Kein Orgasmus.

Hat ohne Trauer Tiefe. Und Lebenswille, ohne sie, ist nicht zu fühlen: leben zu w o l l e n. Alle Säuglinge wissen das.

(CDXCV).

(Das Gegenteil von Lebensfreude ist der Spaß. >>>> Freude sieht, Spaß verdeckt.)

14 thoughts on “Kein Orgasmus.

  1. ich bin gerade etwas nervös, ich schreibe am fototext und merke mal wieder, wie schwer es ist, schwarzweiß zeichnungen zu vermeiden. auch ein guter s/w- fotograf zieht nicht einfach nur die kontraste hoch beim entwickeln, sondern erhält die grauwerte, die nuancen. ich habe nichts gegen spaß.
    ohne dies ist nicht das und ohne risk kein fun, und das eine ist das wahre leben und das andere das falsche und sowieso, vermischt kriegt man das nicht, frag theodor, und ‘dazwischen gibt es nichts’, frag holger. doch, dazwischen liegt die ganze welt, wusste schon gutzkow in den rittern vom geiste, ein riesentableaux, all das hybride, all das, was sich nicht so richtig trennen lässt zwischen liebe und begehren, zwischen freund- und liebschaft, zwischen spass an der freud und ‘why it feels so good to feel so sad’, all diese fern des deutschen reinheitsgebots gepanschten zwischengefühle, wo bringt man denn die unter? und haben die keinen wert? von hoher gestalt, von reinem geist, von tiefer liebe. gutgut, mag sein, aber ich stülpe mich täglich 24 mal herum, wie einen handschuh, souffliert mir der georg b in seinem spaß- und lustspiel. als deutscher empfindet man ja sowieso immer tief, nur die russen können irgendwie noch weiter runter. ich empfinde mehr so in die weite, glaube ich. und ich habe noch so einen satz vom professor a in erinnerung, der gerne hausarbeiten damit zu kritisieren pflegte: das sei nicht tief genug gelotet. aha, vielleicht ist aber das pure worte auszählen (statistik war sein steckenpferd: zählen sie einmal nach, wie oft im heinrich von ofterdingen das wort traum auf den ersten 20 seiten vorkommt) nicht weit genug gelesen?
    ach, bei mir ringt einfach ständig die belle bei solchen lotrechten erkenntnisbohrungen. entschuldigung. der steht mir einfach schnell in der aussicht, so eine bohrturm.
    aber, wenn sie es so sehen wollen, des menschen brille ist sein tiefsehreich, nur manche fahren mit kontaktlinsen nicht schlecht, harr harr, sorry, es ist völlig unangebracht, ich dachte nur, vielleicht erheitert es etwas zwischen freude und spaß. es kommt nur von überdrehter nachtarbeit. es muss hier nicht stehen, es ist nicht bös gemeint, im gegenteil, aber, wenn es sie stört, löschen sie es.
    tolles drumkit! eigentlich warte ich jetzt auf eine erzählung, die der melancholische drummer heisst, es gibt sie, oh ja.

    1. Ja, diadorim, es gibt sie. (Weiß selbst ich). Nur wäre in d i e s e m “Fall” Melancholie noch absolut nicht zu wünschen.

      Der Wert von Bohrtürmen ist, daß sie fördern. So lange was da ist. Wenn nicht mehr, baut man sie ab – oder läßt sie halt stehen, doch ohne daß sie noch bohrten. Dann werden sie Museum wie das Werk Edmund Husserls. Zur Wahrheit des Wortes “Spaß” siehe das deutsche Idiom D a s war ein Spaß!

    2. erst mal muss man an die schürfrechte kommen. und dann, ja, irgendwas ist immer noch da, wenn man bohrt, manchmal nur ein noch tieferes loch, mit trauer wieder aufzuschütten. ich find das mit dem schmerz und der trauer nicht so toll, mögen sie auch noch so tief sein, darum hat der liebe gott die melancholie erfunden, die setzt die trauer auf so einen luftdruck betriebenen bürostuhl, auf dem sie der sache einen produktiven schub verpassen kann, dreht man sich darauf auch noch im kreis.
      cellini kommt mir wie geläutert und erleuchtet vor. ist eine strategie, vielleicht nicht ganz selbstgewählt und wenn sie hilft, bitte, gerne. mein bescheidener rat wäre, es gibt noch etwas anderes als selbstquälerei, gibts, wirklich. und würden mich meine kinder, die ich nicht habe, eines tages fragen, warum ich bei jemandem geblieben sei, den ich, aber der vielleicht nicht mich liebte, hätte ich angst, ich wäre ein schlechtes vorbild in sachen selbstlosigkeit, und sie hängen ihr herz wohlmöglich auch eines tages an jemanden, der sie nicht liebt und denken, das müsste so sein, wegen der tiefen gefühle. viel lieber aber sähe ich sie wie mich natürlich mit jemandem lachen und lauter kleine konkrete dinge tun, an die sie sich gerne erinnern wollen, als an einen großen gordischen gefühlsknoten von monströsem ausmaß. so dächte ich vielleicht. aber ich ermesse die tiefe nicht recht, ich hab mein leben lang gegründelt, im vergleich, scheints, wenngleich auch verlust und schmerz in meinem leben waren und ich mich redlich mühe, sie nicht alle meine tage verderben zu lassen, weil eben auch noch so ein anderes wesen in mir haust, das pelikane malt und quallenträume träumt, und was wäre so eine tief ausgestoßenes bühnengefühl ohne die rechte kulisse. ach ach. es ist alles viel komplizierter, ich kann es mir ja vorstellen, aber hier zumindest darf man alle geschichten auch umschreiben.

    3. @diadorim. Kein Mensch spricht hier davon, jedenfalls ich nicht, daß die Trauer so umfassend ist, daß sie erstickt. Also m e i n Leben jedenfalls ist sehr schön, aber Trauer, auch gerade sehr tiefe, gehört dazu: an ihr ermißt sich, und darauf wollte ich hinaus, die Wildheit und Ekstase des Orgasmus’. Ich weiß hier wirklich sehr gut, wovon ich spreche.

      Mit der Melancholie ist das wiederum so eine Sache, sie i s t ja schwarze Galle, vergessen Sie das nicht; nur hat man Zuckerwürfel hineingetan, auf daß sie munde. Nicht nur Melancholiker, auch schwer Trauernde können höchst produktiv sein – spätestens dann, wenn die Trauer ver”abeitet” worden ist; das Schöne d a r a n dann ist, daß es die Melancholie hinwegbläst, die sonst immer bliebe wie schwere Sessel, in denen man es sich bequemgemacht hat. Unterm Strich fällt Melancholie für mich unter das, was der Kliniker “sekundären Krankheitsgewinn” nennt; Trauer ist anders, weil radikaler: sie b r a u c h t die Konfrontation, und einer von beiden gewinnt. Sie ist eben nicht “sekundär”.

      Mir fällt gerade ein, daß man die Melancholie auch mit einem schweren allergischen Schnupfen vergleichen könnte, der sich von seiner Ursache längst abgelöst hat, der also chronisch geworden und deshalb nicht mehr heilbar ist.

    4. hm, was gewinnt er denn, der eine von beiden?
      ich weiß nicht so gut, wovon ich spreche, darum schreibe ich wohl. vielleicht fällt mein orgasmus darum auch sehr viel kleiner aus, wer weiß, ich müsste das wohlmöglich nach ihrer theorie glatt annehmen, aber der orgasmustiefenvergleich muss leider ausfallen, weil sich ein orgasmus tiefenmäßig, schon zwischen zwei an ihm wesentlich beteiligten, so schlecht vergleichen lässt, fürchte ich. man kennt nur äußere anzeichen, lubrikation, ergüsse, kontraktionen, hektikflecken, steife brustwarzen, lautäußerungen, aber all das kündet weder von trauer noch tiefe, fürchte ich, ganz egal, wie oft sich ergossen, wie viel kontrahiert und gestöhnt wurde. das ist ein wenig wie mit dem gottesbeweis und ein wenig wie im sandkasten, mein orgasmus war aber viel tiefer als deiner, du hast ja gar nicht richtig gefickt, hab ich doch, hast du nicht, aber jawohl, aber nein, und so weiter und so fort. an meiner trauer ermisst sich irgendwie immer nur trauer und zum ficken legt sie nicht gerade auf. im gegenteil. wie sie das anstellen, ist schon ein echtes kunststück, vielleicht sinds die höheren weihen der sublimierung, an die ich nicht glaube, ich glaube nur an die ablenkung. ich lese und staune, was es doch für komplett andere wunschmaschinen geben muss.
      fliegen denn schon wieder melancholische pollen? mir kribbelts so in der nase. ein lustiges bild. ich stell mir die gemüter gerade als krankheiten vor, der sanguinische leberschaden, der phlegmatische asthmatiker, wie sie da alle hocken beim dr freud in der praxis und er sie alle mit einem hausmittel heilt.

  2. @ANH Eine Liebe zu leben, für die man einen tiefen Brunnen graben mußte, um an den eigenen Tränenfluß, und end:lich an sein Ufer, der Trauer, zu gelangen, ist das Größte. Trauerschmerz ist ein Ort der Wahrheit der Unverfälschtheit… bricht diese Unverfälschtheit hervor, kann das einen absolut reinen Geschlechtstrieb wecken. Tränen kann man fälschen, den Trauerschmerz nicht. Nichts ist ehrlicher und gewaltig schöner, als solch ein Moment, in keinem existiert man m e h r. Ich habe solche öfter erlebt, erfahren, daß sie Herz und Kehle öffnen, die Kraft geben, in den eigenen Schmerz zu steigen… mit Knien, die für das Aufstehen trainiert sind.

    Der Orgasmus und die Trauer sind die tiefsten Gefühle, die wir empfinden können.

    “Kunst ist ein Gefängnis von Trauer.”
    “Kein Orgasmus hat ohne Trauer Tiefe.”

    …. das müssen Sie mal in einen Zusammenhang setzen….

    1. “Der Orgasmus und die Trauer sind die tiefsten Gefühle, die wir empfinden können.”

      und wie stehts mit der Liebe und den Hausbrand, dem Vergnügen und dem Blick zur Nachbarin, ich meine nicht jeder hat so eine hübsche Nachbarin wie ich

  3. Freude ist bejahend, sie akzeptiert, sie liebt was gerade ist. Die Lebensfreude liebt das Leben, sie bejaht das Leben. Wenn der Spaß nun das Gegenteil der Lebensfreude ist, so müsste er das Leben verneinen. Ich glaube nicht, dass das stimmt, oder genauer: Es widerspricht meiner Erfahrung.

    Daher eine andere “These”: Der Spass befreit das Leben, vor allem dort wo er an den Humor grenzt. Er kanalisiert; er macht erträglich was unerträglich ist, und auf seine Art, ist er auch eine Feier. Zum Prinzip erhoben, muss man ihm misstrauen, und in hohen Dosen ist er ungenießbar und unbefriedigend, weil er “Tiefe” vermissen lässt. Man könnte daher lediglich sagen, dass der Spass die “Tiefe” des Lebens verneint, aber man kann ihm das nur bedingt zum Vorwurf machen, denn er will sie ja gar nicht.

    1. @Metepsilonema. Das ist s e h r gut argumentiert, finde ich. Gerade Ihr letzter Satz macht vieles klar. Der Spaß entspricht der Verhaltenstherapie, die Freude der Psychoanalyse, fällt mir dazu ein.

      Daß der Spaß die Tiefe des Lebens verneine, ist ihm aber gerade deshalb zum Vorwurf zu machen, und zwar eben, we i l er sie nicht will. Denn daß er erträglich mache, was nicht erträglich sei, ist ja falsch; man hat nur den Eindruck, es sei erträglich: es wird v o r g e t ä u s c h t. Während nebenan die jüdischen Familien aus den Wohnungen geprügelt und gezerrt werden. Das ist ein Bild, ich weiß, und zwar ein sehr strapaziertes; es ist dennoch voll der historischen Erfahrung und bleibt, zumindest für Deutsche, Verantwortungsanspruch. (Wernher von Braun, den die Deutschen liebten in den späten Sechzigern, frühen Siebzigern, der mit Persilschein in die USA geholt wurde wie andere Menschenrechtsverbrecher auch; ich sehe ihn, wie er, einem Bericht zufolge, den ich las, in Peenemünde an den Leichenbergen achtlos vorbeiging. Er hat sehr dafür gesorgt, daß ich als Junge meinen Spaß hatte.)

      Wenn Spaß die Tiefe des Lebens verneint, dann verneint er das Leben. Das ist mein Gegenargument.

    2. Spass ist oberflächlich. Sicher. Aber, das ist sein positiver Effekt, er lässt uns manchmal die Tiefe vergessen und macht dadurch einiges erträglicher. Ein leichter, heiterer Fick ohne orgasmische Ziele, ein l’art pour l’art der Leiber, ist oft, zugegeben nicht immer, ein Kräfte sammeln für Tieferes.

    3. Uns beiden geht es darum, ob der Spaß einen berechtigten Platz im Leben haben kann (keiner von uns würde ihn als alleiniges Prinzip anerkennen). Ich meine ja, Sie offenbar nein, eben, we i l er sie [die Tiefe] nicht will, weil Erträglichkeit nur vorgetäuscht wird. Es gilt also Situationen auszumachen, die Spaß (ich inkludiere hier auch Humor, Ironie u.ä., da all diese Kategorien in der Realität meist gemeinsam auftreten bzw. in einander übergehen) rechtfertigen.

      Zunächst vielleicht eine Frage: Lachen Sie niemals? Falls doch, ist es dann geboten? Ich jedenfalls glaube, dass meine Beziehung zu denen, die ich liebe inkomplett wäre, wenn sie ausschließlich Tiefe (also Ernst) beinhaltet. Ist es nicht unvorstellbar niemals mit einem Freund gemeinsam gelacht zu haben? Natürlich ist die Tiefe und die Freude entscheidend, aber komplettiert werden sie erst durch das Lachen.

      Auf den Punkt gebracht, würde ich wie folgt formulieren: Der Spaß kann den Ernst dort begrenzen, wo er sich selbst zerfleischt, wo er im kreisen um sich selbst den Mittelpunkt verliert. Das Lachen bringt dann eine andere Perspektive, und bewahrt mich davor mich selbst zu ernst zu nehmen, und daran zu erkranken. Insofern Befreiung und Heilung, die eben nicht dauerhaft die Tiefe verdeckt, sondern sie dann von sich selbst befreit, wo sie sich selbst zerstört. Natürlich darf man sich auch selbst zerstören, aber wir sind vor einiger Zeit übereingekommen, dass das nichts für die ist, die leben wollen.

      Vielleicht noch zu Ihrem Bild: Moralisch verwerflich ist mein Verhalten, nicht ein Zustand, und warum sollte ein Widerstandskämpfer nicht gelacht haben (vielleicht wurde sein Tun dadurch erst möglich; freilich, auch ein KZ-Aufseher konnte lachen)? Das Lachen trägt im Grunde kaum etwas zur Moralität bei, weil es einerseits ganz unterschiedlich ausgeprägt sein kann, andererseits aber unsere Handlungen primär moralisch zu werten sind (natürlich werden wir denjenigen besser beurteilen, der mit seinen jüdischen Mitbürgern fühlte; aber letztlich bleibt er nicht frei von Schuld, wenn er seinem Mitgefühl keine Handlungen folgen ließ).

    4. @ anh, metepsilonema ich bin mir auch nicht sicher, ob diese sehr schroffe gegenüberstellung von spaß und freude in anhs aphorismus wirklich trifft. außer es liegt ein sehr eingeschränkter begriff von spaß vor, als etwa von jenem etwas, das im unwort “spaßgesellschaft” wirkt. dann würe ich aber nachfragen, ob dieses überhaupt etwas bezeichnet und wenn ja was.
      aber ist dieses (was immer) dann die einzige form von spaß? die handfesten späße eines till eulenspiegel oder sonst eines schalkes sorgen zwar für gelächter bei den nicht direkt betroffenen, versöhnen aber in ihrer irdischen derbheit doch so recht den sublimierenden geist mit dem körperlichen. war das nicht etwas, lieber herbst, das Sie auch auf die eine oder andere weise beschäftigt?

      und wie steht es mit dem witz? bringt er nicht spaß und gibt zugleich zeugnis von geistreicher tätigkeit? zugleich bricht er, wenn er gut gewählt ist, all den bildungsplunder, den wir so mit uns herumschleppen aufs feinste auf, indem er solchen nun für (scheinbar) ganz nebensächliches und flüchtiges einsetzt.

      all das soll nicht mit lebensfreude überein zu bringen sein? ich denke, doch. und wenn es an/in die tiefe geht, würde ich mich lieber des alten habsburger tricks bedienen: tiefe in der oberfläche zu verbergen. das ist noch nicht ironie, uneigentliches, sondern recht eigentlich und dialektisch eine form für jemanden, der allen extremen im flachen und tiefen mißtrauisch gegenübersteht…

    5. @Aikmaier Weitgehende Übereinstimmung; aber ich kann ANHs Kritik insofern nachvollziehen, da ich undosierten (oder allgegenwärtigen) Spaß meist als unbefriedigend erlebe, und das gründet sich vermutlich in dem was ANH mit “verdecken” meint. Man verbringt einen spaßigen Abend und bleibt an der Oberfläche, man weicht der Tiefe aus, vielleicht weil sie beschwerlich ist, weil sie Mühe kostet, weil etwas auftaucht an das man nicht erinnert werden will … – warum auch immer. Aber – vielleicht ist das Wort “lachen” besser – das ist nicht notwendiger Weise so (Sie sprechen das ja an), und Spaß deshalb nicht per se fehl am Platz. Man kann auf vielfältige Weise lachen.

      Aber ich glaube nicht, dass der Dissens von unterschiedlichen Definitionen (eingeschränkter begriff von spaß) herrührt, sondern grundsätzlicher Natur ist.

      PS: Gibt es Liebe (in der Paarbeziehung) ohne Spaß, ohne gegenseitiges Necken, ohne Spielereien und Komik?

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