Arbeitsjournal. Mittwoch, der 30. Juli 2008. Mit Harald Hartung und Bonito.

8.09 Uhr:
[Arbeitswohnung. Händel, Deidamia.]
Es wurde zwei Uhr nachts gestern, bis ich wieder hierwar; also k e i n 4.30-Uhr-Aufstehen, und also ist der Tag aus dem Gerück, arbeitstechnisch, denn um 12 hab ich bei meiner Lehrerin in Charlottenburg Cello-Unterricht, und da muß und will ich hinradeln, sofern es nicht doll zu regnen anfängt; das dürfte ich dem Instrument nicht zumuten; dann müßte ich die S-Bahn nehmen. Vorher will ich selbstverständlich noch etwas geübt haben, wenigstens eine Stunde, ich hatte ja Hausaufgaben auf, die mit Perfektion erledigt sein wollen. Schöne Aufgaben, ich soll (kleine) Stücke auswendig können. Anders als früher in der Schule h a l t e ich mich an solche Aufgaben; ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie sehr ich es bedaure, nicht in der Jugend Gedichte auswenig gelernt, sondern mich dessen immer verweigert zu haben. Heute wäre es ein Schatz. Nun horte ich den Schatz als innere Musik, die keiner Noten bedarf. Das Horten nervt freilich die Nachbarn.
Immerhin steht die Eigner-Rezension, da ist nur noch an Kleinigkeiten zu schieben. Ich werde dann heute früh gleich mit der Lektüre des nächsten Romanes anfangen, den ich, diesmal für den WDR, rezensieren soll; Mikołai Łoziński, „der Shooting-Star der jungen polnischen Literatur“; „Reisefieber“; das Buch ist nicht ganz so umfangreich wie Eigners. Dann weiter mit den BAMBERGER ELEGIEN, wobei ich ja eigentlich auf die nächste Sendung von Gedichten mit >>>> Dielmanns Lektoratsanmerkungen warte. >>>> Harald Hartung, den ich angeschrieben habe, ob er für eine etwaige Rezension in die Fahnen schauen möge, hat geantwortet; er schreibe kaum noch Rezensionen, das liege an der „Rezensionslage für Gedichte“, derethalben er sich nicht mehr mit Redaktionen herumschlagen möchte, was ich gut verstehen kann. Er wolle dennoch gerne in die Fahnen hineinschauen, er sei neugierig. Ein schöner Brief dieses nun bald Achtzigjährigen Nestors der deutschsprachigen Lyrik.
Guten Morgen. Mein Kopf ist noch leicht dumpf.

11.02 Uhr:
Aufbruch gleich. Ich werde meiner Cellolehrerin >>>> dieses Gedicht mitbringen; hab es eben ausgedruckt. Es wird sie, ich bin mir sicher, traurig glücklich machen.

Zu früh angekommen.14.15 Uhr:
Zurück. Und so durchgeschwitzt von Schwüle und Radtour, daß ich mit nacktem Oberkörper triefend vorm Schreibtisch sitze: Auf dem Rückweg bei meinem Lieblings-Frischfischhändler >>>> MITTE MEER einen >>>> Bonito gekauft und ein paar Baby-Calamaris. Fürs Abendessen.
Bin müde und leg mich mal eine Stunde lang. Dann geht es an die Eigner-Überarbeitung, noch mal ans Cello und an den neuen Roman. Abends dann Am Terrarrium.

8 thoughts on “Arbeitsjournal. Mittwoch, der 30. Juli 2008. Mit Harald Hartung und Bonito.

  1. gedichte ich habe in der jugend, in der schule, gedichte (bzw. teile davon) auswendig lernen müssen, das waren segmente von klassischen standard-gedichten. keine zeile davon ist mir noch in erinnerung. die erinnerung daran: unangenehm.

    erst später dann habe ich mich damit auseinandergesetzt, aber das kam von selbst. es ist wunderbar, z.b. “ein aas” von baudelaire mit sich herumzutragen, oder die kammermusik von weinheber, mein lieblingsgedicht:
    (das rezitiere ich ihnen jetzt weil es gut zum cello passt ohne copy-paste, daher stimmt mit großer wahrscheinlichkeit die interpunktion nicht)

    kammermusik
    eine variation

    von josef weinheber

    erste geige
    ich, in die schönheit dieser welt verliebt
    beschenke sie mit meiner eignen schöne.
    die welt ist ohne abgrund, strömend gibt
    mein herz sich aus. ich bin nur lied. ich töne.

    zweite geige
    mir, neben lichterm wesen ist verwehrt,
    ein ich zu haben. nicht die welt, doch fester
    und wirklicher, die erd hat mich belehrt.
    dort dunkelt es. lass dich begleiten, schwester.

    bratsche
    mein grauer scheitel macht es mir zur pflicht,
    den abgrund euch zu nennen. wie ihr beide
    verschwistert hingeht, kindliche, besticht
    selbst noch der streit um nichts. ich aber leide.

    cello
    ich weiß zutiefst, dass alles schicksal ist.
    das schön getane und das unerlöste.
    ich bin dem ganzen treu: genießt, und büßt.
    ich warne nicht. ich weine mit. ich tröste.

    1. ich dachte mir aus mehreren gründen, dass das gedicht etwas in ihnen anstreichen könnte – tut es heute übrigens auch in mir.

      ich wünsche ihnen einen erfüllten tag,
      alles liebe,

      dr

    2. @ramirer (und für und von Manfred Hausmann). Mit fällt noch dieses von Manfred Hausmann ein, dessen Romane mich, als ich ein ganz junger Schriftsteller war, geprägt haben und der mich einmal bei sich Zuhause empfing, bereits sehr alt; ein sehr hochgewachsener schlanker Mann mit markantem Gesicht und einer Haut, die filigran leuchtete. Aber das Gedicht:

      Liebe

      Wenn wir uns nicht mehr haben und uns sehnen,
      dann ist’s, als hätten wir uns endlich ganz.
      Doch wenn wir nahe sind und uns geborgen wähnen,
      verdunkelt sich die Lust, verblaßt der Glanz.

      Die Ferne ist es nicht und nicht die Nähe.
      Ach, immer lebt das Innigste allein.
      Laß uns, wir gut es auch, wie schlimm es um uns stehe,
      laß uns barmherzig zueinander sein.

      Die Erstausgabe seiner Gedichte aus den Gesammelten Schriften von 1949 steht bei mir bei Benn, Keller, Ungaretti in der kleinen Lyrik-Handbibliothek auf meinem Schreibtisch.

    3. @david ramirer & albannikolaiherbst : liebe herren, haben Sie dank für diese zwei schönsten gedichte, die ich an diesem wirren morgen finden darf. im englischen sagt man: you made my day.
      (ich wüßte kein deutsches äquivalent.)
      guten tag,
      cn

    4. danke dafür, das ist wunderschön, diese definition von liebe.

      da kann ich nun leider nicht anders, als diesen rilke anzufügen, der glücklicherweise auch in meinem schatzkästlein steckt, und dazu eine ergänzung ist, finde ich:

      du, der ichs nicht sage,
      dass ich bei nacht weinend liege.
      deren wesen mich müde macht
      wie eine wiege.

      du, die mir nicht sagt,
      wenn sie wacht meinetwillen –
      wie, wenn wir diese pracht
      ohne zu stillen, in uns ertrügen?

      sieh dir die liebenden an –
      wenn erst das bekennen begann,
      wie bald sie lügen.

      du machst mich allein:
      dich einzig kann ich vertauschen.
      eine weile bist dus, dann wieder ist es das rauschen,
      oder es ist ein duft ohne rest.
      ach in den armen hab ich sie alle verloren,
      du nur, du wirst immer wieder geboren:
      weil ich niemals dich anhielt, halt ich dich fest.

  2. p.s. welche interdependenz:
    das wundervolle gedicht von hausmann habe ich heute auch an zwei mir wesentliche personen weitergeleitet. bei einer bin ich sicher, dass es gut ankommen wird, bei der anderen nicht so.

    jedenfalls noch einmal danke für die erwiderung,

    ihr
    dr

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