8.38 Uhr:
[Helsingfors, Hotel KlausK.]
Au wei, die nächste Greenhornerei eines Reisenden begangen: zwar meine Armbanduhr auf die hiesige Zeit bereits am Flughafen umgestellt, aber als ich den Wecker im Mobilchen stellte gestern nacht, völlig vergessen, daß ich d i e s e Zeit ganz bewußt auf deutsche eingestellt gelassen hatte wie auch die des Laptops. Also stand ich viel zu spät auf, und nun fehlt mir eine Stunde lesender Vorbereitungszeit, besonders für das Treffen mit Magnus Lindberg am Nachmittag: der Vormittag ist überaus dicht terminiert, in 40 Minuten bereits wird mich Frau A. zu dem Spaziergang zur Sibelius-Akademie abholen.
Dafür gefiel mir der junge Türsteher vorm KlausK außerordentlich in seiner designten Legèrheit: Anzug zwar, aber unterm Jackett das weiße Hemd über die Hose getragen, um den Hals die ID-Card, die unter der rechten Jackettseite geradezu stilvoll hervorlugte, und zu dem allen, eine ferne Reminiszenz an New York, Sneakers mit hohen Gelsohlen. Ich rauchte. Es hat geregnet heute nacht, aber die Luft ist milde. Und außerdem, Frau A., l ä c h e l n die Frauen, und nicht nur die jungen; aber Sie haben ja recht: noch ist’s nicht Winter.Weiters ist dem KlausK das Frühstücksbuffet entschieden zugutezuhalten: nicht barock überladen, sondern ausgesucht und klar, es gibt geräucherten Fisch, es gibt finnischen Fischsalat, es gibt zudem die Standards, klar, nicht jeder hat meinen Magen. Ich kostete zwischen Fisch und Obst finnische Süßbäckerei und trank drei Becher Kaffees, den vierten jetzt hier auf dem Zimmer für den Anfang des heutigen Journals, rauche aber nicht, weil ich mich nicht erwischen lassen will: das Zimmermädchen ist bereits unterwegs – ein diskriminierender Ausdruck übrigens für die junge schöne Frau; alle sind sie hier gestylt in dem Hotel, sogar ihr Alter ist gestylt. Ein Designter, der neben mir gefrühstückt hatte, hochgewachsen, das blonde sozusagen Arierhaar (ha! die Perser!) arisch brav zurückgestrichen, ansonsten aber im Welt-Tennisformat einer Jugend, die die Zukunft bereits angegriffen hat, um sie zu gestalten, wurde zwischen Türsteher und mir von einem Wagen abgeholt, sprang grüßend mit all seinen Einsachtundachtzig hinein und fuhr mit ihm fort, um die Zukunft zu gestalten. Dachte ich. Während mir das Zeit-Interview mit Jukku Tiensuu durch den Kopf ging.
Die Stadt gefällt mir, merk ich grade; daß ich kein Wort verstehe, spielt da durchaus mit hinein.
So, Aufbruch.
13.53 Uhr:
[Helsingfors, Hotel Klaus K.]
Vom Essen mit Timo Heino zurück. Ich habe den Besuch des >>>> Fimic abgesagt, weil es einfach zu knapp wurde. Um 15 Uhr wird bereits Magnus Lindberg hiersein, es ist völlig sinnlos, ein reines Halbstunden-Hopsen zu veranstalten, alles bliebe pur an der Oberfläche, schon jetzt ist das im Kopf gesammelte Material enorm. Ich brauche einfach auch mal etwas Zeit, die wichtigsten Notizen zu machen. Dennoch ist es mit Fimic etwas schad, weil mich ja gerade die Infrastruktur Neuer Musik interessiert. Dafür fallen wiederum Namen, die ich zuvor nie gehört habe. Einmal abgesehen davon, daß mich die hierzulande, jedenfalls in Helsinki, übliche Vielsprachigkeit durchweg beschämt, hat die Kleinheit des Ortes wiederum den Vorteil, nahezu alle Gesprächspartner am Abend im Konzert wiederzusehen… dazu aber später mehr.
16.46 Uhr:
Sehr schönes, gänzlich unprätentöses Gespräch mit >>>> Magnus Lindberg gehabt, vor dem Hotel draußen, weil man da rauchen konnte; fast zwei Stunden lang unterhielten wir uns. Mein Bild wird, über so viele verschiedene Seiten bemalt, allmählich rund. Natürlich geht es um (einen hier längst erfolgreichen) Kulturexport, aber selbstverständlich ganz ebenso darum, wer welche Rolle spielt, gerade auch, wer ein „main player“ ist. Das wiederum ist, darüber ließ Lindberg lächelnd keinen Zweifel, a u c h eine Frage, wie und ob man sich in den Betrieb einfügt. Das kann aber, vor allem nach Lebzeiten, nicht die alleinige Antwort sein, sonst wären Komponisten wie Maderna und Dallapiccola nicht derart aus dem öffentlichen Bewußtsein verschwunden; weder bei dem einen noch dem anderen gibt es dafür eine materiale Erklärung, bei B.A.Zimmermann dann schon wegen der Komplexität vieler seiner Aufführnungsvorgaben. Uneinig waren wir uns, Lindberg und ich, in der Einschätzung Allan Petterssons, aber das kenne ich ja schon.
Am Abend, in anderhalb Stunden, treffen wir uns dann wieder; ich habe den Eindruck, in der Finlandia-Halle bei Salonnen schließlich alle wiederzutreffen, mit denen ich gestern und heute sprach und morgen und übermorgen noch sprechen werde. Zwei Cappucini getrunken, kleine Tassen, 9 Euro, 10 legte ich ins Rechnungsheftchen. „Wie schafft man es hier,“ fragte ich, „als Künstler zu überleben?“ Helsinki gehört neben Stockholm und Moskau, erwiderte Lindberg, zu den teuersten Städten der Welt. Wer hier wohnt, tut’s oft durch Erbschaft. Von dem aus beurteilt, was diese Stadt ist (jedenfalls, was ich bisher sah und erlebte), ist das in keiner Weise nachzuvollziehen. Sie ist auch zu klein, um unregulierte Lücken aufreißen zu lassen. Die Überschaubarkeit hat Vorteile, große, für jeden, der seinen Platz findet; der, der das nicht schafft, kann eigentlich nur weg. Ich denk seit gestern ständig: was ist mit dem riesigen Land dahinter? Irgendwie bräche ich jetzt gerne d a hin auf. Wir haben ein Problem mit der Kontrolle, deutete heute jemand an. Eben.
23.18 Uhr:
[Hotel KlausK nach dem Konzert und einem rund einstündigen Spaziergang. Lange Nacht der Künste.]Halb Helsinki ist noch auf den Beinen; vor allem Jugendliche, die Stimmung erinnert ein wenig an Tokyo-Harajuku, hat ebenfalls ein bißchen was von den Berliner GauklerTagen; also viel Kunst im eigentlichen Sinn ist nicht zu sehen, von einer halb witzigen, halb fantastischen Luftinstallation überm Domplatz abgesehen, wo riesige, mit wahrscheinlich Helium aufgeblasene Quallen und Fische schweben und in surrealer Langsamkeit Schwebebälle fangen – darunter der Platz proppevoll, die Stufen weit hoch zum Dom vollbesetzt, und ein Feuerwerk geht los, das prächtig ist und dennoch neben der Kirche auf vornehme Weise demütig wirkt; darunter bumpert eine Art sanfter Techno. Außer den Jugendlichen, die mich bereits vor der Finlandia-Halle … na „erwarteten“ kann man nicht sagen, ich hab im Stück ja keine Rolle… also die da in Massen waren, und rechts den Hügel hinauf ging’s heftig ravend ab im Park, auch wenn die Musik nur aus Lautsprechern kam. Irgendwie war ich aber der einziger Konzertbesucher, der sich dann unter die Jungen mischte; komisch war, daß ich die beiden Frauen, Mädchen eigentlich noch, sofort verstand, als sie mich um Zigaretten baten: „haste mal ne Fluppe“ hätte das in Berlin geheißen, hier klang das wie „haben Sie bitte einmal eine Zigarette?“ Jedenfalls tat ich gut daran, mein DAT-Band weiterlaufen zu lassen, übers Konzertende hinaus (grandioser Stravinski… aber zum Konzert will ich erst morgen schreiben, wenn ich die Stücke noch einmal angehört und meine Eindrücke entsprechend „abgeklopft“ habe) und dann eben noch die ganze Stunde lang, die ich nun spazierenging: von der Finlandiahalle hinten rum Richtung Bahnhof, vorn übern Bahnhofsplatz, dann diagonal Richtung Dom, von dort zum Hafen, dann die Eteläesplanadi auf dem begrünten Mittelstück entlang, mit zwei drei Umwegchen noch, zum Hotel. An sich hätt ich gern noch irgendwo ein Bier getrunken, vor allem auch was gegessen, aber das ist halt nicht drin, und ich wollte ja eh noch etwas tun, bevor ich schlafe. Außerdem hab ich im Zimmer Essen gebunkert, auch ein Bier ist noch hier. Also.Ja, ich hab gut dran getan, das Band laufen zu lassen und dann am Hafen gleich noch ein zweites einzulegen: diese Art von Zusammenklang habe ich immer gemeint, diese Gleichzeitigkeit, dann mag ich sogar Pop, ganz egal, wenn die Klänge nebeneinander bestehen und simultan wirken; ich habe das in solcher Intensität bereits einmal in >>>> NYC erlebt und aufgenommen; es ist ein furchtbarer Jammer, daß sich so etwas in Dichtung allenfalls ungefähr, in jedem Fall nur konstruiert herstellen läßt, dann aber keine solche sinnliche Unmittelbarkeit mehr hat, wie sie die von mir aufgenommenen Bänder haben.
Auffällig, soweit ich jetzt sah, das geringe Maß an Aggression; dennoch war ziemlich vier Bier im Spiel; harte Alkoholika freilich fehlten, was an der finnischen Prohibitionspolitik liegt, über die man sich wahrscheinlich sehr und mit je parteiseitigem Recht lange streiten kann. Einen einzigen jungen Mann sah ich Wein ausschenken. Dafür – wie in italienischen Parks, wenn es dunkelt – Hunderte Liebespaare; das ist gut für die Parks, dachte ich und freute mich, und für die Jungen sind die Parks gut. Nein, man stirbt hier sicher nicht aus. Zugleich behielten die Liebesballungen etwas Diskretes, wie flüchtige Küsse, die im Vorübergehn gegeben werden, und keiner dreht sich um.
Helsingfors Lieber Herr Herbst,
ich lese mit Interesse, frage mich aber gerade bezüglich der wiederholten Ortsangabe “Helsingfors”, ob Ihnen das schlichte finnische “Helsinki” gar zu banal klingt ;)?
Schmunzelnde Grüße,
eine Finnin
Liebe Finnin, nein, gar nicht. Ich probiere “einfach” aus, was ich lese. Heute wurde mir dann klar, daß ich eigentlich hätte ein paar Mal Helsingin schreiben müssen – vorausgesetzt, es ist nicht ein Genitiv. Sehen Sie’s als Versuche, sich vertraut zu machen. Vielleicht assoziiere ich aber mit den i-Endungen die in Deutschland grassierende Neigung, Namen zu verniedlichen; das fällt mir aber erst eben ein, während ich drüber nachdenke.
(Helsingfors dürfte die schwedische Version sein.)