Azreds Buch. Eine Erzählung. Vier.

[Fortsetzung von >>>> hier:
„Wenn er kommt,“ murmelt er, „dann müssen Sie das Buch herausholen und wegbringen von hier. Er darf es auf keinen Fall bekommen.“]

„Ich verstehe nicht.“
„Ich verändere mich,“ erzählt er leise, als wir uns wieder setzen.
„Bitte?“
„O ja, ich verändere mich, als ich die Hieroglyphen zu entziffern versuche. Und erst darüber wird mir bewußt, wie ge­fährlich mein Fundstück ist. Denn sehen Sie: An­fangs, noch als ich Großbritan­nien verlasse und nach Deutschland zu­rück­kehre, bin ich voll guter Vorsätze. Ich will das Buch öffentlich zugänglich machen. Doch – wie soll ich sa­gen? – sie bindet mich an sich, diese schreckliche Hand­schrift, läßt mich ihr mit Leib und Seele verfallen. Nein, ich übertreibe keineswegs! Sie ver­leiht mir nämlich Macht, Herr Baumann. Sie fördert meine Karriere. Mein wissenschaftli­ches Ansehen steigt enorm in den folgenden Jahren. Nun ja. Aber zugleich… zugleich heben meine Vi­sionen an.“
„Visionen?“
„Ja, Visionen. Und nicht nur nachts, sondern oft un­vermittelt im Sonnenschein, wenn ich spazieren- oder zur Arbeit gehe, ja bei der Arbeit sitze, – plötzlich bricht der Schreibtisch inmitten auseinan­der und gibt den Blick in einen sich in völliger Schwärze verlieren­den Ab­grund frei, oder Hauszeilen, je links und rechts, wehen aus­einander und hinauf wie Theater­vorhänge – oder Menschen, die mir ei­gentlich vertraut sind, verändern sich binnen Sekunden… sie ver­formen sich, Herr Bau­mann, Lippen und Kiefern verzerren sich wie Gummimasken, Nacken buckeln nach kät­zischer Art, oder meiner Sekretärin sitzen Käfer auf Oberarmen, Schultern, Dekol­leté… Und weil bald auf gar nichts mehr Verlaß ist, schließe mich ein und … und fange zu trinken an. Obendrein kommt es an der Universität zu gewissen Pein­lichkeiten.“ Er nickt. „Bevor mir gekündigt wird, kündige ich besser selbst. Da leb ich halt als Privatgelehrter. Nahezu dreiein­halb Jahre geht das dann so. – Ich wohne in München damals, nicht weit vom Engli­schen Garten, und als ich eines sonntags, weil ja auch meine Wohnung sich verändert, weil die Türklinken Leben be­kommen, sich die Tep­piche gänzlich uner­wartet ver­schieben, weil plötzlich die Kühl­schranktür klappt und mir die darin verwahrten Nahrungsmittel ihre Not entge­genschreien… als ich also eines sonn­tags in die Park­anla­gen geflüchtet bin, sehe ich ihn..!“
„Diesen Hazegne…?“
„Die­selben spasti­schen Be­wegungen, das­selbe Zucken der Gesichtsmuskula­tur! Es ist fürchterlich! Sofort drück ich mich hinter einen Baum. Dann laufe ich fort. Mein Gehirn arbeitet rasch. In­nerhalb einer einzigen Woche – und spitze auf je­des fremde Geräusch und öffne meine Tür keinem Schellen – löse ich meinen Haus­halt auf. Ich ziehe nach Hamburg, nehme kaum etwas mit mir. Ich richte mich völlig neu ein und – nein, lachen Sie nicht! – beauf­trage eine Detektei, nach dem Dämon Ausschau zu halten. Zwei Jahre später wird er in Eppendorf ge­sichtet. Wieder fliehe ich. Haben Sie eine Ahnung, was ein gefälschter Ausweis kostet! – Ins­gesamt fünf­mal bin ich seither zu jemandem anderes geworden.“
„Aber nun können Sie nicht mehr publizieren…“
„Sehr richtig. – Es ist das Buch.“
„Bitte?“
„Ich fasse an, was ich will, alles gelingt mir. Ökonomisch, verstehn Sie? Zu­letzt speku­lier ich in Häu­sern.“ Er schweigt einen Mo­ment. „Menschlich.. menschlich bringt mich das um. Das Buch bringt mich um, frißt mich von innen, denn es ist in mich geschlüpft. Es hat die Seele eines Insekts. Durch mich begeht es Verbrechen aus dem Hand­ge­lenk. Ich lehne mich zwar auf, verzweifelt, zermürbt, aber dann… dann muß ich doch wieder jemanden schlagen oder… überfahren. Ich kann nicht anders, ich halte drauf. Also schaff ich mein Auto ab. Da geht das mit den Rasierklingen los. Es ist entsetzlich! Doch das Buch überschüttet mich mit Visionen und schenkt mir einen wunderbaren, un­nennbaren Schmerz.“ Hinterm Dunklen stöhnt Mielke auf in seinem Sessel. „Dann – endlich! – will ich mich befreien. Aber es brennt nicht. Meine Güte, welch eine Über­windung, ein Streichholz dem Einband auch nur zu nähern! Sofort springt Ihnen eine der Hauswände ent­gegen, oder der Eßtisch platzt, oder sonst etwas Un­glaubli­ches, Zähes, Wi­derwärtiges geschieht. Da überwinde ich mich, da schleudr’ ich den Versu­cher ins Feuer. Aber hilflos und kläglich spückeln die Flammen dran herum und erlö­schen. Sie gehn gradezu ein. – Ich versuch es,“ er kichert, „dann mit… mit Weih­wasser – so sehr erniedrige ich mich, daß ich, wie ir­gend ein Dummkopf, Weihwasser aus Kirchen stehle und die Seiten damit be­sprengte. Ach wie absurd! Alles versagt ge­gen Chtullhu: Voodoo-Zauber, to­temistische Be­schwörungen, jedwedes Ritual. Dann endlich, endlich, entschließe ich mich zum Entzug und lese einfach nicht mehr drin. Das ist eine Qual, ja, aber ich stehe sie durch, ich hab mich in der Gewalt, ich ver­schließe es, schließe es weg, und nun… nun, Herr Baumann, bin ich sein Hüter. Allmählich mildern sich meine Vi­sionen. Ach, das Fernse­hen! Wahrhaf­tig! Welch karitative Erfindung! Es betäubt mich mit heilsamer Ohnmacht, ich mache mich stumpf, ganz stumpf. Nur so kann man leben, Herr Baumann.“ Er atmet langsamer, noch langsamer, dann flüstert er: „Und jetzt hat man den Dämon hier in Braunschweig gesehen. Und ich hab keine Kraft mehr.“ Sein Atmen wird Wimmern. Das wird ein Schnarchen. Mir dreht sich der Kopf. Leise räume ich Geschirr und Aschenbecher in die Kü­che und gehe zu Bett.

[Fortsetzung und der Schluß – morgen.]


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