Ich wohne zur Untermiete. Mein Vermieter heißt Mielke. Er ist dicklich und rotwangig. Hat oft nervöse Flecken auf Stirn und Hals. Wirkt auch meist müde. Manchmal aber bekommt er Anfälle von zielloser Hektik. Dann kann er einem lästig werden. Sonst aber ist er harmlos. Jemand erzählt mal von irgendwas Schlimmem, das Mielke auf dem Kerbholz hat. Mir ist das schnuppe.
Klar ist, daß Mielke sich fürchtet. Er hat ein komisches Mißtrauen gegenüber Tieren, gegen Pflanzen sogar. Ganz besonders fürchtet er Stürme. Bisweilen hält er nach dem Mond Ausschau. Der scheint ihm Panik zu machen. Trotzdem ist er kein Irrer. Er ist eher ein Spießer. Manchmal ist er arg ordinär, dann wieder penibel. Außerdem hat er diesen schenkelklatschenden Humor.
Anfangs ist er unzugänglich, brummig, bisweilen sogar grob. Ich hab fast ein Jahr lang das Gefühl, daß er mir das Zimmer nur widerwillig vermietet hat. Doch macht er auch nicht den Eindruck, auf solche Zusatzeinkünfte angewiesen zu sein.
Eines Abends fragt er mich, ob ich nicht eine Partie Halma mit ihm spielen wolle. Ich bin so verdattert über das Angebot, daß ich drauf eingeh. Seitdem spielen wir jeden Montag bis in die frühe Nacht. Allerdings sprechen wir dabei kaum. Schließlich sitzen wir noch etwas beisammen. Spätestens um elf begibt er sich zu Bett. Plötzlich jedoch, Anfang Juni, wird er gesprächig. Erstaunt starr ich ihn an. Erst ist es nur wie ein Selbstgespräch. Er steht vom Tisch auf und setzt sich in einen Sessel. Plappert weiter. Nimmt die Zigarrenschatulle vom Schrank. Bietet mir an, aber ich rauche ja nicht. Er pafft. Er klöpfelt mit den Fingerknöcheln auf den Holzlehnen herum. Das ist sehr penetrant. Ich will schon gehn, da ruft er:
„Bleiben Sie, Herr Baumann, bleiben Sie noch ein Weilchen bei mir!“
Ich nehme bei ihm Platz, räuspere mich.
Er spricht jetzt deutlicher. „Ich – wie soll ich sagen? – habe mich sehr an Sie gewöhnt und bin Ihnen – nein, wehren Sie nicht ab!… bin Ihnen dankbar für Ihre Gesellschaft.“
Was will er von mir?
„Jetzt habe ich doch jemanden,“ fügt er obendrein bei, „der ein Auge wirft auf mich und sich gewissermaßen um mich kümmert. – Wir kennen uns jetzt doch schon lange, nicht wahr?, und Sie dringen niemals in mich, wenngleich ich… gewisse Absonderlichkeiten…“ Er schenkt mir ein, hüstelt abermals, verstummt, sieht mit blassem Ausdruck zum Fenster. „Es gibt, müssen Sie wissen, in meinem Leben Verhältnisse… Verhängnisse, will ich einmal sagen, die es notwendig machen, mich zurückzuziehen und gänzlich zu verschließen.“ Er reibt ein Streichholz an. Zittrig hält er’s an die weißgraue Asche, pafft neue Glut. „Es ist nämlich an dem, daß ich etwas verwahre, vor dem man die Menschheit schützen muß,“ erklärt er.
Ich lache.
„Haben Sie jemals Spuren von Geisteskrankheit an mir bemerkt?“
„Ich bitte Sie!“
Neuerliches Räuspern. „Ich beobachte Sie jetzt über ein Jahr… beobachte Sie genau, dessen dürfen Sie versichert sein. Sie sind ein verantwortungsbewußter Mensch, und Ihnen darf man, glaube ich, unumschränkt vertrauen. Sie geben nicht viel auf Gerede, dessen,“ ein Keckern, „bezüglich meiner Person, ich weiß wohl, einiges umgeht.“
„Man quasselt viel.“
„Denken Sie bitte nicht, mir sei das unlieb. Ganz im Gegenteil. Sie dürfen mir glauben, daß Ursprung des kursierenden Unsinns ich selber bin. Ich muß mich verbergen. Doch der Dämon ist schlau. Er ist bereits in der Stadt. Ich bin mir absolut sicher. Es ist nur noch eine Frage der Zeit…“ Verstummt. Pafft. „Ich bin alt jetzt und habe ein Recht auf meine Ruhe, und selbst eine endgültige ist mir lieb. Aber ich muß Vorsorge treffen über mein Ableben hinaus.“
„Ich kapier nicht ganz.“
„Mögen Sie sich niemals fragen, weshalb einer wie ich einen Untermieter ins Haus nimmt? Lassen Sie uns offen reden! Mir ist vollkommen klar, daß Sie sich Gedanken machen über mich. Sie werden ahnen, daß es mir nicht um Mieteinnahmen geht. Nur: Dieser gewisse Anstrich von Primitivität, den ich mir gebe… meine ziemlich…“, er stockt, „…wenn ich einmal so sagen darf: – spießige Isolation… – Ich muß etwas ausholen. Tut mir leid. – Von Haus aus bin ich Archäologe. Ägypto- und Semitologe, um genau zu sein. Und eines Tages, ich bin, glaube ich, gerade dreißig, besucht mich ein überaus witziger Irani, bis in die Fingerspitzen gebildet, indessen nicht ohne habituellen Spleen. Er stellt sich mir in irritierend altertümlichem Englisch, das zudem das mittelöstliche Idiom verzerrt, als Professor Djahangir Hazegnehad vor. Kaum in mein Arbeitszimmer gebeten, kommt er auf mich zugezappelt. Denn seine Extremitäten sind in fortwährend asynchroner Bewegung, als fehlte ihnen ein steuerndes Zentrum. Rücksichtslos wirft er seinen gesteppten Mantel über meinen Schreibtisch. ‘Welch ein Glück,’ ruft er, ‘daß ich Ihnen endlich, endlich begegne!’ Er rümpft die Nase und wirft die Oberlippe auf, so daß man seine langen, nagetierartigen Vorderzähne sehen kann. Möglicherweise ist das als Ausdruck wirklicher Freude gemeint, wirkt indessen gehässig auf mich, und Sie dürfen mir glauben, Herr Baumann, daß ich mich auch später nicht daran gewöhne. Seine mimischen Gestikulationen legen alle meine physiognomischen Vorurteile frei. Er läßt sich auf die Couch fallen, und nicht etwa, daß er darauf sitzen würde, nein, er liegt und baumelt über der Lehne mit den Beinchen. Dazu steckt er einen Zigarillo an. Ich bin derart perplex, daß mir zu protestieren gar nicht erst einkommt. Das scheint ihn zu amüsieren. Er macht einen damals üblichen Ägyptologenwitz in frühem Kanaanitisch und eröffnet mir, mit allergrößtem Interesse jede meiner Publikationen nicht zu lesen, nein zu trinken. Nun aber, durch meinen, ich müsse zugeben: ausgesprochen theologischen Aufsatz im Archäologischen Monatsspektrum, sei ihm schlagartig klar, ich sei der Mann, den er brauche. Er nehme mich also in Dienst. So seine Worte. Ich möge meinen Verpflichtungen kündigen, fristlos, bitte sehr, für Konventionalstrafen stehe er ein. Der Vertragsentwurf sei vorgefertigt. Er zieht ein Papier aus dem Jackett. Ich frage, worum es überhaupt gehe. – ‘Wir reisen übermorgen nach Schottland,’ antwortet er. ‘Hier sind die Tickets. Eine Expedition.’ – Nun müssen Sie wissen, Herr Baumann, daß meine damaligen Verpflichtungen, deren Existenz er offensichtlich voraussetzt, so groß durchaus nicht sind. Ich halte mich mit gelegentlichen popularwissenschaftlichen Publikationen leidlich über Wasser. Deshalb rennt der Irani eigentlich offene Türen ein. Was ein Ägyptologe allerdings in Großbritannien finden will, ist mir ein Rätsel. Da ich dies einwende, lacht er und legt mir, anstelle einer Antwort, einen Packen Geldnoten auf den Tisch. Mutwillig, in boshaftem Triumph – ganz recht, Herr Baummann! -, in boshaftem Triumph verkündet er zu wissen, wo sich die Handschrift Abdhul al Azreds verwahre. – Sie müssen zugeben, daß das entschieden stark ist.“
„Abdhul..?“ – Ich habe nicht den leisesten Schimmer, wovon er spricht.
„O verzeihen Sie. Azred also. Eine Legende. Er soll im 8. Jahrhundert leben. Nur literarische Quellen bezeugen seine Existenz. – Sagt Ihnen Cthullu etwas?“
„Nö.“
„Ein Dunkelgott, dessen Walten Azred eben in diesem Buch behauptet. Die Handschrift enthält zudem detaillierte Auskunft über Bebet el Jjn, die irgendwo im Zweiströmeland unterirdisch gelegene Dämonenstadt, worin man der Weltherrschaft harrt.“
„Ach du liebe Güte!“
„Eine Art Kloster wahrscheinlich. Schliemann schon sucht vergeblich danach. Insofern kommt mir das Ansinnen Hazegnehads ziemlich bizarr vor. Andererseits… Gäbe es, denke ich, nun doch einen handfesten Hinweis, es wäre phänomenal! Stellen Sie sich vor, was ein solcher Fund für die Karriere eines jungen Wissenschaftlers bedeutet! Man hört und liest ja vielerlei Verrücktes, das man dafür auch hält; insgeheim indessen lockt es einen doch. Es ist aber nicht dies Allgemeine, was mich schließlich motiviert, den Vertrag zu unterschreiben, sondern Hazegnehad macht sogar in Einzelheiten einen derart informierten Eindruck, daß er mich nach kaum einer Stunde fast überzeugt. – Das Buch, um das es geht, wird offenbar zwischen 730 und 738 nach Christus geschrieben, und zwar als Bericht einer Reise, die Abdhul al Azred von Jemen zu den Ruinen von Babylon und von dort in die vorgebliche Geisterstadt führt, worin er drei Jahre zubringt. Hazegnehad behauptet, Azred verfasse das Buch gar nicht selbst, sondern nehme frühere, weit vor die Zeitenwende ins oberägyptische Per-Besket rückreichende Überlieferungen an sich, die er lediglich ergänze. Zu großen Teilen nämlich seien sie nicht in arabischem Dialekt geschrieben, sondern Hieroglyphen füllten die Seiten. – ‘Aber Professor!’ rufe ich. ‘Sie wollen doch nicht allen Ernstes behaupten, das Ding existiert?’ – ‘Nicht weniger als Sie selbst. Es ist wahrscheinlich der längste zusammenhängende ägyptische Text, den es überhaupt gibt.’ – ‘Weshalb hört man dann nie etwas davon? Warum publizieren Sie niemals darüber?’ – ‘Ach was!’ Er springt auf, zappelt energisch an mich heran, zieht mich mit einer für ihn erstaunlichen Kraft am Jackettaufschlag zu sich hinab. ‘Ich will es für mich behalten. Sollen etwa profane Leute Einsicht nehmen dürfen?! O nein, nein! Und außerdem…’ Er verstummt mit pfiffig-spitzigem Ausdruck. *Außerdem ist es mir wieder weggenommen.’ – ‘Von wem?’ – ‘den Mönchen.’ – ‘Mönche?’ – ‘Hören Sie, es ist so: Ich finde die Handschrift in einer Kapelle bei Glen Tromie.’ – ‘In Schottland?’ – Er nickt. ‘Jahrelang, glauben Sie mir, verfolge ich die Spur, gehe sämtlichen Indizien nach, bis ins 17. Jahrhundert zu Robert Blake. – Dessen Namen kennen Sie wohl?’- ‘Bedaure.’ – ‘Einer der mächtigsten Scharfmacher der Inquisitionszeit. Ursprünglich einfacher Mann, Fleischhauerssohn. Aber von geradezu wunderbarer Brutalität und denunziatorischem Genie. Aus politischen Gründen protegieren ihn die Presbyterianer. Er verlegt sich auf die Inquisition. Zwar überspringt sie England. Aber in Schottland faßt sie Fuß, und nicht zuletzt durch ihn. Virtuos handhabt er sie. Dann aber, nach Cromwells Sieg, muß der kluge Mann fliehen. Jedenfalls verschwindet er aus den Annalen. – Doch ich, mein Herr, kenne die wirklichen Begebnisse. Tatsächlich nämlich gründet Blake einen Geheimorden, der bis heute machtvoll existiert und sich jeweils aus wenigen, handverlesenen Männern rekrutiert. Gegenwärtig findet er besonders in den USA Zulauf und stellt dort mittelbar viele Funktionäre des öffentlichen Lebens.’ Er lächelt. ‘Sein Zentrum ist allerdings wie je eine halbverfallene, unscheinbare Kapelle bei Glen Tromie. Dort, öffentlich zugänglich, verbirgt sich das Heiligtum der Sekte’ – ‘Azreds Buch?’ – ‘Sehr richtig. Ich decke dies alles auf aus sagen wir: logistischen Gründen und…’, er zuckt wie beschämt mit den Schultern, ‘muß es entwenden. Stellen Sie sich vor! Ich komme an, niemand ist da, den ich bitten kann, mir Einsicht zu gewähren… nein, das Buch liegt ganz offen da, der Zeit, dem Verfall anheimgegeben… Da bleibt einem, mein Freund, doch gar keine Wahl!’ – ‘Und weshalb besitzen Sie das Buch nicht mehr?’ – ‘Ach, Herr Doktor!’, ruft er. ‘Man jagt es mir wieder ab!’ – ‘Wer?’ – ‘Die Mönche. Eines Morgens ist es weg. Eine Fensterscheibe entzweigeschlagen, ein Einbruch.’ – ‘Nun gut, aber wozu brauchen Sie mich bei alledem?’ – ‘Sehen Sie mich an! Ich bin klapprig über die Jahre und verstehe mich gesundheitlich nicht mehr auf Abenteuer. Es ist eine ziemliche Kraxelei dorthin. Andererseits kann ich ja nicht jemandem X-beliebiges vertrauen. Ganz und gar unmöglich. Ich brauche wen, der wenigstens so interessiert an dem… dem Buch ist wie ich selbst. – Denken Sie an die Wissenschaften, mein Freund!’ – ‘Ich soll es für Sie stehlen? Ich bitte Sie!’ – ‘Aber was denn?! Wer hat denn etwas davon, wenn die Schrift unter den Händen solcher… Irren – denn es sind Irre, glauben Sie mir! -, … wenn es verstaubt, verfällt und gänzlich ungelesen, unentziffert bleibt?! Das, mein Herr, ist das Verbrechen!‘- Vielleicht, Herr Baumann, können Sie verstehen, daß alledies mich doch zu reizen beginnt, wenn auch – ich gebe es zu -die Geschichte, die mir Hazegnehad auftischen will, an allen Ecken und Kanten klappert. Ginge es auch nur darum, ich lehnte vielleicht sogar ab, aber das Honorar, das Hazegnehad bietet, ist fürstlich!“
„Sie begleiten ihn also nach Schottland?“
Mielke nickt.
„Und finden Sie das Buch?“
Azreds Buch. Eine Erzählung. Eins.
[Wird morgen fortgesetzt.]
wer auch immer das geschrieben hat … die ersten drei sätze
sind schon so endgeil,
dass man garnimmer
weiterlesen mag.
*ablach*
Dogmatisch Ist das Ihr »» „dogmatisches Experiment“? Erst habe ich mich herzlich gefreut über die harten, kurzen Sätze des Anfangs. Dann habe mich gewundert über das merkwürdige Präsens in dem mündlichen Bericht. Und dann dämmerte mir: Sie versuchen es doch hier nicht etwa „hamburgisch“?
@Turmsegler. Aber nein, das hat mit Hamburgisch nichts zu tun, sondern erfüllt einen anderen Zweck, der sich über die Erzählung insgesamt erschließt. Abgesehen von anderthalb Seiten steht auch >>>> meine romanlange Sizilien-Erzählung rein im Präsenz. Dies hier ist eine der Vorarbeiten dazu gewesen.