Napuledue, wieder aus Berlin: Il aprile cinque e sei duemilleseidici, an nämlich aber dem Donnerstag, dem 7.



la preda


[Arbeitswohnung, 8.10 Uhr
Jarrett, Creation]

Der Sog war stark, als ich vorgestern frühnachts für den Cigarillo des Tages auf der Steinbrust über der >>>> Scala di Montesanto saß, die Beine überm Abgrund hängend. So hatten nachmittags drei junge Frauen, ebenfalls rauchend, hier gesessen und geschwatzt und gelacht; da war ich ein wenig neidisch gewesen. Nun aber war es dunkel, zur ersten Empore geht‘s an die, schätze ich, zwanzig Meter hinab. Drittels den Vulkan hinauf und den langen Hafen entlang und weiter rund um die Küste flimmerten die Lichter bis ganz drüben nach Sorrento. Zwei weitere quasiTerrassen hinab lagerten die jungen Stadtstreicher auf ihren Matratzen, bisweilen schlug einer ihrer Hunde an. Jedesmal, stieg ich an ihnen vorbei hinauf, grüßten sie. Wenn ich morgen Neapel wieder verließe, würde ich ihnen den Rest Wein vorbeibringen, die geöffnete Literflasche, die ich nicht würde mit nach Deutschland nehmen können.
Hinterneben mir vier Männer, die den Aublick über den Hafen und zum Vulkan ganz ebenso genossen. Na, der hat Mut, sagte einer.
Hatte ich aber nicht. Wie geschrieben: der Sog war groß, zu groß.
Ich lehnte mich zurück, hielt mich quasi fest und noch fünf Minuten durch, dann zog ich die Beine zurück, kraxelte herab, nahm die letzten paar Stufen zum Corso hinauf, tat ein paar Schritte, stellte mich dann an die Brüstung, wie man an der Reling eines Schiffes steht, und rauchte zuende, bevor ich zum letzten Schlafen in mein Quartier ging, ein Stückerl den Corso weiter, in Richtung Pza Mazzini, dann rechts durch den schmalen Bogen die einundfünfzig Stufen hinab


und drinnen wieder zwanzig, aber weniger hohe, hinauf.
Ein Sprung oder ein Fallenlassen wäre gefährlich gewesen. Nicht für das Leben, nein, für den Tod.

Mit dem immer wieder Hermann Nitsch „gehandelt“ hat. Seine Erklärung ist wichtig:


Erklärung Hermann Nitschs.
>>>> museo Hermann Nitsch, Napoli

Keine mir bekannte andere Stadt, außer vielleicht noch Mumbai, scheint mir so perfekt auf seine Arbeit zu passen; in Mumbai fehlte allerdings das stark präsente katholische Element. Ich habe über das Museum >>>> schon einmal geschrieben und möchte mich nicht wiederholen; es ist auch >>>> in mein Hörstück eingegangen. Tatsächlich waren es von meinem Albergo dorthin nur wenige Minuten.
Unendlich bescheiden ist das Museum angezeigt:


Innen aber öffnet sich ein freier, durchweg eleganter Galerieort, dessen „Haupt“atelier nahezu denselben Blick auf den Vulkan öffnet, nur viel weiter, den ich von meinem Fenster aus hatte:


Wiewohl vorbereitet, wurde mir dann aber doch etwas schummrig, als ich lange die Videoaufnahme eines der Rituale ansah: wie auf den gänzlich entkleideten und hingestreckten Leib Mengen über Mengen Calamari und Polipi gehäuft wurden, die immer wieder wegrutschten, immer wieder aufge-, ja, –schmiert wurden, wie sich der Imagination da der Menschenleib-selbst öffnete, wie auf das verwiesen wird, was wir im Innersten sind. Dazu paßt, was ich zweidrei Stunden vorher am Lungomare >>>> Chiaias sah: Ein Fischer bot nahe Mergellina seinen kleinen Fang an, unter anderem zwei noch lebende Tintenfische, deren einer ständig zu entkommen versuchte:


Es ist mit Nitschs Aktionen, wenngleich vielleicht anderes zu vermuten wäre, gar kein Sexuelles verbunden. Sie erregen nicht, man müßte denn nekrophil sein. Schon weil dieses Sexuelle fehlt, läßt sich nicht von Pornographischem, gar von „Perversem“ sprechen. Viel deutlicher, nicht schreiend, sondern i n n i g deutlich ist der religiöse Nexus, in dem die Arbeit steht. Ich kann nur jedem empfehlen hinzugehen und sich ihr auszusetzen. Eintritt 10 Euro, vergleichsweise teuer, aber das Museum trägt sich privat und ist äußerst sorgsam gebaut – bis hin zum Konzert- und Vortragssaal, dessen Wände Nitschs Malaktionen zeigen, einige von ihnen:


Es gibt Verwandschaften zwischen Nischs Arbeit und Aspekten der meinen; nur bin ich nicht so ausschließlich wie er, aber eben auch kein Maler, indessen >>>> Fichte, eben w e i l hoch sexualisiert – und weil geschichtsbezogen – anderes Material favorisierte.
Wenn in Neapel, immer, pilgere ich in dieses Museum, wie ich auch stets wenigstens eine der Kirchen besuche und auf Stirn und Herz und Lippen vom geweihten Wasser nehme. Kerzen lassen sich nicht überall entzünden, weil der gschaftlhubernde Katholizismus sie weitgehend durch Glühbirnen-Fakes ersetzt hat, die mich abstoßen.
Eine Stunde etwa blieb ich.
Zu diesem Museum gehören wie zum >>>> Madre aber unbedingt nicht nur die Kunstwerke, sondern vor allem auch die Ausblicke auf die „weltlichen“ Ensembles der Stadt, Gassen, Gärten, Dächer:


Man darf frei herumgehen, die meisten Türen, auch solche, die nach draußen führen, stehen offen, man wird kaum beobachtet. Es ist aber auch kaum jemand je da – außer den freundlichen, meist sehr jungen Mitarbeitern; knapp davor, daß sie einem Kaffee bringen.
Woher ich käme? – Besucher fallen auf.

und die Düsternis wiedererschien
stieg aus den Gassen mir zu
gestern abend in Wut und disparazione
la lingua sola mea, sola per me
in Unverständligibilità für alle gli altri:

So saß ich auf der Brüstung, ließ die Beine hängen und sah hinüber zum Vulkan

Schon wieder rochen meine Finger nach Fisch

Meine kleine Pescheria, Montecalvario sotto: Spaghetti al vongole, un bichier‘ di vino bianco:: sechs Euro plus einen für das Wasser. Wann immer ich vorbeiflanierte, war ich ab da gegrüßt.

War zu müde abends, um noch zu schreiben, die Oberschenkel pochten. Um halb elf schon ging ich schlafen. Morgens wären Einkäufe zu tätigen, für die Beute. Um neun wär aufzubrechen, Tintenfische (totani, polipetti, calamari – es darf nichts durchseien, und hoffentlich halten sie durch) sowie Käse, Prosciutto und Salami verstaut, und die Tomaten, die wie Pralinen schmecken. Es ist immer ein kleines Abenteuer, wenn ich aus Neapel fortflieg: – bekomm ich alles mit, anstandslos durch die Kontrollen? Neun Kilo mehr im Rucksack als bei meiner Ankunft.

6.4., 9.58 Uhr
Alter Platz am Rand der Piazza Garibaldi. Hier saß ich früher oft.
Eine Stunde noch Zeit bis zur Abfahrt des Alibusses. Um herumzustreunen, zuviel Gewicht auf dem Rücken. Also Caffè und Cigarillo, SMSen, die Straße beobachten, 26 Grad Celsius:


Nochmal die Idee von gestern nacht überdacht: eine eigene Sprache, nur für die Gedichte, aus Deutsch und Italienisch komputieren. Und die großhofigen Palazzi in den quartieri spagnoli mit ihren großen Bögen über den in sie verschummernden Treppenfluchten. Die Topographie einer Stadt im Kopf haben. Und wieder, beim Beobachten/Betrachten, meditativ, der Passanten und des Treibens: „Alle Menschen schlafen“, Roman.
Notlächeln.
Eine sehr dicke Frau steigt hinter ihrem nicht ganz so dicken Mann auf die Vespa, nimmt im Damensitz Platz. So rattern die beiden davon.
Evolutionäres Erfolgsmodell Mensch.
Ein Anruf aus Deutschland: ob der Aufnahmetermin im ARD Hauptstadtstudio von 14 auf 16 Uhr verschoben werden könne, am Freitag..?

Im Alibus schimpft der Fahrer auf einen Passagier ein: Er habe den falschen Biglietto; der gelte nicht für diese Linie. Dann nimmt er den Mann aber mit und läßt ihn an dessen Wunschstraße hinaus, obwohl dort gar keine Haltestelle ist. Aus dem Streit hat sich während der Fahrt ein geradezu freundschaftliches Gespräch entwickelt – eine Freude, dessen Zeuge zu sein.
Der Rucksack geht anstandslos weg, die drei Kilo Übergewicht werden mit Schulterzucken registriert.
Noch anderthalb Stunden.
Der (noch) überflüssige Mantel über der Stuhllehne. Letzter Cigarillo Napules. Letzte Wärme:


*******

Abends Essen mit लक्ष्मी und Broßmann; ich bringe neapolitanisches Brot und kampanische Tomaten hinüber und zweierlei Sorten Prosciutto, eine Salami dolce dazu und den Rest Calamari al nero di seppia, sowie gekochte (!) Gorgonzola, jungen Pecorino und sehr alten Parmigiano; außerdem die beiden Flaschen des frizzanten Weines; geht alles restlos in die Mägen.
Die erste Nacht wieder, nun jà: „daheim“. Tiefer Schlaf, auf um Viertel nach sieben und zehn Minuten vor Jarrett.

Die Deutsche Grammophon hat Anoushka Shankars neue CD geschickt, >>>> „Land of Gold“; offiziell wird sie erst morgen erscheinen.
Die WDR-Lesungen aus dem >>>> Traumschiff müssen heute zusammengestellt werden. Das Antidepressivum bleibt abgesetzt, Neapel soll halten:


[Jarrett, Radiance]

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahren Sie mehr darüber, wie Ihre Kommentardaten verarbeitet werden .