Nein, auch sogenannte klassische Konzerte müssen nicht repertoire sein, wenn sie Repertoire sind. Das verneinte Neoadjektiv meint nicht nur die sehr witzige Idee, den doch immer ein bißchen langweiligen, sozusagen „klassisch“ desinfizierten Joseph Haydn durch kluge Kombinatorik mitten in eine Unterhaltungsmusik hineinzuziehen, die das eben, Divertimento, i s t, doch auf kompositorisch höchstem Niveau – indem der Holländer Jac van Steen sie mit dem hierzulande wirklich nicht oft gespielten Jean Français konfrontiert. Deshalb funkelte die erste Hälfte des Konzertes von einem prächtig gesetzten Witz, der alles andere als Berührungsängste gegenüber selbst dem Schlager, ja „Schiebe“musiken hat und dabei im Falle Français‘ deutlich von ravelschen Kompositionsansätzen geprägt ist: nur daß seine Sinfonie in G völlig im Bereich des Spielens b l e i b t. Nämlich wird kein seliger Walzer schließlich vom Unheil zerrissen, sondern die Tänzer dürfen zuende tanzen und auch unbeschwert klatschen, nachdem sie in ihren Dreiviertel-pas‚ freilich auch schon mal stolperten – vor Überraschung, weil man ihnen den Rhythmus der Füße durcheinanderbringt und stehenbleiben und auflachen muß. Mit welcher virtuos vergnügten Klangkraft das Konzerthausorchester hier, durfte man vor der Pause noch sagen, „aufgespielt“ hat, war mehr als nur begeistert, auch wenn sie, die Pause, n a c h dem Français grinsend von meisterhaftem Tingeltangel sprach: es wundert nicht, daß der 1997 gestorbene Franzose einerseits vom „gehobenen“, ideologisch ernsten Musikbetrieb eher ignoriert worden ist, andererseits um so reicher an Aufträgen und Auszeichnungen war. Niemand, in der Tat muß fürchten, daß einen die Musik mit Konflikten konfrontiert, die ein Abonnent doch lieber zuhause lassen möchte, wenn er ausgeht. Dennoch, wer sich die kindliche Lust an der spritzigsten Kompositionskombinatorik nicht nehmen läßt, wird auch dann seine helle Freude an dem Stück haben, wenn er eigentlich auf Seiten „des Stands des Materials“ (Adorno) steht.
Das wirklich Begeisternde dieses Abends fand sich aber erst danach.
Die Pause ist vorüber, es hat geklingelt, man hat von der großen Freitreppe auf den Weihnachtsmarkt des Gendarmen geschaut und noch die Süße gerösteter Mandeln in der Nase; man hat Platz genommen und freut sich drauf, die Herzen debussyschem Klanggeschwelge zu öffnen, vor dem freilich erst einmal der fremde Britten überstanden werden muß — da tritt der Dirigent beklatscht aufs Pult, hat ein Mikrofon in der Hand, wendet sich ans Publikum und erklärt uns, es sei Herbst,Frau Barbara Hannigan aber, die Sopranistin, völlig gesund. Woraufhin aus dem Rang ein Programmheft herniedersegelt, „die Bätter fallen“, sagt van Steen ins Lachen und daß das Orchester und er bei der letzten Probe hätten eine Erkenntnis gehabt. „Sehen Sie, man stellt ein Programm zusammen und denkt: ja, das ist fein, wenn wir mit Debussy enden, und dann hören wir die Sängerin singen…“ – und alle, alle hätten begriffen: Nein, das geht nicht. Das geht nicht, den Britten zum Zwischenstück zu machen, „schwarze Juwelen“ nennt van Steen die neun kurzen Lieder nach Rimbauds Les Illuminations. Und macht nun ein Seitenstück der Musikliteratur, kaum je in Deutschland einmal zu hören, zum leisen Finale, unaufdringlich aber unabweisbar. Nachdem nämlich der Debussy mit dem aufgemotzten Riesenaufwand des mit doppelter Harfe besetzten Spätromantikorchesters verklungen ist – eine Musik, die letztlich ganz ebenso dem unverbindlichen Divertimento zugehört wie die meisterhaften Fakturen der beiden Sinfonien zuvor -, räumt alles, was nicht Streicher ist, das Podium, und selbst die werden auf höchste Durchsichtigkeit ausgedünnt. Konzentration, nicht alleinige Farbpracht und nicht mehr Spott und Schwärmerei, nimmt sich schon mit Brittens eigenwilliger Fanfare – nicht als Streicher-, nicht als (Jens Schubbe:) „trompetender“ Blechbläsersatz geschrieben – den Raum und uns: Von uns auch wird erzählt, jenseits der sprudelnden Tänzerei, innig vielmehr, intensiv und ohne aufzustampfen. Es gehört zu den kompositorischen Eigenheiten Benjamin Brittens, daß er auch schlagende Einfälle niemals feiert, sondern sie klingen an und verklingen mehr im Kopf, verklingen wie eine Erinnerung, der man nachlauscht, dabei immer prägnant und dem fernen Rufen aus einer milden Nacht gleich, die ihre warmen Verzweiflungen kennt… Die silbernen und kupfernen Wagen –
Die stählernen und silbernen Buge –
Schlagen den Schaum –
Wühlen die Stöcke der Dornen auf.
Die Strömungen der Heide
Und die ungeheuren Rillen der Ebbe
Fliehen in Kreisen gegen Osten;
Gegen die Pfeiler des Waldes,
Gegen die Stämme der Molen,
An deren Kante sich stoßen die Wirbel des Lichtes.
Rimbaud
Hineingehen! Denn Brittens kleine Stücke gehören zur größten Musik, die je geschrieben wurde. Konzerthaus Berlin, Gendarmenmarkt, 20 Uhr. Das Haus war gestern abend nicht voll besetzt, es wird noch >>>> Karten geben heute.
Rimbauds Text : „Marine“ Les chars d’argent et de cuivre –
Les proues d’acier et d’argent –
Battent l’écume, –
Soulèvent les souches des ronces –
Les courants de la lande,
Et les ornières immenses du reflux,
Filent circulairement vers l’est,
Vers les piliers de la forêt, –
Vers les fûts de la jetée,
Dont l’angle est heurté par des
Tourbillons de lumière.
rien n’est beau que le vrai
nicolas boileau
oui ! Cellini ! entièrement d’accord !
qui alimente lapin, qui est également de petites conditions.
les lapins ont tous crevé
Nicht die Kaninchen sondern der Hase! Die ersten Zeilen der „Illuminations“
Aussitôt après que l’idée du Déluge se fut rassise,
Un lièvre s’arrêta dans les sainfoins et les clochettes mouvantes et dit sa prière à l’arc-en-ciel à travers la toile de l’araignée…
Lieber Prunier, ich kenne den Text, habe mehrere Übersetzungen, …ich weiß, daß ein Hase beim Heiligenkraut und den schwingenden Glockenblumen innehaltend, nachdem der Gedanke an die Sintflut verrauscht war, sein Gebet zum Regenbogen durch ein Spinnennetz sprach.
„Der eherne Reiter“ sprach von Kaninchen… genau deshalb antwortete ich ihm, daß die Kaninchen alle verreckt seien.
… ja.. wunderschön, das Wahre.