Arbeitsjournal. Sonntag, der 6. Juli 2008.

7.08 Uhr:
[Am Terrarium. John Miltions Fetskonzert.]
Kein Arbeitstag, denk ich. Erst um halb sieben aufgewacht, mit den lächelnden Zwillingsbabies. Mein Junge ist bei seiner Freundin übernachten, die Geliebte wollte gestern nacht auf die große Bollywood-Party eines Freundes und danach mit ihrer Freundin die Nacht durchtanzen. Noch ist sie nicht zurück. Ich trete auf das wirklich kleine Balkonchen, deshalb darf man das Adjektiv um den Diminutiv verdoppeln (muß das aber, leider & natürlich, hinzuschreiben), und sehe die Schönhauser Allee hinab, über der bereits sommerwarmen die Sonne hinter den Häusern hochsteigt; Morgenschwärmer, die Nachtschwärmer waren und sich noch an ihren Bierflaschen festhalten, gehen unten zielgerichtet vorüber, ich rauche, die Babies sind bestgestimmt, aber sie mögen es nicht, wenn ich tippe; Cello spielen dürfte ich von ihnen aus, aber da wären dann wieder die Nachbarn hier zu fürchten, daß sie klingeln und sich – berechtigterweise, ich geb’s zu – um ihre Sonntagsmorgenruhe beschweren. Also warte ich, bis es neun Uhr ist; und trete für eine nächste Zigarette auf das Balkonchen, aus Ferne singt jemand wie ein Muezzin, der die Kirchenglocken des Orients gibt, und ich erinnere mich, wie nahe beides, Glocken und Muezzinrufe, in Jerusalem einander waren. So wäre krieglos zu glauben und ist doch nur ein sehr sehr böser Schein. Dazu diese „heilige“ Musik von gestern abend: >>>> Christian Filips, der unterdessen Dramaturg der Berliner Sing-Akademie ist, hatte mich zu einem Konzert in die >>>> Gethsemanekirche eingeladen; da der Geliebten Veranstaltung erst um 23 Uhr begann, wie diese Technokonzerte ja immer (seltsame Leugnung des Tages, höchst ulkig romantisch und dämmerig unklar), ging das. Filips hatte die hübsche Idee, daß jeder, der vor der Kirche zehn Verse Milton aus dem Gedächtnis aufsagen konnte, eine Freikarte bekam; so daß er oben auf den Stufen hinter einem Tisch in seiner Poet’s Corner und, erstaunlich oft, die Verse abnahm. Ich setzte mich auf einen Moment hinzu; weil eigentlich kaum jemand das Versmaß mitgelesen hatte, zeigte er einmal auf mich und sagte: “Da sitzt ein Experte.” Na ja, dachte ich, solange jetzt nicht i c h deklamieren muß. Ich hätte da oben auf dem Treppenemporchen lieber einen Wein mit Filips getrunken, wobei wir uns unter der schweren Abendsonne im duftenden Wuchergrün gegenseitig aus dem Lost Paradise vorgetragen hätten.Das Konzert dann sehr schön, auch wenn meine Vorliebe für die englische Musik deutlich wurde; abgesehen vom Haydn, aus dessen Schöpfung man drei Stückchen aufführte, von denen ziemlich klar ist, um welch ein kompositorisches Kaliber es sich bei Hadyn gehandelt hat, sind mir doch die deutschen Frühromantiker (Reichardt) und Romantiker (Schneider), die man gab, immer ein wenig zu geziert; ihre harmonisch oft schönen Einfälle, die ausdrücken wollen, aber auch die Melodien spreizen nicht selten den kleinen Finger ab, und das entzückelte Frauchenbild (etwa in der Eva), das sie vermitteln, finde ich unnachvollziehbar lächerlich. Das stört mir den Musikgenuß erheblich. Etwas völlig anderes sind da die Anthems, Madrigale und Lieder von Milton the Elder und Lawes; aber das ist auch eine andere Zeit, deren Musik mehr auf Bindung achtet und ja auch noch nicht ausbrechen k o n n t e. Spannend dann der Kontrast, die Uraufführung von Luke Bedfords „On Time“, auch wenn die Musik, meinem ersten Höreindruck nach, imgrunde nur von den Spannungen aufeinander bezogener Akkorde lebt; aber das werd ich gleich auf meiner Aufnahme noch einmal hören und meinen Eindruck dabei abklopfen können. Schließlich, Konzertende, Parrys prachtvoll kitschiges, aufgedonnertes „Blest Pair of Sirens“; man kann sich mokieren, aber nicken muß man schließlich doch und bekommt Gefühle. Zwischen den Musiken deklamierte wundervoll Will Tosh John Milton; nur manchmal war das etwas zuviel, etwa zwischen den kaum je eineinhalbmimütigen Lautenliedern; da muß man nicht wirklich noch drei Minuten dazwischendeklamieren lassen. Sowas dehnte den Konzertabend über jede dramaturgische Notwendigkeit aus: Es wurde nahezu zwei Stunden ohne Pause durchgespielt; ich hatte nicht einmal mehr Zeit zu klatschen, weil ich versprochen hatte, um 22 Uhr zuhause zu sein; so wurde es zwanzig nach zehn, bis ich hierwar.Eine wegen Lavantes wider erstes Erwarten sehr hilfreiche Diskussion scheint das >>>> hier zu werden.

3 thoughts on “Arbeitsjournal. Sonntag, der 6. Juli 2008.

  1. @ anh ‘seltsame leugnung des tages, höchst ulkig”
    der tag ist für denker. nur mittags bei starker sonne verschwimmen auch denen da die konturen. ich stelle mir vor, dass Ihnen das dann angenehm ist, was Sie vor der nacht aber scheuen läßt. doch helligkeit kann genau so täuschen wie dunkelheit. die meisten leute suchen das dunkel zum vergessen auf, zum erinnern gehören konturen, erinnerungen, die keine konturen haben wie gerüche, sind uns immer unheimlich, nicht wahr? weil wir sie nicht fliehen können. beim tanzen ist das genauso: man will gerade nicht “ich” fühlen, nicht erinnerung, sondern auflösung. das ist religiös, auch wenn es nicht so aussieht: communio. wenn ich Sie richtig lese, sind Sie ein gegner von religionen. deshalb müssen Sie technoparties sehr ablehnend gegenüberstehen. ganz genau wie beim fussball.

    aber ich kommentiere eigentlich nicht deshalb, denn das ist fast selbstverständlich. sondern ich mache mir sorgen um malos. kennen sie das hotel, in dem er wohnt? er hat sein telefon noch immer nicht angestellt. ich möchte einfach gern da vorbeifahren und nach ihm schauen.

    1. Liebe Diotima. Ich möchte mich da eigentlich gerne heraushalten – einerseits, weil ich Malos sowieso als jemanden einschätze, der sich nichts raten und etwas sagen sowieso nicht läßt; zum anderen weil es ihm alles andere als recht sein wird, hier wie ein Opfer dazustehen. Ich bin auch sehr sicher, daß er sehr viel weniger ein Opfer als viel mehr Täter ist.

      [Ich hätte Ihnen lieber diskret auf Ihre Email geantwortet, hatte das nur noch nicht geschafft; aber da Sie es vorziehen, hier öffentlich zu agieren, reagiere ich ebenfalls hier. Was Ihre Anmerkung zur communio betrifft, haben Sie, glaube ich, einen guten Instinkt. Darüber wäre insgesamt noch viel zu reden.
      Bei wieder Händel (Giulio Cesare): ANH.]

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