Paul Reichenbachs Donnerstag, der 18.Oktober 2007. Biologik.

Briefschulden. Seit Tagen drücken sie, ähnlich wie das Tb, seit dem Bruno auf einer neuen, sicher notwendigen Suche nach sich selbst ist. Es war doch sehr angenehm zu wissen, wenn einem der Stoff ausgeht, dass der Nachbar und Freund die Lücke schon schließen wird. SIE ist in Israel. Wieder einmal. Und nicht einmal Bruno, wenn er hier wieder präsent wäre, könnte meine Mails für mich schreiben. Was mir zur Zeit einfach fehlt, im Tagebuch wie in meiner Korrespondenz mit IHR, ist ein durchgängiges Thema. Einen Brief oder eine Mail, einen Tagebucheintrag mit Wetterbericht und Arbeitssorgen zu füllen, sie wiederholen sich täglich, ist mir dann doch zu banal. Von meiner litauischen Influenza, die ohne Husten und Schnupfen seit Wochen fiebernd durch meine Glieder zieht und die Hirntätigkeit scheinbar völlig zum Erliegen gebracht hat, wage ich nicht zu berichten. Gut, man kann über Literatur reden, über Julia Franck z.B., obwohl auch hier mit einer Zeile, einem Satz alles gesagt ist. Das Buch gefällt mir nicht. Es ist durchschnittlich gut. Man muss es also nicht gelesen haben. Erzählen könnte ich, das ist schon besser, über die Performance von vergangener Woche von >>>Reiner Maria Matysik> in der Gutleutstraße. Matysiks Vortrag war sehr gut, sehr interessant. Haben doch seine Ideen von Bioplastiken etwas wunderbar Positives. Er ist für mich der erste, der glaubwürdig das Zeitalter der Biologie als eine biologisch-ästhetische Revolution begreift, zu der wir nur ja sagen brauchen. Seine Performance, ein liebevoller Appell an die meist längst verschüttete aufklärerische Intelligenz, eröffnetder Entwicklung allen Lebens auf unserem Planeten Möglichkeiten, die so utopisch sie auch scheinen, mich einerseits begeistern und andererseits, bei näherem Nachdenken, etwas perspektivenskeptisch stimmen. Aber auch mit diesen Sätzen werde ich, um nicht ganz dämlich oder gar als schreibfaul zu gelten, nicht auskommen. Oder doch? Sobald ich Feierabend habe, werde ich mir Matysiks Internetseite noch einmal genau ansehen. Im Übrigen schenkte er mir eines seiner Bücher und versah es, als ich ihm berichtete, dass sie, nicht SIE, Biologin ist, mit einer Widmung für sie.

So wie die Aura der Kunst zerfallen ist, ist die Aura der Natur zerfallen. Durch die technische Reproduzierbarkeit von Natur verliert diese ihre Aura und wird damit als kulturelle Leitvorstellung unbrauchbar. Sie verliert den Charakter eines Grundsteins moralischen Selbstverständnisses und dient nicht mehr zur Orientierung im Kosmos. Wir sind frei von der Natur. Dieser Text ist nur von Interesse, wenn er eine Veränderung der bestehenden Ordnung nach sich zieht. Der schöpferische Mensch wird die Zerstörung der alten Lebensweisen fordern. Die Surrealisten begrüßten die radikalen Kommunisten und die Futuristen den Krieg. Beides schien die Möglichkeit für einen Neuanfang zu bieten. Die gegenwärtige Revolution der biologischen Welt bietet die Möglichkeit einer radikalen Veränderung der gegenwärtig kränkelnden Zustände in der Kunst. Die ästhetisch-biologische Revolution wird zu einer grundlegenden Umstrukturierung des Lebens führen. Menschen werden keine Menschen mehr werden. Aus dem Keim, aus dem bislang Menschen entstanden wird vieles höchst vielfältiges hervorkommen können.
Es geht um eine Weiterentwicklung der Lebensformen. Hier ist auch das gesellschaftliche Miteinander gemeint. Das aber nur als ein Teil der Umwandlungen. Die Veränderung beginnt mit der evolutionären Weiterentwickung der Lebewesen (- aller Lebewesen einschließlich des Menschen). Diese stetige, dynamische Bewegung schafft aus existierenden Organismen in immer kürzerer Zeit grundlegend neuartige Lebewesen. Nach Epochen des gemächlichen Wandels hat die Natur sich im Menschen ein Werkzeug geschaffen, das das von ihr aufgebaute und lange aufgestaute Potential an Lebensformen zur Entfaltung bringen kann. Nun ist es geboten, diese Zukunft, das neue Leben, Gegenwart werden zu lassen.
Die natürliche wie die gesellschaftliche Evolution steuern dem Nutzen der Welt und dem Glück ihrer Bewohner entgegen.
Wie die Zellen im Organismus einen Staatenverband gebildet haben, werden die bislang voneinander unüberbrückbar getrennten Organismen eine weitere Ebene des Zusammenschlusses bilden. Ebenso, wie die einzelne Zelle mit den anderen Zellen zu einem Körper verschmolzen ist, werden die Organismen zu einem neuen Körper verschmelzen. Ebenso wie die einzelne Zelle vom Wohlergehen des Organismus abhängig ist, werden die Organismen vom Wohlergehen der verschmolzenen Gruppen abhängig werden. So wird die Individuelle Freiheit als das entlarvt, was sie letztendlich ist, eine Sackgasse der Entwicklung der Lebewesen. Über biochemische Vernetzung wird die Kommunikation unter den Organismen intensiviert und die noch feste Grenze der Individuen geistig und körperlich immer mehr aufgelöst.
Einzelne Organismen werden physiologisch miteinander verbunden. Erst so unauffällig, wie wir mit den Mitochondrien, die schon jetzt als fremde Wesen in uns leben um uns bedingungslos zu dienen. So werden unterschiedliche pflanzliche Einzeller in unseren Zellen leben. Sie werden uns die Photosynthese und anderes ermöglichen. Auch die Addition von höheren Organismen in der pränatalen Phase bildet eine Möglichkeit das vereinzelte Leben zu überwinden. Die Menschen der Zukunft haben die Grenze ihrer Individualität aufgegeben und erhalten dafür die Chance Teil zu sein in dem Fluß des Lebens. Verbunden mit anderen Organismen der Welt werden sie nicht mehr eigenständiges Lebewesen sein. Menschen können entscheiden, ob sie alleine leben , oder sich mit einem anderen Lebewesen zusammenbringen lassen wollen.
Sie können mit einer Pflanze oder einem anderen Menschen wie auch einem Teil eines Lebewesens zu einem Organismus verbunden werden. Aber auch komplexere Formen der Überschreitung der Grenzen des Individuums sind möglich.
Das Leben ist ein beständiger Sterbensprozess. Dieser Prozess des Verfalls ist nur durch die Zeugung einer weiteren Generation zu vermeiden. In sie gehen die Gedanken, Fähigkeiten der jetzigen Generation ein. Neu ist, daß das Bewußtsein der jetzigen Generation in die nächste mitgenommen werden kann. So bleibt das erreichte Wissen und Erleben. Das Vererben des biologisch und geistig Erreichten auf die Nachfahren entfällt, ebenso das mühevolle wieder Zusammensuchen und erlernen durch die folgende Generation. Die Generation, die sich in die nächste einoperieren kann, überwindet den Tod und damit das Verstreuen des in sich konzentrierten. Allerdings wird das Selbst, ich oder Individuum nicht zu vergleichen sein mit dem was wir jetzt darunter verstehen. Die Einheit Mensch, der Einzelne wird sich zum Beteiligten an einem Organismus ohne feste Abgrenzung anderen gegenüber hin entwickeln. Erst wenn der Einzelne nicht mehr existiert wird Leben glücklich sein. (Reiner Maria Matysik)

Literaturhinweis: Reiner Matysik / Wesen und Utopie
Der Künstler Reiner Matysik entwickelt die Grundlagen und Prototypen für mögliche Lebensformen der zukünftigen Welt. Als Zwischenstufe zwischen gedanklicher Konzeption und praktischer Umsetzung entstehen seine Plastiken, die „Prototypmodelle postevolutionärer Lebensformen“, die im ersten Teil vorliegender Publikation, Wesen, in Auswahl präsentiert werden. In der Zusammenstellung von Gesamtansicht, Detailfotografien und Begleittext wird zum einen jedes einzelne Modell ausführlich dokumentiert, zum anderen seine jeweilige Bedeutung im Zusammenhang des künstlerischen Ansatzes verdeutlicht. Der zweite Teil, Utopie, versammelt Beiträge, deren Autoren das Werk Reiner Matysiks vom Blickpunkt ihrer jeweiligen Disziplin betrachten: u.a. der Kunsthistoriker Markus Lepper, die Soziologin Alexandra Müller, die Philosophen Burghart Schmidt und Marc Wrasse, der Künstler Michael Wagener. reihe mono / stereo / Bd. 4 / 2007 / 2 Bücher im Schuber / Euro 44,00 / ISBN 978-3-936826-55-5. Teil 1: Wesen. Prototypmodelle postevolutionärer Lebensformen / 264 S. / 450 durchgehend farbige Abb. / br., Fadenheftung / 24 x 17,4 cm / dt./engl. / Euro 29,00 / ISBN 978-3-936826-56-2
Teil 2: Utopie. Texte und Projekte / 264 S. / 100 s/w Abb. / Schutzumschlag / br. / 24 x 17,4 cm / dt./engl. / Euro 19,00 / ISBN 978-3-936826-57-9. gutleut verlag Frankfurt am Main & Weimar

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