Dies ist mit Gewißheit eine der besten Inszenierungen Berlins, wenn nicht Deutschlands, und das, immer noch, >>>> obwohl sie anderthalb Jahr alt ist und für die Wiederaufnahme nicht nur Hauptpartien umbesetzt sind, sondern das Orchester unter der Leitung nunmehr Christopher Moulds nicht immer die Brillanz und Fülle der >>>> in der benachbarten Lindenoper Telemann musizierenden Akademie für Alte Musik Berlin erreicht – was sicher der Umstand verschuldet, daß es hinter das Spielfeld gelegt wurde, allerdings unter einen hölzernen Baldachin, der den Klang davor schützt, vom Schnürboden weggesogen zu werden. Nun verstärkt diese Aufstellung entschieden den inszenatorischen Zugriff, gibt ihm seinen epischen Character und spielt dabei zugleich auf die historische Aufführungspraxis an. Schon diese Doppelbindung macht die Inszenierung hochmodern.
Sie ist nicht angenehm. Sie spielt mit dem Blut. Sie richtet den Blick aufs Barbarische. Das wird mit einem – im Wortsinn: ungeheueren – Spiel-Ernst vorgeführt, dabei stets auf dem schmalen Grat zwischen Grauen und Groteske, so daß man zu fühlen bekommt, was mit homerischem Gelächter gemeint gewesen ist. Ob man erschreckt oder entsetzt lacht – das eben ist der innere Widerspruch, mit dem es das Publikum hier zu tun bekommt.
Dazu werden die Improvisationsmittel des Gegenwartstheaters geradezu atemberaubend sicher beherrscht, sei es, daß die Sänger selbst unsere furchtbare Ambivalenz völlig bewußt gestalten, etwa indem sie selber die kleinen Umbauten besorgen oder sich auf der Bühne für den je nächsten Auftritt maskieren, sei es, daß vermittels technischer Mittel wie etwa einer von einem Spieler geführten Handcamera solch ein Szenenwechsel eingeleitet, bzw. begleitet wird. Auf drei, teils zurechtimprovisierbaren, Leinwänden, eher Leinwändchen, je rechts und links, sowie einer größeren noch hinter dem Orchester, die aber sehr vorsichtig eingesetzt wird, bekommen wir teils andere Spielorte, teils Ausschnitte aus der unmittelbaren Realität zu sehen, die permanente Blutwascherei etwa im Artemis-Tempel, aber auch – das gehört zu den allerintensivsten Minuten, die ich auf dem Theater je erlebt habe – das Gesicht eines Guantánamo-Häftlings, der kurz vor seiner vermeintlichen Exekution steht. Dazu singt Pylades derart wunderschön seine Arie „Ich muß sterben“, daß man schlucken muß. Die Handcamera hält dabei sein Gesicht in einer Folge stehender Bilder, stehender Ausdrücke, fest, die über Orchester und Szene hinweg dem Zuhörer riesig in die Augen blicken.
Genial, weiterhin, immer noch, dieser Einfall, die musikalische Begleitung der Rezitative eine Balalaika und ein Akkordeon übernehmen zu lassen, die auf der Bühne von zwei frühstückenden und dazu (man denkt: Wodka) trinkenden Matrosen gespielt werden. Das gibt dem Stück einigen Schmutz dazu – den Schmutz der Wirklichkeit, der im Akkordeon manchmal nach den rutschenden und atmenden Akkorden eines Vorstadttangos klingt und an Kippstellen schon mal zum ausgehaltenen Tinnitus wird. Manchmal beendet das, ja, „Schifferklavier“ mit solch einem schmutzigen Laut böse eine Arie. Da hält die Szene an, es wird dämmrig, und aus dem Off werden Fremdtexte Georges Batailles und Alexander Kluges gesprochen, eher geraunt. Immer ist auch Heiner Müller nah (Europa). Und das geht bruchlos – wäre es nicht so düster, könnte man es elegant nennen – in das Barockspiel des Orchesters über, wischt vom Barock sein Gefälliges ab, das in der Gegenwart das Höfische ersetzt hat, und erstattet ihm sein Übermäßiges zurück, die Lebensgier, die Todesangst, die in den großen Werken der Epoche derart unklassisch aufquoll und sie imgrunde zu d e r historischen Kunstrichtung unserer Gegenwart macht: Vanitas und Carpe diem. Es gibt keine Harmonie, und es gibt auch keinen Grund zur Hoffnung. Wo Menschen in großem Stil geschlachtet werden (immer noch wäscht Artemis blutige Knochen in ihrem Tempel) und wo sich zugleich so wenig wie in die Prophezeiung eines Delphischen Orakels heilend eingreifen, geschweige das Unheil abwenden läßt, bleiben entweder Ignoranz oder Verzweiflung und der wütende Wille, wenigstens noch ein bißchen aufs ausgelassenste mitzufeiern. Wenn man denn hinsieht.
Diese Inszenierung h a t hingesehen, und die mit Leidenschaft, manchmal wunderschön, immer aber s t a r k singenden Akteure haben das auch. Das ist das Großartige dieser Aufführung, daß die Sänger sowohl immer wissen, als auch, daß sie zugleich in ihren Rollen und ihrer Darstellung aufgehen. Auf den Ausdruck kommt es an. Der hebt diese Ensembleleistung – genau das ist es, es gibt da keine Rampensauerein – weit über vergleichbare Inszenierungen hinaus, auch über das gefällige Geschick der >>>> Lowery/Hosseinpour’schen Telemann-Inszenierung an der Staatsoper nebenan, ja man begreift den Unterschied jetzt erst, da man dieses wiedersah.
Das leider nicht so zahlreiche Publikum, das die gestrige Wiederaufnahme besuchte, hat das gewußt. Es muß die Aufgabe des Rezensenten sein, dieses Wissen weiter zu verbreiten. In heiligem Engagement zeigt Oper hier, was sie kann. Und das, ohne daß das Budget durch gewaltige Bühnentechnik, die showhaft beeindrucken soll, aufgebläht worden wäre, vielmehr fast allein durch die bewußte Verfügung über sowohl inszenatorische wie sangliche und darstellerische Fähigkeiten. Und auch, wenn die Sänger nicht selten an der Rampe singen, ja sie fixieren das Publikum mitunter: Du bist g e m e i n t – immer glühen sie ihren Gesang zu Anklage und Verzweiflung auf, doch verstehen es ebenso, die Szene und ihre Psychologie, Verfallenheiten und Widersprüche der jeweiligen Rollen, ganz individuell wieder herzustellen und ihre Rolle dann zu s e i n.
Langer – langer – geradezu insistierender Applaus… wie um dem Ensembelle zu bedeuten: So macht, bitte, weiter! Bitte mehr davon! Auch wenn das Haus nicht voll ist. Denn das geht an uns und uns an.
(Die nächsten Aufführungen:
12. | 20. | 31. Oktober
09. November.
Die etwa 2 1/4 Stunden werden ohne Pause durchgespielt.]
Heißt das nicht Ensemble?
@combambus. Stimmt. Tippdreher.
Danke.