Was der Haß tut. Vittorio Gnecchis Cassandra und Richard Strauss’ Elektra an der Deutschen Oper Berlin. Unter Leopold Hager in einer Inszenierung Kirsten Harms’.

[Geschrieben fürs >>>> Opernnetz.]

>>>>> Das ist ein Geniestreich.

Es ist Geniestreich in gleich dreierlei Hinsicht:
1) als Inszenierung-selbst, ihrer antik-historischen Reihung halber, die zwei aufführungspraktisch immer getrennte Mythen für Bühne und Bewußtsein zusammenbindet, indem sie ihnen die Chronologie und damit eine Begründetheit zurückerstattet, die ansonsten den wenigsten Zuhörern präsent sein dürfte; gleichzeitig wird hier, psychologisch, die Mechanik von Schicksal erschütternd evident;
2) als Wiederentdeckung eines Komponisten, der aufgrund eines Urheberstreits durchaus abgeschoben worden ist und der nun eine sehr berechtigte, wenn auch sehr verspätete Wiedergutmachung erfährt;
3) als entschiedener Gestus der Intendantin, endlich einmal mit der Hand auf den Tisch zu knallen und rein qua inszenatorischer Klasse „Nun ist’s genug!“ uneinsprechbar in den Öffentlichen Raum zu pflanzen.

Elektras Handlung muß man nicht mehr referieren, die der Cassandra in gebotener Kürze aber wohl doch. Um seine Kriegsfahrt nach Troja fortsetzen zu können, opfert Agamemnon der Artemis seine und Klytämnestras Tochter Iphigenie; in Mykene regiert Klytämnestra während seiner zehnjährigen Abwesenheit weiter; die Opferung der Tochter läßt sie voll Haß auf den Gatten sein und in Liebe Aegisth verfallen, der ein eigenes bittres Süppchen mit Agamemnon auszulöffeln hat. Die Oper setzt ein, als Agamemnon zurückkehrt; Klytämnestra trägt ihre Gefühle vor, Aegisth die seinen (vor allem aber, bei Harms, den Gestus eines, der außer politischem Kalkül gar kein Innenleben h a t); Agamemnon tritt auf, es kommt zu einer Scheinversöhnung der Gatten, schon auch zum Auftritt Cassandras, die Agamemnons Tod weissagt. Wie ihr Fluch es will, glaubt ihr niemand. Agamemnon wird ermordet, die Leiche über eine Schütte in eine Art knöcheltief mit Ruß bedecktes Verlies geworfen, in dessen einer Ecke das kleine Mädchen Elektra sitzt und so zur Zeugin des Mordes wird. Schlußakkord und Vorhang.

Dieses Verlies ist ein schlagender Einfall Bernd Damovskys. Wir sehen zu Anfang die riesige Goldwand des Palastes, die ein Portal hat, indem sich die Seiten je zur Seite schieben lassen. Dahinter, quasi hinterbühnig, gleich eine zweite Goldwand, anfangs noch Palastareal, zum Schluß, mit dem Mord, Areal des Verlieses, in das ein hohes Oberlicht über die Rückkulisse hineinsehen läßt; sowohl Fenster für Auftritte wie als makabere Schütte. Das Bühnenbild ist deshalb perfekt, weil es einem sowohl – in Cassandra – die Weite des Palastes wie – in Elektra – die Enge des Verlieses vor die Augen stellt. Eben dieses Bühnenbild wird von Cassandra zu Elektra übernommen; die ineinander zwingend – tragisch – verklammerten Handlungsfolgen machen aus den beiden Opern eine tatsächlich einzige. Wenn Elektra aus dem Ruß zum ersten Mal aufsteht, ist sie imgrunde seit Ermordung ihres Vaters immer in diesem Verlies lebengeblieben – soweit man eine sich mehr und mehr in den Haß pressende Existenz ein Leben noch nennen kann.
Das wird in der Elektra wohl am deutlichsten in den Chrysothemis-Passagen; ich habe diesen berechtigten Einspruch gegen Gerechtigkeit und für das Leben noch in keiner Elektra so herausgearbeitet erlebt, so schaurig-wahr und nah. Für mich die eigentliche Entdeckung des Abends, Manuela Uhl, gestaltet ihre Rolle mit herzbeengender Intensität, zudem einem solch strahlenden, klagestrahlenden Sopran, daß man fassungslos dasitzt und einer ganz-anderen Hauptperson als der bislang immer verstandenen lauscht. Man kann durchaus sagen, es habe Uhls sängerische Präsenz die dunkle, zudem sehr vom Vibrato getragene Stimme Jeanne-Michèle Charbonnets, also Elektras, einige Male überleuchtet. Wie sich hier der Focus von der nur-hassenden Elektra auf die Schwester verschiebt, die leben, einfach leben, die ein Frauenleben leben und Leben geben und nicht nehmen will – das liegt ganz sicher an der speziell weiblichen Perspektive, unter der Frau Harms dieses Stück Mythos betrachtet und inszenatorisch jenseits jedes Kohlhaas’ beseelt hat.
Schon in Klytämnestras erstem Auftritt in Cassandra ist das zu spüren: Es liegt ja ungemeine Tragik darin, wenn eine Frau bekennt, den Geliebten mehr als die eigenen Kinder zu lieben; es liegt die Verzweiflung von Müttern darin, die ihre Babies töten. Schon in den Duetten Klytämnestras mit Aegisth ist das permanent präsent, weniger in der Musik vielleicht, als in der Art, in der Frau Harms Piero Terranova auftreten läßt: hier hat einer für die eigenen politischen Rancunes sich emotional einer Frau bemächtigt, die des Tochterverlustes halber alle Übersicht verloren hat und zum Objekt herabfiel; eine Konstellation, von der wir wissen, daß sie Hörigkeiten begründet. Dieser Hörigkeit gibt Gnecchis Musik härtesten Ausdruck: ihr und der ihr zugrundeliegenden Verzweiflung, sowie, g a n z hart, den sich immer weiterschreibenden tragischen Folgen. Unentrinnbarbeit ist das menschliche, übermenschliche Thema beider Opern. Es ist damit zugleich das Thema ihrer Modernität.
Die der verkannte Vittorio Gnecchi unerbittlicher Klang werden läßt als Richard Strauss. Gerade in der Folge beider Opern wird hörend sehr klar, wo überall Strauss ein Parfum hineingegeben hat, das zwar dem Pubikum gut riecht, aber das blutige Geschehen verlogen ornamentiert. Gnecchi läßt Agamemnon (jenseits der Szene) ermorden, der Leichnam rutscht die Schütte runter, in der Ecke sitzt Elektra-als-kleines-Mädchen, Schluß. Strauss läßt Klytämnestra und Aegisth ermorden, dann folgen Ewigkeiten lang Jubel und Tanzen im Blut, alles hochraffiniert komponiert, dramaturgisch aber quälend redundant. Imgrunde ist das nur über die Schokoladen der Jugendstils zu verstehen, vor denen Gnecchi seine profanere Herkunft aus dem symbolfreien Verismo geschützt hat.
Für diese letzten Elektra-Minuten, die ich schon immer als lästig empfunden habe, weil sie so fett nach dem Publikum mit Speckseiten werfen und die eigenen – großen – Einfälle falsch-heroisch nachbefeiern, anstatt daß man der Präsenz der Szene diente… für diese Minuten hat Frau Harms, die das offenbar ähnlich spürt, auf etwas nicht Stückimmanentes zurückgegriffen: nämlich läßt sie Tänzerinnen in den Ruß hinein. Dort, während Elektra immer perverser im Blutrausch walzt, walzen die nun mit, aber sich konvulsivisch windend, immer halb im Todeskampf-selbst. Das wirkt anfangs aufgesetzt, weil es die Selbstfeier-Musik noch verdoppelt, erstarrt aber plötzlich, ganz stringent, in ein atemschnürendes Schlußbild, das aus dem Verlies wieder den Palast-gesamt macht: E r nun ist von Ruß überdeckt; und e r nun ist mit Leichen besprenkelt. Die einzige da, die noch lebt, ist Chrysothemis. So dürfen wir vielleicht auf Erlösung hoffen.

Vittorio Gnecchis hochexpressive Musik ist klanglich ebenso dem Verismo verpflichtet, wie sie doch ganz deutlich die Härten des deutschen Fachs in sich austrägt, dem man die einem Mythos völlig adäquate inhumane Konsequenz immer sofort abspürt. Da ist bei Gnecchi keinerlei Italianità. Das wird von Leopold Hager genauso unerbittlich dirigiert, weshalb die Süßigkeiten der strauss’schen Partitur, von denen Gnecchis frei ist, nur um so konturierter im Rampenlicht herumtänzeln. Zwar reicht des Italieners melodische Erfindungskraft an Straussens nicht heran; ist deshalb aber auch nicht so gefährdet, sich vom eigenen Schwelgen verführen zu lassen. Gnecchis Melodik ist recht eigentlich Architektur und als solche so deterministisch radikal wie der Mythos selbst. D a liegt Gnecchis Kraft. Ein unstatthafter Vergleich beider Stücke gäbe deshalb dem Italiener den Vorrang. Strauss mag das geahnt haben, als er leugnete, vor oder während der Arbeit an Elektra Gnecchis Oper gekannt zu haben. Seine Macht im internationalen Musikbetrieb war dann so immens, daß der 1954 verstorbene Gnecchi in die Vergessenheit wegsank. Man kann Frau Harms gar nicht genug danken, hiergegen ein Korrektiv auf die Bühne gestellt zu haben. Strauss und seiner Leistung tut das keinen Abbruch, und zwar nicht einmal dann, wenn er tatsächlich einige Einfälle, vor allem den musikalisch-dramatischen Impetus Genecchis, abgekupfert haben sollte. Aber es stellt ihm den Italiener, wenigstens mit seiner Cassandra, als völlig ebenbürtig an die Seite. Immerhin war es kein geringerer als Toscanini, der die Cassandra übers Taufbecken hielt, sie dann allerdings reinfallen ließ und, sich umdrehend, aus dieser Kirche wegging. Welche Feigheiten und machtpolitischen Spielchen da immer auch losgelassen gewesen sein mögen, wir Heutigen sollten die beiden Stücke als das begreifen, was sie sind: Meisterleistungen, die sich gegenseitig erklären – und uns, was es, das Schicksal, ist, in dessen Dynamiken, nach wie vor, wir ausgeliefert leben.

[Weitere Vorstellungen:
>>>> 8. November 2007.
>>>> 16. November 2007.
>>>> 19. Januar 2008.]

2 thoughts on “Was der Haß tut. Vittorio Gnecchis Cassandra und Richard Strauss’ Elektra an der Deutschen Oper Berlin. Unter Leopold Hager in einer Inszenierung Kirsten Harms’.

  1. Gehässiger Quatsch. Manuel Brug über Cassandra/Elektra in der WELT. Oder nix begriffen. >>>> Hier.

    [Möglicherweise erklärt sich das auch aus einem einfachen “man mag diese Frau nicht”. Und dabei soll es bleiben.]

    Andere Stimmen sind differenzierter oder werten doch anders:
    >>>> Lemke-Marwey im Tagesspiegel.
    >>>> Kaden in der BZ.

    Es wäre interessant, die kritischen Männer- mit den kritischen Frauenstimmen zu vergleichen. Vielleicht werden Die Dschungel das auch mal tun, wenn genügend Material vorliegt.

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahren Sie mehr darüber, wie Ihre Kommentardaten verarbeitet werden .