9.37 Uhr:
[Helsinki, Hotel KlausK.]
Bin nicht fertiggeworden mit der Kritik, noch zweimal das Salonen-Konzert angehört, auch schon skizziert, was ich drüber sagen will – aber nun mß ich bereits los zu dem Gespräch mit Oramo. Ich komme derzeit einfach nicht rechtzeitig aus den Federn; das muß sich dringend ändern, sonst gerate ich aufs Dauer ins Schlingern.
Schönes Wetter draußen, ich saß, die Aufnahme anhörend und rauchend, wieder draußen vorm Hotel; seltsam, wie wohltuend die Straßenbahn in Salonens Musik hineinkreischt, die Haltestelle ist genau vorm Haus. Ich werde auf dem Weg ins Café Lasipalatsi weitere Aufnahmen machen, Stimmen, Verkehr, sonstige Geräusche; vielleicht hab ich nach dem Gespräch noch etwas Zeit für die Kritik hier im Hotel, je nachdem, wie lang es dort dauern wird; um 12.40 Uhr allerdings muß ich für den kleinen Trio nach >>>> Ainola am Bahnhof sein. Den Nachmittag also werd ich „auf dem Land“ verbringen; ich nehme den Laptop nicht mit. Um 19.30 Uhr dann mein drittes Konzert hier, passend mit Sibelius’ Violinkonzert, vor allem aber mit einer Komposition Saariahos, die ich übrigens am kommenden Mittwoch auf ein Gespräch in Berlin treffen werde, und mit Mahlers VI. Ich hab das Gefühl, das wird Salonen ebenso liegen wie gestern der Stravinski. Sò, ab.
16.38 Uhr:
[Kimmo Hakola, Klavierkonzert (1996).]Pappsatt. Und hab endlich mal zwei Stunden Ruhe, um zu schreiben. Nach dem recht kurzen Ausflug nach Ainola drückte der Magen; so spazierte ich dem Instinkt nach zum Hafen, wo noch Markt war und es tatsächlich eine Riesenportion gebackenen Lachs und Fischlein auf Massen aus Bratkartoffelschnetzen, Gemüse und Salat gab; der Teller faßte die Portion fast nicht. Zehn Euro legte ich hin. Also wird mein bisheriger Eindruck nicht völlig richtig sein: es wird s c h o n noch auch andere Ecken geben, wo man für Erschwingliches satt wird. Dafür kostete danach das für den Nachthunger besorgte Brötchen 85 cents. Okay, ich war ja rundweg zufrieden. Und Schokolade, ein Haufen Kekse sowie zwei in die Zimmerbar geschmuggelte Biere sind auch noch da.
Nachdem ich >>>> die Kritik im Kopf vorformuliert hatte, ging es zu dem Gespräch mit dem Klarinettisten Taavi Oramo ins Läsipalatsi. Er ist wirklich noch ganz ganz jung und, wiewohl als Musiker hochbegehrt, nicht ganz sicher, ob er wirklich bei der Musikerkarriere bleiben mag; Biotechnologie interessiere ihn, erzählte er; ich dachte: Musiker haben früh beide Hirnhälften ausentwickelt und schon von daher eine Nase für Zukunft. Recht eigentlich hatten wir uns aber nicht sehr viel zu sagen; zum einen seiner Jugend wegen und völlig verschiedener Bezugspunkte, zum anderen fehlten gemeinsame Interessenlagen, die über Liebe an Musik hinausgehen, Erfahrungswerte usw. Deshalb stellte ich meine Standardfragen: Wie habe es zu der Sonderstellung zeitgenössischer finnischer Musik im europäischen Musikleben kommen können, vor allem, wenn man sich vor Augen hält, welch ein bevölkerungskleines Land Finnland sei.
Die Antworten, die ich bekomme, ähneln einander, weichen allenfalls in den Bewertungen voneinander ab. Wobei ich mit meinen Gesprächen insgesamt vor einem Problemchen stehe: „This ist off records“, heißt es nicht selten; also verpflichtet mich das auf Diskretion. Wahre ich sie aber, werden Aussagen geschönt oder gar in gar nicht gemeinte Richtungen gebogen. Deshalb werde ich mir für meinen späteren („eigentlichen“) Text eine Form der Anonymisierung zubereiten müssen, die sowohl den ausgesagten Tatsachen wie den Bedürfnissen meiner Gesprächspartner entgegenkommt. Letztres ist um so wichtiger, als die Szene hier so klein ist und man davon ausgehen muß, daß schlichtweg alles bekannt wird. Finnische Musikkultur ist – egal, von woher die Talente kamen und auf welche Traditionen sie sich bezogen und beziehen – Helsinki.
Wir parlierten knapp eine Dreiviertelstunde, mit Lindberg waren es mehr als zwei Stunden gewesen, dann brach ich zum Hotel auf und schrieb >>>> die Kritik in dreißig Minuten hinunter. Und schon ging’s zum Bahnhof weiter.Aniola, 53 Jahre lang Sibelius’ Lebensmittelpunkt, liegt eine knappe halbe Zugstunde von Helsinki entfernt in ehemaliger Sichtweite des Tuusulanjärvi, eines ziemlich großen Sees. Heute – Sibelius wäre entsetzt gewesen, verstellen eine befahrene Sttraße und Baumreihen die Sicht. Sie war interessanterweise eine, die die Ferne selbst zum Character hätte, das Haus steht ja nicht direkt dran, sondern auf einer Hügelhöhe davor, umgeben von Wald, Heidelbeeren, Himbeeren, eine Art Zurückgezogenheitsidylle. Man merkt das schon, wenn man in Kyhülä ankommt, die Gleise schneiden arithmetisch durchs Land, östlich Holzhäuser modernen Zuschnitts, westlich Getreideäcker, hin und wieder Haine; man spaziert besser als auf der 145 auf einem gekiesten Feldweg bis an ein Pferdegehöft, alles von Holz, rechts das Haupthaus, links geht der Weg zur 145, man kann aber auch einfach gradaus spazieren und ist dann vom Verkehr ungestört. Enormer Himmel über dem Flachland, enormes Rauschen, fast ein permantes Silberklatschen der Birkenblätter. Schließlich biegt ein Weglein kurz vor der sich beidseitig gabelnden 145 links ab und führt, man muß nur noch die Straße überqueren, direkt auf Aniola zu. Das durchaus bescheiden wirkende Anwesen – aber solche Adjetiva sind realtiv, ich weiß – besteht aus einem schlichten Holzhaus mit dreieinhalb Zimmern im Erdgeschoß, „einhalb“ deshalb, weil Salon und Speisezimmer direkt ineinander übergehen und vielleicht 40/45 qm messen, kaum mehr. Wunderbar der zentrale Kachelofen in Grün; das sei, erklärt mir die junge Dame, die die Führung vornimmt, Sibelius’ Lieblingsfarbe gewesen. Nun wohl sehr viel zu führen gibt es nicht, alles hat nach wie vor Geruch und Geschmack eines Privaten, in das man eigentlich nicht eindringen mag. Es gibt imgrunde auch nicht viel zu sehen, außer daß ich staune, in welcher allerdings kommoden Bescheidenheit der mächtige Mann gelebt hat. Von seiner Macht zeugt im Garten die massive, viel zu große, geradezu mussolinisch-heroine Grabplatte; paßt überhaupt nicht zu dem Mann, dachte ich. Und daß der Name seiner dort etwas mehr als ein Jahrzehnt später als er beerdigten Gattin Aino unter das drohend satte JEAN SIBELIUS so zierlich und verschwindend klein hinzuminimiert ist, das paßt schon gar nicht.Heldengräber sind unangenehm. Also weg und noch etwas durch die Garten- Waldanlage. Eigentlich wollte ich noch zum See, aber zwischen hier und da breiten sich bloß die Äcker aus, man sieht kleinere Ansiedlungen, nichts, nein, was lockt.
Zurück zur Bahnstation, auf sieben Minuten pünktlich da, zurück nach Helsinki. Während ich die Minütchen warte, es scheint die Sonne wie im Goldenen Oktober, und einen Apfel esse (ich hasse Leute, die den Strunk übrig- und dann braun verenden lassen), treibt der Duft verbrannten Kaminholzes übers Land. Auf der Rückfahrt dann wieder Holzkirchlein, Holzhäuser, überhängende Vogelbeerkaskaden, grobe Klötze moderner Malls, viel Fels, wenige Fichten, viele Birken. Hier werden in den Zügen noch persönlich Fahrkarten verkauft. Schließlich Helsinki. Und wirklich: Kommt man landseits hier an, stellt sich der Eindruck her, in einer Metropole anzukommen. Die so mächtige wie prächtige Bahnhofsarchitektur tut da einiges hinzu, der seitlich ausgebreitete Platz mit seinen Jugendstilgebäuden ebenfalls. – Nun also zum Hafen, um mir den Bauch vollzuschlagen.
Zwei musikalische Empfehlungen, die sich wirklich lohnen, habe ich auf dieser Reise schon bekommen; man bracht mir gestern abend >>>> zum Konzert dafür CDs mit: Kalevi Aho und Kimmo Hakola, den ich grad höre und gestern auch kurz kennenlernte: ein massiver, alles andere als glatt wirkender Mann, der mich nicht ohne Mißtrauen ansah, nachdem Heino mich ihm in ein wenig zu großen Worten vorgestellt hatte, denen auch nicht ganz zu entnehmen war, inwieweit nicht Ironie in ihnen mitschwang. Zudem kannte ich Hakola ja noch gar nicht, und als Heino von der Oper sprach, die Hakola schreibe, und ich den Fauxpas beging, zu fragen, ob es seine erste sei – war’s um meine Akzeptanz restlos geschehen; es wird seine vierte werden. Ich hab da einiges nachzuholen.
(„Und hier saß er gerne in seiner Ecke und rauchte seine Zigarre“, erzählte Frau T. Draußen war ein Schild angebracht: „Rauchen verboten“. Das galt auch für draußen, nicht nur drinnen fürs Haus. Ich mußte an Ernst Bloch denken, um mal von Sartre zu schweigen. „Brauchen Sie noch etwas?“ „Aber nein“, antwortete ich, „ich setze mich jetzt mal draußen auf die kleine Bank, um eine Zigarre zu rauchen und ein wenig nachzudenken.“)
23 Uhr:
Zurück vom Konzert. Das war nun ausgezeichnet, mehr morgen früh. Über den Mahler könnte ich sofort loslegen, so in- und auswendig kenn ich das Stück; bei Sibelius und Saariaho will ich aber erst nochmal reinhören; besonders für Saariaho ist das wichtig. Und zu Mahler VI ist nun auch allgemein etwas zu sagen; das wurde mir während, vor allem aber nach der Aufführung auf dem Hotelheimweg klar.
Nachtleben in Helsinki. Es fängt entschieden früher an, offenbar, als in Berlin, aus allen pumpt der Techno, bisweilen Rock, bisweilen Jazz; Schlangen vor den Clubs, querdurch die Stadt, also längs ihrer Achse. Die Szenerie wirkt wie Zuhaus, nur die Sprache ist anders. Seltsam auch, wie anders ich heute auf die Klänge und Geräusche, nach dem Mahler, reagiere; aber das liegt zum einen sicher daran, daß meine Beine wehtun vom vielen Laufen, vor allem aber daran, daß ich jetzt, um mich unterzumischen, irgendwo reinmüßte, während so vieles gestern unter freiem Himmel war: da ist immer eine Fluchtrichtung offen.
Durch geöffnete Fensterlukchen kommt Musik herein, und man hört das dumpfe Rauschen einer – wahrscheinlich – Klima- oder sonstigen Kühlanlage. Ich werde heute nicht alt; das Bier jetzt noch, dann geh ich schlafen. Morgen früh noch das Gespräch mit Siirala, dann noch ein Abschlußgespräch mit meiner Betreuerin Aho, dann geht’s schon zurück nach Berlin. Morgen abend um diese Zeit werd ich wieder mit dem Profi in der Bar sitzen, denke ich.
(Irgendwas stimmt mit meinen Zählwerken nicht: “o” mal gelesen stimmt ganz sicher nicht.)