Als Auftragswerk mehrerer Häuser hatte Hans Werner Henzes bislang letzte Oper „Phädra“ (wie einige Rezensenten schrieben: „seine voraussichtlich letzte Oper“ – vor so viel Grobheit kann’s einen nur schaudern) am 6. September 2007 ihre Uraufführung. Sie ist a u f ein oder, wie man nun will, m i t einem Libretto >>>> Christian Lehnerts geschrieben, das sich zeitlich weit auseinanderliegender antiker, sowie klassischer Quellen bedient und eine Art vermittelnder Neu-Interpretation des Mythos‘ versucht. Da Peter Mussbachs Inszenierung nunmehr querdurch Europa wandern wird, in Berlin aber schon abgesetzt ist, bleibt die Zeit, sie auszudiskutieren, statt einer schnellen Kritik die Hand zu reichen und sie auf etwas draufzulegen, das schon gar nicht mehr da ist. Zeit ist, Grundfragen zu stellen, nicht etwa zu beckmessern. Für solche Grundfragen ist die Berliner Aufführung – und wird das einstweilen bleiben – prädestiniert.
Es handelt sich, wohlgemerkt, um eine Uraufführung. So ist geraten, den nicht allgemeinvertrauten Mythos kurz zu referieren:
Phädra – Gattin Theseus‘, der soeben die Frucht einer anderen bis zum Wahnsinn lüsternen Verbindung, den Minotaurus, getötet hat – ist bis zum Wahnsinn lüstern auf den Jäger Hippolyt. Diese entgrenzende Verfallenheit an Lust lockt ihr Aphrodite, die sie antreibt, zur Seite. Nur ist Hippolyt gegenüber dem Eros tumb; er will nur jagen und verehrt deshalb ausschließlich Artemis. Zurückgewiesen, denunziert… man muß sagen: denunzieren beide, Phädra und Aphrodite, Hippolyt bei Phädras Mann als jemanden, der Phädra vergewaltigt habe. Woraufhin Theseus Poseidon anruft – von dem der Minotaurus empfangen worden war, dessen Halbschwester wiederum Phädra ist – und ihn Hippolyt durch das durch Poseidon wiederauferstandene Ungeheuer zerreißen läßt.
Es gab auch in der Antike ein Leben nach dem Tod. Darin leben nicht nur der Minotaurus, sondern auch Hippolyt schließlich weiter, den Artemis aus seinen Leichenteilen zur Wiederauferstehung zum Vogelwesen – ein Wesen zum Vögeln – patchworkt. Aus der Unterwelt kommend, versuchen Aphrodite und Phädra, diese ihrerseits in Vogel(Vögel)Gestalt, Hippolyt, den als Virbius „Zweigebornen“, mit sich in die Unterwelt zu locken und damit abermals zu verführen. Hippolyt/Virbius befreit sich durch einen Gewaltakt – indem er die beiden Göttinen niederwirft und als „Waldgott“ zur Erde zurückkehrt.So das Libretto, so nicht die Inszenierung. Was bei Henze, dessen Herz nach wie vor links schlägt, Emanzipationsakt ist (von den Göttern und also von Fremdbestimmung), wird bei Mussbach auf den nunmehr seinerseits sinnlich begehrenden Hippolyt focussiert, was sich während einer, meine ich, unnötigen und grob-linkischen Kopulations- ja Vergewaltigungsszene auf dem Konzertflügel Luft verschafft. Die Verhältnisse des Begehrens kehren sich vom ersten zum zweiten Akt regelrecht um: Mussbachs Interpretation.
Die hat einiges für, aber, an der Vorlage gemessen, mehr gegen sich.
Da ist Olafur Eliassons Bühnen-, hier nämlich eigentlich ein Raumbild, das die Guckkastensituation nahezu auflöst und mit beeindruckender Lichtregie aufwartet: nicht nur die Grenzen von Hörer/Zuschauer und Akteuren verwischen sich, sondern auch die zum Orchester, das hier hinter die Zuschauerreihen verlegt wurde. Aber dadurch, daß bisweilen der gesamte Bühnenraum ganz konkret zu einem Spiegel wird, worin sich die Zuschauer selber sehen, und sehen hinter sich den Orchestermusikern ins Gesicht, bleibt man insgesamt im Geschehen, ja wird noch besonders hineingezogen, ist Teil. Die Kategorien des positionierten Sehens werden quasi umgedreht, und ein Kontinuum wird hergestellt, das sehr wohl geeignet wäre, dem Mythos eine sinnlich erfahrbare Gegenwart zu geben. Hinzukommen Lichtspiele, die ebenfalls den gesamten Raum, incl. Publikum, erfassen, wandernde Lichtspiegelungen und -gebilde; oder es wird Theseus‘ Palast ebenfalls lichtbildnerisch auf die Bühne projeziert; es finden Auf- und Abtritte dort statt, oder die Wände des Palastes werden durchsichtig, man sieht durch sie in ihn hinein… All das sind herrliche Einfälle, die unmittelbar wirken – aber es sind auch deutlich technische Einfälle, und zwar von einer sinnlichen Moderne gespeist, die eher in Science-Fiction-Szenarien passen will, als ausgerechnet in die Albaner Berge. Problematisch daran ist nicht das Utopische oder Immerwährende, das einen Mythos bekanntermaßen auszeichnet, sondern problematisch ist die vermittelte technische Glätte, ist der Hochglanz, ist die polierte Flächigkeit, die solch ein Raumbild ausstrahlt. Sie macht die handelnden Personen – auch wenn sie über einen langen, vom Orchester an etwas erhöht durchs Publikum bis zur Bühne geführten Steg gehen, den das Regieteam bezeichnenderweise Catwalk nennt – zu ebenfalls technischen Hülsen, ich möchte sagen: puren Informationen in nur scheinbarer Menschengestalt. Was den Konflikt, der zwischen ihnen ausgetragen wird, zu einem ganz ähnlich abstrakten macht und letztlich eben die Sinnlichkeit zerstört, die Henzes Musik und Lehnerts Libretto vermitteln. Von allen Seiten faßt es einen an und ruft: Ich bin nur ein Symbol, ich leide, verlange, rase gar nicht wirklich. Das nimmt dem Stück seine Fraglität, und es wird grob – nämlich da, wo Henzes Oper mit Recht als Ausdruck einer menschlichen Erfahrung, die den Tod schon berührt hat, ernstgenommen werden muß. Darüber geht diese Inszenierung hinweg. Sie wird – das grandiose Raumbild maskiert das letztlich – zu einer Groteske, einer Performance, die nicht mit Fleisch und Blut, sondern mit entsinnlichten Ideen, Theoremen, operiert. Ich kann es auch einfacher sagen: Der Interpretationsüberbau walzt die Spuren wirklichen Begehrens und Leidens nieder – so daß schließlich nicht nur die agierenden Götter metaphorisch sind, sondern auch die Menschen, die, um ihr Schicksal zu erzählen, die göttlichen Metaphern geschaffen haben. Das geht auf Kosten der eigentlichen Oper. Man springt von Metaebene zu Metaebene, zumal auch schon eine Aufführung-für-sich imgrunde metaphorisch und sowieso Lehnerts Bearbeitung des Stoffes bereits Interpretation-selbst ist. Von der wird dann die nächste und von der die wiedernächste Metapher inszenatorisch ab-abstrahiert. Herauskommt schließlich nicht mehr ein zu erlebendes Geschehen, sondern es geschieht allein noch die A b s i c h t eines Geschehens. Wobei musikalisch vorgegebene, eine Interpretation geradezu herbeischreiende Phänomene ganz unbeachtet bleiben – etwa, daß Artemis, eine weibliche Gottheit, von einem Counter gesungen wird, ursprünglich also einem „Verschnittenen“, was paradigmatisch auf den Umstand verweist, daß die jungfräuliche Artemis einmal selbst eine Fruchtbarkeitsgöttin gewesen ist: wie nun der Sänger symbolisch seines Geschlechtes beraubt, so auch Artemis. Das zeugt von Henzes Raffinesse, die ausgebliebene Umsetzung aber nicht von Mussbachs. So sieht denn auch die Inszenierung in Sachen Personenführung aus; man muß von Figuren-, bzw. sogar von Metaphernführung sprechen, nahezu alles außer der Musik selbst biegt sich in den Rahmen gewollter Interpretation, wenn nicht vorgängig erarbeiteter Ideologie. Um sich dessen zu erwehren, bleibt einem nurmehr – gerade bei dieser lichtbild-sinnlichen, Tiefe auf Oberfläche dekonstruierenden Reizüberflutung -, die Augen zu schließen, um nur noch dem zuzuhören, was Henze komponiert hat.
Da finden sich, so vital auch alles daherkommt, tatsächlich massiv Momente eines Alterswerkes: Anspielungen, die zitathaft, aber keine Zitate sind (außer einmal einem Bach-Motiv: „Oh Ewigkeit, du Donnerwort“; Peter Petersen stellt das im wie immer schönen Programmbuch der Staatsoper deutlich dar), Anspielungen als Rückgriffe, wie wenn es gebliebene, bleibende Erinnerungen wären, die man nicht mehr genau zuordnen kann, indes möchte man ihnen verwehren, daß auch sie bald gehen; auch schon mal kurze naturalistische Beschwörungen einer Natur, die nun aber gerade von dieser Inszenierung wegradiert wird, quasi-Arkadisches in christlichem Gewand – Erlebtes möglicherweise, persönlich Wahrgenommenes, wenn der Komponist im Garten saß, während er komponiert hat; das ist nicht ohne Romantik, auch nicht ohne – wahrhaftige – Sentimentalität, aber immer gebunden über Henzes Form, über die Formung, wie sie nach wie vor die als musikalisches Skelett fungierende, typisch henzesch verwendete 12-Ton-Systematik erzwingt – da ist kein Nachlassen zu merken, schon gar nicht ein Paradigmenwechsel, wie er sich etwa bei Penderecki vollzogen hat. Daß zumindest beim ersten Zuhören Schönheiten des Librettos untergehen („Still wohnt die Sonne ein“, heißt es in der Schlußszene; ein Satz Lehnerts, dessen Lyrik lange nachzulauschen wäre), liegt in der Opernsache selbst begründet – vorausgesetzt, die Oper findet häufige Weiter-Interpretationen. Dann wird man vielleicht eines Tages auf ihn ebenso lauschen, wie man heute auf Wendungen Hofmannsthals bei Strauss lauscht – weil man sie weiß und dann darauf bebt: wie wird das intoniert? Man hat sie – wie so oft, bevor man Musik „versteht“ – immer und immer wieder gehört und ist schließlich auf sie so eingestellt, daß man Abweichungen überhaupt erst erfahren kann.Hier genau liegt das Hauptproblem der mussbach/eliasson’schen Inszenierung. Und da steht sie für so viele andere, ob nun in der Oper oder im Schauspiel. All mein Gemäkel spielte überhaupt keine Rolle, handelte es sich um die Interpretation eines schon viele Male inszenierten, viele Male gehörten und erlebten Stückes, sagen wir des Falstaffs. Da ist dann nämlich jeder Eingriff, sofern er in sich stimmt, erlaubt – und zwar weil sich jede neue Auffassung eines Stückes mit anderen Auffassungen zu einem lebendigen Wirken zusammenschließt. Für eine Uraufführung aber, die, wie in der Gegenwart gängig, oft für lange Zeit, wenn nicht überhaupt die einzige Aufführungsversion bleiben wird, gilt etwas völlig anderes: Da ist nicht auf die ideologische Absicht eines Regisseurs, sondern einzig auf möglichst vollendete Werktreue zu achten; den inszenatorischen Spielraum geben hier alleine Libretto und Partitur vor; weder die psychische Befindlichkeit noch auch etwaig politische Absichten eines produzierenden Teams haben da etwas zu suchen. Felshöhle bleibt da Felshöhle, ein Wald bleibt ein Wald – und alleine dort, wo die Werkvorgabe undeutlich ist und/oder ganz bewußt Deutungen w i l l, darf sich eine vom Werk getrennte inszenatorische Absicht hineinschieben. Denn die Uraufführung eines Stückes w i r d zu dem Stück, sie bestimmt maßgeblich jede spätere Draufsicht und bestimmt damit eben auch das Überleben nicht nur auf dem Theater, sondern unterdessen und als Folge auch dasjenige auf Tonträgern. Uraufführungen bestimmen über Leben und Sterben eines Stücks; hier hat eine andere Verantwortlichkeit zu herrschen.
So wunderschön sie oft auch singen, bei Mussbach haben die Figuren der Oper keine Chance, Personen zu werden. Das müßten sie aber, das müßten hier sogar die mitspielenden Gottheiten, die in der Antike ja eben nicht abstrakt und als Wort gefaßt sind, sondern personal mit Begehren und Wut und insgesamt einer dem Menschen nicht unähnlichen Verfallenheit an den Trieb: anders als ein monotheistischer Gott entsagen sie nicht. Um so mehr Hippolyt, um so mehr Phädra. Bei Mussbach handeln beide wie die Gottheiten als Ideen, nicht Personen. Grotesk werden sie vorgeführt, und noch, wenn sie sich gestisch direkt ans Publikum wenden, sind es doch Marionetten ohne Tragik; dieses bei Mussbach starke Element von brechtschem Theater bekommt durch die polierte Flächigkeit, durch das Technikprimat der Inszenierung etwas völlig aus der Lebenswirklichkeit der Zuschauer Herausgehobenes, und zwar gerade dort, wo eigentlich Nähe zu gestalten gewesen wäre. Das brechtsche Element ist ohnedies durch das sichtbare Orchester zuhanden; der Modellcharacter der Szenen wird, indem man ihn auf die Figuren überträgt, verdoppelt, was keinen Zugewinn an Erkenntnis bringt, schon gar nicht an Empathie, sondern es wird, was Absicht der Inszenierung war – Auflösen der Raumgrenzen und Hineinnehmen des Publikums ins Geschehen zur Wiederbelebung des Mythos als etwas, das in der Gegenwart erfahrbar bleibt und erfahren wird -, eben wieder ganz aufgehoben: daß „Phädra“ wahrscheinlich auch ein Ergebnis erfahrener Todesnähe ist, rückt die Erfahrung in eine teils travestische, teils sogar quasi-esoterische Ferne, als w o l l t e die Inszenierung ihr gar nicht nahe kommen, sondern eine solche Erfahrung rationalisierend von sich wegschieben. Anders ist etwa nicht zu begreifen, weshalb die Zäsur, die Henzes Musik mit dem Zweiten Akt vornimmt, gar keinen Reflex in der Inszenierung findet, daß nunmehr etwa immer wieder Geräusche aus der Realwelt, von Tonband, hinzugespielt werden. Ganz zu Anfang hört man etwas wie eine Baustelle, sogar der aufkommende Wind vor der Gewitterszene ist naturalistisch eingeblendet.
Aber vielleicht ist eine solche Erfahrung auch gar nicht teilbar, wenn einer selbst den Tod noch nicht berührte. Vielleicht ist Henze/Lehnerts Bezeichnung ihrer Oper als „Konzertoper“ eben davon der Ausdruck: die konzertante Aufführung von Opern verlangt ja gerade eine besondere Imaginationsarbeit des Zuhörers; er selbst muß aus der Ferne Nähe konzentrieren, und sein Material ist allein die gehörte Musik, zumal dann, wenn sie sich nicht qua Ohrwurm sofort erschließt und auf „schöne Stellen“ wie Melodien konsumierend vereinnahmen läßt. Um diese Konzentration zu erreichen, sind szenische Aufführungen die Türen. Mussbach/Eliassons Inzenierung aber ist eine Glocke, die sich abweisend darüberstülpt. Indem sie jedoch die Zuhörer in sich hineinnimmt wie in einen Tempel, der, sind die Gläubigen drinnen, gegens Außen abgeschlossen wird, und dann fängt der Feuerzauber an, verstellt sie ihm sogar, daß er ausgeschlossen wird. Das heben dann auch Assonanzen an erinnerte und wirkende Wirklichkeit nicht auf, etwa der Walzer-Anklang in der letzten Szene, oder der musikalisch anrührende Monolog Hippolyts/Virbius‘ in der dritten des Zweiten Aktes. Und hiervon ist nun g a r nichts in der Inszenierung erhalten:
Gitter
von Schatten im Schilf am See tanzen.
(Lehnert).
Es ist kein Schatten und kein Schilf.
Geschrieben für das >>>> Opernnetz.]