastisch, wäre besonders den Geigern zu wünschen, sie lernten noch, die kleinen Seufzermomente am Ende ihres Aufschwungstrichs zu spielen: das ist aber keine Frage der Technik, sondern eine der gewordenen, durchlebten Mentalität und insofern unstatthaft, es zu fordern. Allerdings bekam ein Engländer es hin, Italo-Engländer, nun gut: John Barbirolli mit dem London New Philharmonic Orchestra, in den wilden Umbruchsjahren der endenden 60er. Und melancholischer „Schmelz“ liegt den Finnen –
wie bei dem zweiten Werk des Abends zu merken war: Sibelius sauschwierigem Violinkonzert, das die jungberühmte Geigerin >>>> Leila Josefowicz geschmeidig wie eine Raubkatze spielte, enorm präsent in den Beweglichkeiten ihrer Erscheinung, exakt auf den Ton, der immer schön ist, gestimmt, bis hin ins oszllierende Pfeifen der Flageoletts – mit einer Tendenz zur Geschwindigkeit, ohne daß sich das virtuose Element allzu vorspielen würde – gerade bei Sibelius’s Stück sehr wichtig, das irgendwie statt eines Konzertes für Violine und Orchester eines für Orchester mit kadenzstarker Begleitung durch Solo-Violine ist: eine Art Dialog, kann man sagen, was deshalb so auffällt, weil eben gestern abend der durch- und durchgearbeitete Mahler folgte. Dagegen bekam Sibelius dann etwas Medley-haftes, was, selbstverständlich, so gesagt ungerecht ist: die „Ziel“richtungen der beiden Musiken sind allzu verschieden, vor allem auch ihre kompositorischen Hintergründe. Das Sibeliuskonzert war, klar, in Helsinki, Heimspiel.
Davor dann, als erstes Stück des Abends, Kaija Saariahos Lumière et Pesanteur, das mich so sehr an Ives The Unanswered Question erinnert, daß ich heute morgen in meiner Erinnerung völlig unsicher wurde und beide Stücke nebeneinander hörte. Ja, es gibt Unterschiede, aber bereits in der Trompetenführung klingt es wie aus einem Geist. Ich war völlig verdutzt. Eine schöne Musik übrigens, eine Art Meditation über vor allem Streicherfarben, völlig frei von irgendeinem, scheint es, Willen – die „Botschaft“ bringt letztlich nur die Ives-Assoziation dazu. Die aber ist heftig.
Riesenapplaus in Helsinki, das, als ich im straßenerleuchteten Dunklen ins Hotel zurückspazierte, voll von Techno war: lange lange Schlangen standen an vor den Clubs. Wir leben in verschiedenen Welten, in gleichzeitig Ungleichzeitigem, ungleichzeitig Gleichzeitigem. In Fast-Gleichzeitigkeiten. Gustav Mahlers Modernität.

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