Notate Napules (6). Lunedì, il 15 Aprile 2013. Erst abends aber die Fortsetzung der Purgatorio-Erzählung. Eingeschoben indessen ein drittes Fegefeuer: das Museum Hermann Nitsch, sowie Beschluß des ersten Purgatoriums.

8.15 Uhr:
[Alloggio del Conte, Camera.]
Also es i s t Markt, auch am Montag; dennoch wirkt die Gegend heute weniger qurilig, auch haben nicht alle Läden auf, sind nicht alle Stände aufgebaut, die die meist kleinen Innenquadraten dieser Geschäfte zu einer großen nach draußen verbreiten, sei es besonders der Fisch-, sei es besonders der Schuhhändler und andren jederlei oft technischen Krimskrams’, sowie ganze Lawinen von Kitsch; Haushaltswaren zudem, „tutto per la casa“: Töpfe, Espressomaschinchen, Besteck, Putzmittel, vieles nur um wenige Euro, wenn nicht Cents zu haben, solide Handarbeit, sei’s der Textilien, sei’s der Geräte, die mit einem Zeug gemischt sind, das beim ersten Gebrauch auseinanderfällt. Außerdem die Schmuggelartikel, die Blender und Massen CDs eines umgangenen Urheberrechts – aus China, wie ich hörte. Auch dieses Geschäft kontrolliert „das System“. Es gibt keine Razzien, jedenfalls habe ich niemals eine erlebt, so oft ich auch hierwar, Wen denn schnappte man auch? Ein paar bitterarme Nordafrikaner, Zentralafrikaner, bitterarme Inder, bitterarme Menschen aus Asien, wobei es diese nicht selten zu eigenen Geschäften gebracht haben, aber man weiß nicht, um welchen Preis, zumal die „Systeme“ längst international kooperieren, zu bedienende Bezirke verkaufen oder vermieten. Sowieso steht hinter all den fliegenden Händlern eine Reservearmee harrend bereit, falls jemand ausfällt, seinen Platz einzunehmen. Viel Zeit wird das System nicht aufwenden müssen, vakante Plätze zu besetzen, zumal ein solcher Kleinhändler oft deutlich mehr verdient als der Inhaber kleiner ehrlicher Läden; selbstverständlich ist dieses „mehr“ ausgesprochen relativ.
Wir wissen aus Berlin sehr gut, daß „Mafia“ längst kein süditalienisches Problem mehr ist; das war es wahrscheinlich schon lange nicht mehr, auch wenn die internationalen Märkte aus winzigen Örtchen Kampaniens, Kalabriens und Siziliens kontrolliert werden, bisweilen aus – >>>> Saviano zufolge – engen und dunklen Bunkern unter Häusern und Stallungen; der Herr über die Kapitalströme lebe schon zu allen Zeiten wie im Gefängnis. Der Preis für Macht. Man entscheide sich von Anfang an für ein unglückliches Leben.
Aus diesem Zirkel – daß, wenn man überleben wolle, nichts andres bleibe, als dem System zur Hand zu sein – wollen die jungen Menschen von >>>> La Paranza hinaus; ihre Kooperative zeigt, daß das geht. Ich will heute die „Heilige Meile“ La Sanitàs einmal zur Gänze, und bewußt, abgehen; kennen, die Gassen, „tue“ ich schon. Allerdings ist zu hoffen, daß ich mein Flanieren nicht zahnarztshalber abbrechen muß; heute morgen, als ich erwachte, waren die Schmerzen schon arg, haben sich aber nach dem Caffè auch wieder beruhigt.

Aber verzeihen Sie bitte: Bevor ich weitererzähle, muß ich die „eingefangenen“ O-Töne und auch noch einige Bilder sichern. Übermorgen bereits werde ich zurück nach Berlin fliegen, da beginnt die Zeit jetzt zu rasen. Wahrscheinlich schreibe ich Ihnen erst am Abend wieder.

(Und soeben bringt mir Michele wieder Caffè aufs Zimmer, der heiß und süß zu trinken ist; wer in Mercato/Pendino einen Caffè bestellt, bekommt ihn ungefragt süß, und wer ihn unbestellt bekommt, auch.)

Doch: Zu den Toten gehen:

PURGATORIO I (Fortsetzung)


[18.45 Uhr:
Zwischenspiel >>>> im Kommentar, auch nämlich in eigener Sache.]

PURGATORIO III
Il Museo Nitsch



Wenn zu dieser Stadt ein Museum paßt, dann dieses.

So hatte ich es empfunden, schon, als ich das Hinweisschild sah und ihm nun, anfangs mich verirrend, folgte. Nicht einmal Googlemaps wußte im Ifönchen Rat. Man muß auf einen Hügel in einem Hügel, nur Sackgäßchen, dann eine verserpentinte Treppe, die, was ich erst oben sah, obwohl ein böser Schäferhund mich warnte, an einer toten Felswand endete, in der aber lebend zwei Türen. Umgekehrt und zurück. Ein junger Mann halbdreiviertel Wegs, ich frage… – oh je, so er, ich müsse erst mal wieder zur Piazza – er sagte „Piazetta“ – Dante zurück und dann rechts und dann wieder rechts. Die Toledo dort ist belebt, man ahnt nicht recht von den Seiten, den Höhen, den Treppen – zu denen Sie bitte >>>> meinen Kommentar lesen möchten -, aber irgendwie findet man hin, folgt den auch wirklich angebrachten Schildern, rechts wieder, noch mal rechts, dann ein enger langer, langer Zuweg, alles, wie immer in Neapel, durcheinander bewohnt, alles porös, und dann stehen Sie mit einem Mal in einem neu aufs Alte gebauten, eleganten Gebäude mit atelierähnlichen, großen Ateliers ähnlichen Sälen, die über zwei Etagen gehen und in der Sala I den unfaßbarsten Blick auf den Vulkan haben, der sich aus einer Werkstatt vorstellen läßt. So hoch oben das Nest dieses Museums. Und so auf das halbe alte Neapel sieht es hinab.

Und so auch schreibe ich vom dritten Purgatorium, ohne das erste überhaupt beschlossen, geschweige das zweite begonnen zu haben – so sehr türmt sich meine Erzählung wie diese Stadt um sich selbst und verschlingt sich ineinander.
Feuer. Blut. Wasser.
Organe.
Hermann Nitschs Mysterien-Performances, die man, wenn auch aus dem Geist der Happenings, mit sehr großem Recht Rituale nennen muß. Zwei, die er in Neapel, direkt hier zu Füßen dieses Museums durchgeführt hat, das letzte 2009 oder 2010, sind in einer Videoinstallation nachzubetrachten. Aber nicht das fesselt mich. Sondern die enorme Kraft seiner Bilder, auch die der Fotografien, die von den Happenings genommen wurden. Kreuzigungsszenen, als Prozessionen durch die Stadt durchgeführt, moderne Interpretation der Via Dolorosa, gekreuzigt aber eben auch eine Frau, übergossen mit Blut, echtem; es scheint ihr aus dem Mund zu laufen, zwischen die Brüste bis zu den Beinen hinab. Das Geschlecht eines Mannes in Lebern und Nieren gebettet, von in der Performance geschlachteten und ausgeweideten Tieren, dazu immer wieder das Kreuz. Dazu die Insignien der Kirche, furchtbar mit Bacons Bildern der Päpste verwandt. Fassungslos und gepackt seh ich das an, wechsle ein paar Worte mit dem jungen Mann, der das Museum betreut. Er erzählt mir von der Prozession, die er selbst mitgemacht hat, auch von den Protesten die es gab; wie von Blasphemie gesprochen, ja gehetzt worden sei, die allgemeine öffentliche Aufregung dann, die Polizei und alles – dabei ist, was Nitsch hier vollzog, nichts andres als ein Hochamt selbst, das aber nicht abstrahiert, sondern mit dem Leben wirklich umgeht, und mit dem Tod, und also mit beider Organik. – Daß ich dieses sehen durfte, ist ohne jeden Zweifel, ein Höhepunkt meines Neapels in diesem April.

Und über die Treppen unter der Sonne, die Gassenfluchten der Schatten und erhitzten Fluchten der Treppen zurück h i n a b… in ein e r s t e s Purgatorium,
das erst, anders als die andern, im 16. Jahrhundert nach Christus begann. Denken Sie >>>> an die Taube, dessen erstorbener Blick uns folgt. Sie ist, auch wenn wir sie gerne vergiften, des Heiligen, unseres, Geistes Symbol. Und mein Zahnschmerz, immer wieder, pulst los. Ich sage, der Schmerz gehöre zum Leben; irrsinnigerweise, nach diesem Museum erst recht, ist es mir recht, daß er da ist, daß ich also m i t ihm lebe, mich in meiner Lebenswollust gar nicht von ihm stören lasse, sondern ihn integriere. Daß so etwas geht, habe ich zuvor nicht gewußt, ja, daß er die Eindrücke sogar intensiviert, auch und gerade die guten, überwältigenden, momenthaft unfaßbaren, glückhaften. und wie er jeden der Tausende Blicke ins Blau des Golfs und grad auch nach Capri hinüber noch ganz besonders auflädt, in deren Villa San Michele ich einmal gedacht habe, angekommen zu sein, endgültig, meint das und war doch, und ist doch, von einer humanistischen Komik, die ich damals auch gespürt und der ich dann >>>> in meinem vielleicht schönsten Hörstück, das war 2006, sieben Jahre ist es her, den Laut gegeben habe, die Laute und die Klänge –
– allora:
Die Heilige Meile.
La Sanità.
Und weiter zu den Quellen:

Sie erinnern sich: Ich war den Miglio Sancto, ohne schon seinen Begriff zu kennen, hinaufflaniert; ich eile stets, wenn ich flaniere, für andre jedenfalls; für mich selbst geh ich bequem. „Die Menschen sind so langsam“, hat >>>> Gogolin /?p=3899 einmal gestöhnt; zu denen gehöre aber nicht ich. – Ist man über den Corso Duca D’Aosla hinüber, wird die Gegend dörflich – wohlgemerkt: mitten in der Stadt. Und immer noch ist’s bis zu via delle Fontanelle ein Stück. Vor mir geht ein junges Touristenpaar, deutlich am Aufzug zu erkennen, aber freundlich im Aussehn, unaufdringlich, ohne Protz, verliebt und interessiert. Ich folge den beiden einfach, orientier mich gar nicht mehr. Dann die kleine Kirche SS Maria de la carmine: zu. Aber ein paar Leute hocken wartend auf den Stufen. Ganz offenbar bin ich richtig, außerdem etwas zu früh. Zeit für einen Caffè, einen Cornetto. Gegenüber ist tatsächlich eine Bar. Ich bestelle mich, setz mich unter die Pergola und notiere:

(Aus dem schwarzen Notizbuch:)

13.4., 9.50 Uhr, via Fontanelle, Cimitero.
Parocchia di Maria SS de la Carmine
3/4 h zu früh. Man ist fix hier, wenn man mit Googlemaps geht; es macht richtig Spaß in den Gassen, ist zugleich aber auch ein bißchen beklemmend, weil man immer derart ortbar ist. Andererseits ist das Ifönchen eine Art Stadtführer und als solcher perfekt, auch wenn das, um das Klima einer Stadt zu verstehen, geradezu notwendige SichVerlaufen ausgeschlossen ist. Man sieht, was man sehen möchte, aber nicht oder wenig darüber hinaus. So müssen wir also beides kombinieren: das Schweifende, das Gerichtete, und auch das entspricht dieser Stadt; allen Städten, die es sind, aber dieser hier besonders.
Ich sitz auf der Piazza Cimitero in einer kleinen Pizzeria, die auch Cornetti hat, und trinke am obligaten Plastiktisch, dessen Schwarz längst schon zum aber unterm Staub noch glänzenden Grau geworden, meinen Caffè und sinniere. Vom Alloggio abgesehen, in dem ich arbeite oder, quasi unentwegt, rede, die erste Ruhepause dieser Reise, zu der des nördlichen Sanitàs dörflicher Character überaus paßt. Mit im Rücken spielen zwei Männer, ebenfalls am Plastktisch, aber einem – von Coca Cola – roten, Karten. (Darauf achten, daß der Stil meiner Erzählung dem Porösen der Stadt entspricht: Verschachtelungen. Es ist gefährlich zu trennen, weil das an Neapel vorbeigehen würde, etwas so, wie wenn man sich für eine bestimmte Version des Stadtnamens entschiede. Statt dessen Napule, also, u n d Napoli, Neapel und Partenopolis, ja Paleonopolis – alles beisammen und zugleich: Paleopeia, so ist auch eine Straße in S. Lucia benannt.)
„Amaro“ ist „bitter“, „amare“ ist „lieben“, „amarena“ ist die Weichselkirsche, die mich an eine Clitoris erinnert, wenn sie erregt ist; „amabilità“ ist die Liebenswürdigkeit, „amarezza“ Bitterkeit. Mein kleine Dictionario, schriebe ich Gedichte auf Italienisch, gibt eine Vorlage der Welterkenntnis her, der Gefühle und Getränke. Mein weher Zahn pocht vor sich hin. Sieben Leute warten gegenüber, ein Pärchen ging für Momente verloren. Zu den Kartenspielern hat sich ein Dritter gesellt, der eine orientalisch klingende Canzone deutlich vor sich hinsummt. Hin und wieder kommt ein Büslein an, von der Cavour hoch, C51, die war – momentlang Erleichterung, von Googlemaps nicht erfaßt, worauf, will man eine Verbindung haben, anm – der napoletanische Verkehrsverbund – immer gleich direkt verlinkt. Peccato! und doch: welch Erleichterung… – (Filo 58: Cimitero delle fontanelle, O-Ton.)

Il tuffo giallo napoletano.

Der Cimitero ist tief in den Tuffstein gegraben, höhlen-, ja grottenartig. Man verbrachte, besonders nach den Epidemien, aber auch viele weitere Gebeine, die einst anderswo, vor allem in den Katakomben, begraben worden waren, hierher und schichtete sie sorgsam auf, die Reste völlig anonymer, Tausender Toter. Das ist für den Betrachter, der nicht zur Stadt gehört, makaber, bekommt aber einen anderen Klang und Geschmack, wenn man erfährt, daß einige Gebeine von den Menschen, die hierherkamen, gleichsam „adoptiert“ worden sind. Ja, die Geschichte wird Dichtung, wird literarisch, weil diesen Adoptierten nun Geschichten wirklich erfunden wurden, und an diese Geschichten haben die Menschen danach geglaubt; einigen wurden diese Geschichten als Wahrheit im Traum offenbart. So schuf man sich seine“ Verstorbenen und nahm die Anonymen in die eigene Familie auf. Die in Massengräbern notentsorgten Pest- und Choleratoten der vergangenen Jahrhunderte bekamen eine Geschichte. Also sind sie gewesen. Ganze Skelette wurden zu neuen, wenn auch toten Menschen zusammengestellt: Collagen des Todes, den wir alle gewärtigen.
Nahbei gab es Quellen, daher der Name „Fontanelle“; heute sind sie versiegt. Aber sie verbanden die Welt der Lebenden mit der der Gestorbenen. Denn wir trinken es. Das Wasser als eigentlicher Träger der Eucharistie: welch ein Gedanke! Mit Ausrufezeichen, weil er so konkret ist.
Was mich hier untertage wirklich benahm, war nicht die „Makabrität“, sondern die Ähnlichkeit des Tuffsteins mit dem Material unserer Knochen: wie porös eben auch sie sind und sehen sogar in der Farbe, ohne Sonnenlicht freilich, nahzu gleich aus.
Ich setzte mich, nachdem ich meinen Obolus entrichtet hatte, von der Gruppe aber schnell ab. In Gegenwart von Toten bin ich lieber allein. Der Tod, so allgemein er ist, ist für mich das Privateste, eben w e i l er allgemein ist. Verstehen Sie, was ich meine?
Es werden mir hier zu viel Witze gemacht. Ja, ich versteh das; die Psychoanalyse nennt es „Reaktionsbildung“; eine Art von Abwehr. Wenn man über die aber hinaus ist, wird sie lästig, auch billig, ohne daß die, die mit ihr agieren, dafür gerügt werden könnten. Ob und wie weit wir uns stellen oder nicht, stellen können oder nicht, ist eine Frage unsrer Entwicklung, die wir selbst kaum in der Hand gehabt haben. Wenn ich also beiseitetrat und für mich ging, ist das keine Überhebung.
Purgatorio, man muß es nur ansehn:

*******

Still, ganz still, ging ich davon. Ins Leben.

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  1. Um eine Packung Chesterfield. Zur Kleidung, zum Gemüse, zum Faschismus. 17.35 Uhr auf der Terrasse zurück.


    (Wieder auf der Terrasse arbeiten.)

    Von einem langen Ausflug zurück, der mich erst zur Villa Floridiana, La Floridiana, führte, der mir liebste Park Neapels, im Hang des Vòmero, danach mit dem V1er zum Castel Sant’Elmo, weil ich noch einmal den langen Abstieg gehen wollte, den die Löwin und ich schon im Februar gingen; auch von da habe ich Tonmitschnitte, nur daß es permanent regnete, ja mitunter goß, was den Klängen eine völlig andere Farbe verleiht. – Man kommt im Spanischen Viertel heraus und gleich auf die Via Toledo, von wo ich erst einmal heimfuhr, im so vollständig gefüllten, aus seinen Nieten platzenden R2-Bus, daß von draußen Leute nachschieben mußten, um mich noch hereinzubekommen. Mir gefällt so etwas, sogar sehr. Da ich aber nichts sehen konnte im Busgedränge, immerhin fiel man nicht um, völlig unmöglich, stieg ich zwei Stationen zu früh wieder aus und ging halt den Rest Rittofilo zu Fuß, einen Kilometer vielleicht; ich wollte auch gar nicht in den Alloggio, sondern hatte schon vorgestern ein Schnellrestaurant ins Auge genommen, das mittags von den Hiesigen heftig frequentiert wird: Zeichen guter Mercato-Küche. So war’s denn auch, wenn man davon absieht, daß ich einen „Polpettone“ irrtümlich von Pulpo ableitete und dann etwas überrascht auf einen Fleischwickel guckte:

    „Con patate“ freilich überraschte mich nicht, weil’s auf der Speisekarte so schon stand und ich patate kenne. Hier waren’s nun geachtelte Kartoffeln, die in olivgeöltem Rosmarin geschwenkt sind. Tatsächlich spielen Kartoffeln in Kampanien, anders als im Lande sonst, eine herausragende Ernährungsrolle; ihr Anbau ist eine schweizerische Invention des 19. Jahrhunderts gewesen, ähnlich wie die Tuchindustrie. Der Polpottone nun aber selbst ist eine unserm Falschen Hasen ähnliche grobe Pastete, die um ein mitgegartes Ei gewickelt und Käse versetzt ist. Ausgesprochen schmackhaft.
    Ich war’s mithin zufrieden. Nur, daß man mir, dem Touristen, auf meine Bestellung, „una birra, per favore“, ein Tuborg brachte; ich hätte italienisches Bier vorgezogen, auch wenn man das nur sehr gekühlt trinken kann, sonst schmeckt’s nach Ammoniak. Eiskalt hingegen ist es herrlich.
    Hiernach wieder zur Garibaldi-Station in die UBahn und zur Cavour; von dort aus den Miglio Sancto, schließlich La Sanità mehrfach durchzogen, nach Laune durch die Gassen, einen Caffè genommen, ah, stimmt: das >>>> Madre http://www.museomadre.it/ ! Heute, am Montag, ist freier Eintritt. Doch, leider, es gab keine neue Ausstellung, und die permanenten Werke kenne ich dort alle schon. Mehrfach gesehen, zuletzt, ecco!, im Februar. Aber hatte ich nicht… ja, ich h a t t e doch… gleich am Nationalmuseum stand dieses Schild… – : Museo Nitsch.
    Schon da, gestern, als ich es entdeckt hatte, das Gefühl: das paßt.
    Aber ich will nichts vorwegnehmen. Dieser Kommentareinschub soll ja, eigentlich, nur der Bekleidung gelten. Doch eben ein anderes noch:
    Es gibt von M.C. Escher eine berühmte Zeichnung voller Treppen, deren Verlauf de facto unmöglich ist, aber die Zeichnung selbst vermittelt uns den Eindruck einer geschlossenen Realität; auf ihre helle Weise ist sie, scheint mir, dennoch von >>>> Piranesis Carceri beeinflußt. Wenn Sie sie sich ansehen

    und legen Sie schräg an den Hang, und wenn Sie sich dann noch vorstellen, daß in die Zwischenräume dieser Treppen engste, aber hohe Hausgebilde gebaut sind, auf denen wiederum Häuschen und Nischen und Quaderkammern, so daß man die Treppen erst sieht, steht man direkt davor, dann haben Sie ein ziemlich exaktes Bild von dem Altstadt-Neapel westlich der Via Toledo, also westlich der „griechischen“ Altstadt dem spanischen Viertel bis auf den Vòmero hoch. Über den Berg hinüber sieht es ähnlich aus, wird aber mit gewonnener Höhe etwas übersichtlicher. Und auf alles, wichtig, prallt die Sonne und schärft die Kontraste. Am Gassenboden Schatten, aber die Wärme, ist sie einmal darinnen, weicht nicht.
    Ich schreibe immer wieder von „Bergen“. Es sind Hügel, colli; nur daß w i r uns unter Hügeln etwas anderes vorstellen, etwas, das mild ist und sanft geschwungen. Nicht so hier. Die Hügel sind schroff, steil, ja selbst mitten in den Stadtgebieten wild.

    (Blick auf La Sanità vom drüberbebauten „Hügel“.)

    Also zur Kleidung. Ja, ich habe mir, weil ich meinen Kopf schützen mußte, einen sehr schönen Strohhut gekauft. Allein, ich mag ihn nicht tragen. Gewiß, ich trage meine Anzüge auch hier, gern auch gegen Abend Krawatte; es sind gute Anzüge, die man allerdings in Neapel auch sehr gut bekommt; zwei Drittel meiner Anzüge stammen von hier, auch wenn die Napolitaner nur selten elegant gekleidet sind. Ich mag die Eleganz. Der Hut aber ist zu viel, vor allem solch ein heller mit der breiten Krempe. Man fällt auf als Fremder. Und mit dem schwarzen Hut, den ich aus Berlin mitgebracht habe, würde ich wie ein Film-Mafioso wirken. Was ich sinnigerweise vermeiden will. Ich will auch nicht aussehen wie die auch mir geradezu körperlich unangenehmen US-Touristen, die gestern sogar mit Gesten, als gehört sowieso alles ihnen, in Bermudashorts und TShirts, dicke Sneakers an den Füßen und eine Basecap auf, in die alte Kanalisation hinabgestiegen sind. – Und habe eine andere Lösung gefunden, nämlich das kipa-ähnliche olivgrüne Käppi, von dem meinj Zwillingsbüblein meinte, es sei ihm, dem Sechsjährigen, zu klein. Ich schnappte es mir, zog’s mir über den Schädel, und es – saß.
    Nun ist das Ding zwar aus Wolle, weshalb ich gedacht hatte, es sei viel zu warm für Napel; aber dann sah ich die vielen Schwarzen ihre dicken Wollmützen tragen und probierte mein Käppi aus. – Was soll ich sagen? Perfekt. Tatsächlich hält die Wolle die Wärme sogar ab, sie schafft zwischen Glatze und Luft eine Art von ausgleichender Klimazone. – So renne ich also nun rum:

    Der wirklich witzige Begleiteffekt ist, daß man in „einschlägigen“ Vierteln, also etwa meinem, in dem der Kleinhandel rege, nicht selten gefragt wird, ob man aus Instanbul komme; auch ein leises „Salam a’leikum“ wurde mir schon zugeflüstert. In einer derart vermischten Stadt wie dieser wird man so eingesogen, muß sich allerdings hin und wieder dann doch zu erkennen geben, wenn man nach dem Weg gefragt wird und nicht so richtig helfen kann. Doch auch in Berlin kommt das vor. Freilich, die Sprache, der Dialekt, immer wieder.
    Und noch eines hilft, nicht als Tourist aufzufallen: Kaufen Sie etwas Gemüse ein oder ein Brot und tragen Sie das, die weiße Tüte schlenkert im Rhythmus des Gehens sowieso mit, mit sich herum; am besten, das Gemüse guckt bißchen raus. Sowas schützt, vor allem, wenn man sich in den engen Vierteln etwas fürchtet. Was grundlos ist, übrigens, es sei denn, man rennt in Shorts herum und Sneakers und hat Basecaps auf dem Kopf, auf denen The Army wants you steht. Bitte vergessen Sie nicht, daß sich die Neapolitaner von den Faschisten aus eigener Kraft befreit haben, le quattro giornate di Napoli, 1943; erst danach kamen – mit Hilfe Lucky Lucianos, des Mafiosis – die US-Amerikaner, um den Schmuggelmarkt zu eröffnen. Manch darbende Napoletana – und auch, um ihre Eltern und die Brüder zu ernähren – gab sich um Päckchen Chesterfield hin, die hohe Preise auf dem Schwarzmarkt erzielten.
  2. na sowas, escher, und nitsch, zwei meiner ganz frühen sparring-partner.
    auf die würde ich in neapel auch gerne einmal treffen: aber ich beneide sie nicht, vielmehr gönne ich ihnen das von herzen!

    escher ist ja in italien am fruchtbarsten gewesen, er hat das in seinen notizen auch immer wieder unterstrichen. die italienischen landschaften von ihm gehören zum besten, was er je gemacht hat (und schlagen noch seine unmöglichen erfindungen).

    escher variation_v2_
    auch heute noch inspiriert mich escher immer wieder:
    variation auf ein thema von m.c.escher, CAD und rendering 2013

    (kann man >>>hier sogar als modell für den schreibtisch bestellen)

    und nitsch, ja – der ist ein unbeirrbarer verfechter des wahren, ein ent-kitscher des mythisch verfälschten, wie es die kirchen ja so entsetzlich zustandebringen. das kann einen jungen maler schon mal eine zeit lang sehr mitreissen, aufwecken und auch weiterbringen. ich hab ihn damals in den 80ern auch einmal getroffen, als fan ein tolles erlebnis, er ist ein so wunderbar unprätentiöser mensch, vollkommen unkompliziert und großherzig.

    c62
    ich bei meiner aktion “pfingstsonntag”
    (22. mai 1988)

    daheim bei hermann
    hermann nitschs schloßeingangstür in prinzendorf,
    auch in den frühen 80ern fotografiert

    danke für ihren bericht und die reaktivierung der erinnerungen bei mir 🙂

    1. @Ramirer zu Nitsch. Ich habe meinen “eigentlichen” Beitrag jetzt ergänzt; lesen Sie oben nach. Das Museo Nitsch spielt nunmehr eine zentrale Rolle.
      Und: Danke für Ihr Danke. Es ist ein sehr gutes Gefühl, nicht ins Leere oder ein Stummes zu schreiben, von dem man nie weiß, ob überhaupt etwas da ist. Es sind ja Stunden, in denen ich formuliere, anstelle mich, wie andere Gäste der Stadt, rein in Annehmlichkeiten zu ergehen.
      Was halt des Künstlers ist. Schon wahr.

    2. es gibt hier in mistelbach, unweit von prinzendorf, ein großes nitsch-museum, das ich demnächst wieder besuchen werde (das habe ich schon länger vor). so schön und in die landschaft eingebettet wie in napoli (das mit dem hügel im hügel ist ein wunderbares bild, das die kehre zu escher elegant nimmt) ist das nitsch-museum in mistelbach bei weitem nicht, schon weil es auch mitten in der provinzstadt mistelbach liegt, aber in meinem geiste werde ich ihre schilderungen mitnehmen, quasi im gepäck, das wird lokalen trost spenden…

      ins leere schreiben sie doch nie (und das wissen sie auch).
      aber ich verstehe schon, dass die resonanz kraft gibt. die braucht der künstler, wie jedes instrument. auch das wissen sie…

      noch schöne tage in napoli wünscht
      david ramirer

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