[Alloggio del Conte, Camera.]
Walter Benjamin schreibt von der Häßlichkeit der Stadt, sieht vom Castel S. Elmo auf sie herunter und findet, sie sehe grau aus, wie vom Berg selbst verschlungen, ihm fehlt entschieden Humanismus – beiden, ihm und dem Berg. Findet Walter Benjamin. In der Tat kann Neapel häßlich sein, alle Gebäude bestäubt mit Zement, man könnte auch von „bemehlt“ sprechen, gewälzt in Zement ohne Wasser. Es ist ein bestimmtes Licht, das diesen Eindruck besonders morgens hervorruft, wenn man auf den ersten Caffè durch die Gassen streicht, die sich, dies nun Baudelaire, den Schlaf aus den Augen reiben. Aber das Licht muß nur wechseln, schon beginnen die Farben zu tanzen, oder sie glimmen, oder die scharfen Kontraste, wenn man von unten her, etwa der Via dei Mille in Chiaia, westlich also des Pizzofalcone, den steilen Hang des Vòmero hinaufschaut, den langen, teils gewundenen Stufen der Aufstiege folgend, lassen die Kamera des Ifönchens versagen, so daß kein Bild die Tiefe erfaßt, die diese Stadt bestimmt: die blaue, strahlende Helligkeit des Meeres, die geweißte Pracht der Palazzi, die Schatten der Bassi, die Enge des täglichen Lebens, aus dem nur die Straße heraushilft, auf die hier wie drüben in den spanischen und griechischen Vierteln und denen der Mercato-Gassen manch alte Frau hinausschaut, in der wie einer Pferdebox hälftigen Tür, die obere Hälfte ins Haus geklappt, auf die untere Hälfte gestützt. Hier nehmen die alten Leute am Leben noch Teil, so immerhin, sind nicht weggesperrt, ob in Heime, ob in „Residenzen“, und die alten Herren versammeln sich wie seit je auf der Piazza.
Aber in Chiaia war ich nachmittags erst. Ich hole vor, wo ich nachholen sollte; mein Vorholn ist Teil des napolitanischen Rhythmus’. Alles verändert sich, wogt sich um, und doch bleibt etwas immer gleich.
Speccanapoli verbindet den griechischen Teil Neapels mit dem spanischen, durchschnitten von der via Toledo, einer der Einkaufs- und Flanierstraßen, die vom Berg gerade aufs Meer führt, aber von der Piazza del Plebiscito gestoppt wird und von den Bauten um den Palazzo Reale und vom ihm selbst, dem der Plebiscito sich gegenüberbreitet, wie bei uns oft daheim das weltliche Rathaus gegenüber der geistlichen Kirche. Man zeigt sich gegenseitig die Macht. In der Westwand des Königspalastes stehen als Skulpturen die Könige und Herrscher der napolitanischen Jahrhunderte, ein jeder pompös. Man muß ein bißchen lächeln, wenn man sie ansieht: So viel Ofanità! – napuletano für „Gefallsucht“. Vanitas, um es barock zu sagen. Daß Neapel nicht museal ist wie Rom, läßt uns auf Schritt und Tritt dem Tod begegnen und um so mehr, ganz wie die Kontraste, die das Licht die architektonische Enge gegen die architektonische Weite wirft, dem Leben. Man lernt hier, spürt hier, gegenwärtig zu sein. Ich kenne in Europa keine andere Stadt, die einen so sehr auf die Moderne verpflichtet, eben, weil sie sich behaupten muß, auf nichts einen letztlichen Zugriff hat – die Frankfurter hätten „verdinglichenden“ gesagt. Die Abwesenheit des Musealen, daß alles bewohnt ist und wiederbewohnt werden wird, stellt hier nichts still. Häuser gebären sich wie Menschen, und in derselben Schnelligkeit, die in der Schweiz der Geldwechsel hat, wechseln hier die Waren: Alles ist ein Tauschen, Wiedertauschen, Weitertauschen; ob man von „Handel“ sprechen kann – ich bin mir dessen nicht sicher. Es i s t Handel, ja, aber auch etwas anderes noch, als wäre das Bewußtsein, daß Kapital gefrorene Arbeit ist, hier in den Menschen permanent ein Wissen, das diese Arbeit jedesmal verflüssigt, wenn ein Gegenstand den Eigentümer wechselt: bazarisch ist wirklich das Wort. Übers unsichre Ich sprach ich schon gestern.
Spaccanapoli also verbindet die griechischen Viertel, deren Anlage sich, auch vermittels römischer Zutaten, komplett erhalten hat, die Decumani und rechtwinklig drauf die Cardines, das Straßenskelett, mit dem spanischen, das sich den Hang des Vòmero hinaufnetzt; bei und für San Domenico maggiore, mittendrin, wuchtig und schmucklos aus dem 13. Jahrhundert, hat Monteverdi komponiert, hier an der Piazza. Heute wird hier Kunstgewerbe, für Touristen, die die San Biagio dei Librai durchströmen, feilgehalten, Nippes, zu dem auch die Krippenbauerei zugleich verkommen wie schickgeworden ist – aber nie kann man sagen, was nicht doch noch wirklich lebt, Nepp und Verehrung sind verschränkt, der Geschäftspfiff und der Glaube, ja die Spiritualität.
Minutenlang stand ich und lauschte. Hätte Stunden so stehenbleiben können. Hier jetzt hatte ich die Musik für mein Stück, nach der ich doch schon in Berlin gesucht hatte, gelehrt gesucht, anstatt mich drauf zu verlassen, daß Neapel selbst sie mir gäbe. Hier war nun alles beisammen: die Collage, von der ich gestern schrieb, das In- und Aufeinandergetürmte, auseinander wogende, sich gegenseitig Behauptende, alles war im Klang: draußen, drinnen, außen, innen, man selbst, die anderen, Lachen von der Via, Flüstern im Kreuzgang, Konzentration der Etüden, ein plötzlich losbrechendes Stimmgemisch, das sowohl Streit sein konnte wie leidenschaftlich Erklärung, oder beides; die ganze Welt in einen Teppich aus Klängen geknüpft.
In die Lifts passen fünf Menschen; kommt ein Kinderwagen dazu, dann nur vier.
Wir waren fünf und stiegen oben aus.
Pizzofalcone.
Wie ein eigenes Örtchen über dem Ort, ähnlich und doch völlig anders; fast dörflich, aber Palazzi, bewohnte, kehren ihre gewaltigen Pforten, auch sehr schöne aus geblanktem Holz, zu den belebten Straßen und den seitlichen durchbruchartigen Gassen; was bewohnbar sein könnte, wird auch bewohnt, jede Vertiefung, jedes Souterrain und alles, was anderswo Museum wäre. Man kann von Nestern sprechen, Schwalbennestern, die sich nisten, wo immer ein Vorsprung Adhäsion erlaubt.
Ich wollte zum Palazzo Serra di Cassano, schritt erst ein Stückchen die Monte di Dio hinauf, orientierte mich im Ifönchen, nahm eine der Durchbruchgassen auf die via Egiziaca a Pizzofalcone zu, denn vergaß die geschlossene Pforte, schritt also dran vorbei. Es gibt kein Erinnerungsschild, nicht hier, nicht auf der Monte di Dio. Nicht einmal diesem bißchen Musealität wird entgegengekommen.
So gelangte ich an die leider abgesperrte, hinter dem Zaun brache Spitze des Felsens und konnte also nicht hinunterschauen auf Santa Lucia, nicht, wie ich’s mir gewünscht hatte. Das sich hier direkt aus dem Fels erhebende Archivo dello Stato halb zerfallen, vergessen, außer der Zeit, was besonders deutlich wurde, als ein einsamer Mopedfahrer hineinfuhr. Über dem Zaun der ferne, immer sehr nahe Vulkan. Ich konnte auch Hafen erspicken, ging die Rundgasse westlich weiter; und da gab es einen großen Blick über die Riviera di Chiaia bis nach Posillipo. Aber ich wollte dem jungen Fürsten meinen Besuch abstatten, kehrte um, und in der Monte di Dio fand ich den Eingang dann auch, nach der Erinnerung an eine Fotografie, fragte den Portier, einen jungen Mann, der lässig auf dem Plastik seines Stuhles wippte. Jaja, ich sei richtig. Selbstverständlich dürfe ich hinein – eine Selbstverständlichkeit, die mir nach meiner Erfahrung mit Donn’Anna so selbstverständlich gar nicht mehr war.
Belebt. Zwei Frauen schleppten weiße, mit Gemüse vollgestopfte Tüten. Ein Herr kam herunter, die feine Ledermappe unterm Arm. Ich stieg die erste, sehr breite steinerne Treppe im marmornen Bogen hinauf und stand vor dem Holzeingang der Fürsten Serra, ihm gegenüber, als stilisierter Jesusamkreuz, der junge principe Gennaro, der die Revolution mitgeführt hat und in der Sala capitolare, an der Piazza del Mercato – in meiner unmittelbaren Nachbarschaft – hingerichtet worden ist. Als man ihn abholte am 20. August 1799, ließ sein Vater die große Pforte auf die via Egiziaca schließen und verfügte, sie solle niemals wieder geöffnet werden.
Sie ist geschlossen. Das beeindruckte mich beinahe mehr als die auf und über der Marmortreppe angebrachten Installationen, die dort aber lebendig sind: das riesige Revolutionsbuch auf halbem Plafond, aus kupferfarbener, schwerer Bronze, wie ein meteorites Artefakt Yannis Kounellis’. Und umgeben von Leben, von Rufen aus Fenstern, von Mopedröhren, das überall hineindringt, und von Düften nach Küche, Blumen, stehendem Wasser, Katzen.
Fast ein bißchen benommen ging ich.
Weitere Bilder kommen – vielleicht – später, ich muß mich fertigmachen. Denn heute, der Titel dieses Arbeitsjournales sagt es, geht es in die Tiefe hinab. Bis zur Piazza Cavour kann ich die Metro nehmen, kann aber auch querrauf durch die Stadt zu Fuß gehen, bis ins obere Viertel Sanità, in das mich ja auch Dieter Richter empfehlend geschickt hat. Der Gang dorthin soll, erzählt mir das Navigationssystem meines Handys, rund vierzig Minuten dauern. Ich ziehe ihn der Metro vor, weil sich das Stadtbild, geht man manches sehr oft oder auch nur einiges halb davon, im Geist zusammenfügt, und weil die Anlage der Metro am wild von unter- und überirdischen Baustellen umbauten Bahnhof Garibaldi verwirrend für sich selbst ist. Außerdem kann meine deutsche Telekom jetzt mal zeigen, was ihr Travel & Surf so wert ist: Mein Weg zum Cimitero ist im Ifönchen gespeichert; ich verfolg mich, wenn’s denn sein muß, per GPS. Um 10.30 Uhr muß ich da sein: ein geführter „Sentiero“.
Wenn ich zurückkomm, erzähle ich aber von Pan zuerst. Nun lassen Sie mich losziehn. Eine Kopfbedeckung brauch ich, ein Tuch, zu binden, dürfte reichen.
Mittags:
Abermals >>>> eine Zwischenbemerkung im Kommentar.
14.10 Uhr:
[Fortsetzung der Erzählung zu gestern.]
Nach dem, was ich heute vormittag sah, fällt es mir ein wenig schwer, einen glatten Anschluß an gestern zu finden, aber ich möchte nicht allzusehr durcheinandergeraten – möchte, daß Sie nicht durcheinandergeraten, die Sie meine Eindrücke lesend mitverfolgen, „durcheinandrig“ ist’s schon genug, wird aber vielleicht nicht nur als Grundlage für mein Hörstück dienen, sondern vielleicht auch für ein Buch. Dafür, aber, käm ich abermals her und schriebe es vor Ort; in Der Dschungel wär es dann still. Es sei denn, ich schriebe es für Die Dschungel; rein zeitlich funktioniert das nicht, mein Literarisches Weblog auf stets neustem Stand zu halten und gleichzeitig, wenn ich unterwegs bin, aus diesem Unterwegs eine „rein“ fiktive Erzählung zu formen; nicht einmal zur Rythmisierung meiner Prosa bleibt mir die Zeit.
Sehn Sie, nun bin ich, derart causierend, weit genug von den Toten weg, um dem Lebendigen das Wort abermals zu reden.
Denn Napoli ist auch eine Stadt der Kunst; ihr ist nicht nur Gesang immanent. Sie ist mehr eine Stadt der Kunst als Rom, das eine Stadt als Museum ist – für den Besucher, wohlgemerkt; für die Bewohner ist Rom in allererster Linie Moloch, und nicht wenige fliehen. Auch >>>> Freund Schulze floh; vielleicht erzählt er uns davon, vielleicht sogar hierunter.
Neapels Museen, ich seh mal vom Archäologischen ab, sind von Leben durchdrungen, oft auch von seinem Provisorischen; nicht so sehr das schönste, das ich überhaupt kenne: das >>>> MADRE, von dem ich hier schon öfter schrieb, sondern ganz besonders das >>>> PAN: Palazzo delle Arti Napoli. Ein, sagen wir, Irrtum führte mich hin, der auf einer vom Netz verschuldeten Fehlinformation beruhte. In Santa Lucia nämlich sah ich dieses Plakat, das mich sofort in Beschlag nahm:
Die übliche Verwirrung beim Suchen nach der Busstation, 151, die vergeß ich nun nicht mehr. Meinem Instinkt vertrauend, der aber auch da schon hätte besser sein, mich nämlich gleich an die Hafentrasse unterhalb der Piazza Mercato führen können, vermied ich die Stazione Garibaldi, wie gesagt: der Baustellen wegen, fand auch die Busstation, nur daß die 151 dort nicht angeschlagen war. Ja, Sie haben recht: Ich hätte mir vielleicht auch die Anschläge auf der Rückseite des Fahrplanhalters ansehen sollen. Das tat ich aber nicht, sondern machte mich nun doch zur Garibaldi auf, wo er grad an der Ampel stand, dieser Bus. Ich zum Fahrer geprescht, durchs Seitenfenster nach der Haltestelle gefragt, ich Trottel, anstelle zu fragen, ob er mir nicht einfach gleich hier öffnen könne. In Napoli geht so etwas. Er war so freundlich, nicht über meinen Kopf hinwegzuentscheiden und wies nach schräg gegenüber, wohin ich dann also sprintete, mitten durch die drei oder vier Verkehrslawinen. In Neapel gilt: Augen zu und durch. Es sind gute Autofahrer, ja hupten nicht einmal, was sie sonst dauernd und mit Lust tun. Man geht vielleicht auf Berührung, aber kommt immer heile an. Nur daß der Busfahrer von gezeigten Richtungen eine andere Meinung hat als ich, eine Spezialität, übrigens, des Südens, wo es vorkommen kann, daß einem jemand auf die Frage, wo denn dies und jenes sei, mit beiden Armen die Richtung zeigt, aber entgegengesetzte. Alles, will das heißen, was du anpeilst, führt weg von deinem Weg; will sagen: wer dir den richtigen Weg weist, tätigt eine metaphysische Aussage. An sich ist das grandios, nur daß man so den Bus nicht bekommt.
Der in eine andere Richtung als die gewiesene fuhr. Weil ich sehr schnell gespurtet war, stand ich nun in jedem Fall zu weit weg. Und doch eine Lehre. Denn wohin fuhr er? Dorthin, wo ich verabsäumt hatte, mir die Rückseite des Fahrplanhalters anzuschauen.
Ergeben begab ich mich wieder dort hin; des Bus freilich war weg. Aber zehn Minuten später kam der nächste. Die schnellste Verbindung zur Riviera di Chiaia übrigens; der ich bis dato gefolgt war, auch, >>>> als ich auf den Posillipo fuhr, dauert, inkl. Umsteigen, doppelt so lange.
Drüben, an der Riviera, herrscht derzeit ebenfalls Umbauchaos, zum einen sowieso, zum andren wegen des America’s Cup; fast der gesamte Lungomare wird in zwei schmalen Spuren befahren. Aber das wußte ich bereits, stieg gut aus, spazierte Richtung Berg an der Villa Comunale vorbei, „Villa“ heißt „Park“, zumindest „Grünanlage“, und dann in ein Gäßchen Richtung via dei Mille.
Die Gassen sind nicht viel breiter als auf Neapels Ostseite, aber gewienert, alles glänzt von Wohlstand, weniger, viel weniger Orient ist hier. Wenn „Neapolis“ „Neustadt!“ bedeutet, ist dieses hier die Neuneustadt. Teure, golden mattierte Fensterrahmen. Hochelegante Frauen flanieren, auch solche über Fünfzig, die um ihren Sex sehr wissen, schlank, schwindlig hohe, und dünne, Abssätze der Pumps, schmale Beine, die diesen Frauen bis zu ihren Brüsten reichen, und damit stolzieren sie auf eine Weise, daß man begreift, daß in dem ungelenken Wort ein großer Stolz verborgen ist. Jede Erscheinung gepflegt, vielleicht auch wellnessgepflegt, mondän durchaus, aber ohne aufzutragen.
Hier abermals, sah ich den Berg hinauf, durchsah die kantenschmalen Hausgebirge, hinter jedem ein weiteres, das ihm über die Schultern schaut, dazwischen wahre Schluchten, – abermals also versagt die Kamera vor den Kontrasten, wie wenn die sich wehrten, auch sie, musealisiert zu werden, und sei’s nur in einem Album von der Reise; aber angeschaut werden, das wollen sie. Man kann gar nicht weggucken. Jedes Aufschaun eine Sensation.
Deutlich aber auch hier: daß das Müllproblem der Stadt in den Beaux Quartiers sehr viel spürbarer ist. Momentlang dachte ich: wenn’s niemand sonst tut, macht es der arme Mensch allein; die Bürger warten lieber, daß sich der „untere“ Stand erbarmt -. Ja, ich kann mich irren.
Pans Palazzo halb leer, halb gefüllt, lieblos der Aufgang, eine Disney-Retrospektive im ersten Geschoß, darüber aber, fassungslos gut, sind mit dem >>>> Premio Maretti ausgezeichnete Arbeiten, vor allem die Installationen hinreißend präsentiert, zumal man ganz alleine ist. Nicht einmal Museumswächter sind zugegen, man läßt dich und die Kunst völlig allein. Du durchschreitest einen Raum voller Luftballons, teils hat sie der Luftzug in andere Räume getrieben. Besonders beeindruckend, mich, der „tragbare Insektenfriedhof“ von Alice Schivardi: zweieinhalb mal zweieinhalb Meter wadenhoch ausgestanzter Rasen, darauf mit Erde ein Kasten gefüllt, den tote Insektenkörper bedecken, teils sind es nur die hohlen Schalen; daneben, auf dem Rasen, kleine Särge ohne Deckel:
Über sechstausend Quadratmeter Ausstellungfläche verfügt der PAN, enorm viel, noch, ist ungenutzt.
Jetzt hatte ich Lust, über den Vòmero zu steigen, hoch hinauf durch die Gassen. Und tat’s. Halb im Rücken das Meer. Höher, immer höher. Wirklich langte ich am Corso Emanuele an, den ich schon lange kenne und früher oft spaziert bin. Einmal nahm ich, für eine Station, die Funicolare centrale, die Zahnradbahn in und aus dem Berg, Petraio, aber nur, um Töne aufzunehmen; ein Geiger tat mir den Gefallen und spielte im Waggon. Beim Aufstieg immer wieder Frauen, die müde aus den Fenstern schauen, teils der niedrigen der Bassi, teils hoch von oben herab aus den hohen Mietshäusern über den Schluchen und Fluchten der wie endlosen Treppen: Abgänge, Aufgänge, teils gewunden, teils wie eine Sciacca:
Als ich eine Discesa absteige, fragt hinter mir ein mittelaltes Touristenpaar eine Frau, auch sie auf ihren Fenstersims gestützt, nach dem Weg. „Wie?! Zur Toledo? Zu Fuß?“ Mir ist, wie wenn sie sich bekreuzigt. Weshalb es, das Paar, denn nicht die Funicolare nehme, die führe direkt hin… Nein, die beiden wollen gehen, wie auch ich. Also gibt die Frau schon nach, aber empfiehlt „sempre diritto“, immer geradeaus, was schreiend komisch ist, wenn jeder Abgang sich windet und abermals windet.
Zwischendurch, über die Schluchten, stets neu der Blick auf das Golfblau, Capri, mal Posillip, je nach Windung auch schon Hafen, Stazione marittima, nicht Beverello, der Osten mit dem Vulkan. Auch hier, in Napule, wie in Positano, geht man nicht, sondern k l e t t e r t spazieren.
Da tut sich das spanische Viertel auf, ich bin fast daheim. Man möge darauf achten, erneut in den von Wäscheleinen und daran hängenden Hemden, Hosen, Handtüchern überspannten Gassen, daß der Müll um pünktlich 20.30 Uhr abgeholt werde. Allüberall Hinweise auf Sauberkeit, bitte das Ambiente ehren, teils handgeschrieben, teils grob auf DIN A3 gedruckt.
Ich steh auf der Via Toledo.
Nun noch einmal zur Piazza San Domenico, wo Monterverdi komponierte. Schräg und nach Instinkt hindurch und heim. Den Abend nutze ich für mein kleines Mahl auf „meiner“ kleinen Terrasse.
Zu den Toten gehen.
Neapolitaner haben ein eigenes Verhältnis zum Tod. Zum Beispiel kann es vorkommen, daß sie ihn um Hilfe anrufen. Sie sind mit ihm übers Wasser verbunden, das oben fließt und unten. Die Häuser hatten tiefe Brunnen, bisweilen vierzig Meter zum Grund hinab, und es gab ihre Besorger, die man aus der Tiefe heraufsteigen sah. Unter der Erde befinden sich Friedhöfe, das Katakombensystem reicht über achtzehn Kilometer hin und schützte auch Leben: im Krieg war es als Bunker genutzt.
Ich breche also auf, es ist jetzt, als Erzählzeit, 9 Uhr am Samstagmorgen. Auf der schon sonnenbeleuchteten Via Duomo fegt ein Ladenbesitzer den dünnen Stamm eines Bäumchens sauber, fegt und fegt, das mit anderen in Reihe sein Geschäftchen schmückt. Und auf der via Vergine, bereits Rione Stella, trägt ein Mann einen Hut voll toten Seegetiers: Seesterne, Muscheln, sogar Garnelen. Dies Sterben begleitet, mit gutem Leben, meinen Weg wie der Zahnschmerz; ich denke, er sei Teil des Lebens, und akzeptiere ihn, trage ihn mit, er stört mich gar nicht weiter. In einen Palazzo, bereits Sanità, trete ich ein, tret’ auf den Hof, der wie der Bau verfallen; aber schmückend geschmückt sind noch immer die Kuppeln hinter den Bögen der hohen, doch leeren Geschosse. Gleichwohl sind einige Wohnungen wirklich bewohnt.
Ritornato all’alloggio, ore 12.45.
Zum Friedhof der Quellen nachher; Michele hat gerade zu einem kleinen Pranzo gerufen, indessen ich, der am Mittwoch wieder zurück nach Berlin fliegt, auf den Dienstag abend zum Essen gebeten habe. Welch ein Glück, Leserin! denn nun, zum ersten Mal, darf ich selbst in Napel kochen. Es tat meinem Herzen immer weh, über die Märkte zu schlendern, doch nichts, so gut wie nichts, das zuzubereiten wäre, nehmen zu können. Gern geb ich nun einen halben Tag daran.
Neapel, wie alle anderen Metropolen, die Metropolen sind, ist auch gerecht: ein jeder kann hier leben, weil die Preise der Lebensmittel teil unfaßbar niedrig sind. Sofern man selbst, ecco!, kocht. Essen zu gehen hingegen ist teuer, nicht unbedingt im Vergleich mit, sagen wir, Frankfurt am Main oder gar München, zu Berlin aber in jedem Fall.
Gestern abend fand ich auf dem Rückweg einen Bauern, der auch Wein verkaufte, selbst mit Sektstöpsel verkorkt; ich nahm eine Flasche mit. Im Alloggio bekam sie Michele in die Hand, zog die Brauen zusammen, „posso?“, öffnete, schnupperte, und ein Lächeln ging über sein Gesicht. „Buono“, sagte er. „Dieser Wein ist hausgemacht.“ Was ich mir sowieso schon gedacht hatte; ich kenne diese Art Flaschenplombierung gut aus Olevano Romano; der dortige „Cesarese“ allerdings „spumantet“ sehr viel mehr. Allora, nachdem ich diesmal von der Cavour aus die Metro genommen – Sie dürfen sich die nicht wie bei uns UBahnen vorstellen, sondern die Züge erinnern an unsre Regionalbahn -, nur eben eine Station bis zur Garibaldi, weil ich dort gleich schauen wollte, wo der Bus zum Flughafen abgeht, falls man die Haltestelle verlegt hat – das hat man aber nicht -, nachdem das im Fluge erledigt war, ich mir auch schnell noch einen Strohhut, bei den Schwarzen des hinteren Bahnhofsviertels, von sieben auf sechs heruntergehandelt, fünf wäre auch noch dringewesen, aber da wär ich mir schofel vorgekommen; ich habe selbst nicht viel Geld, aber seien wir ehrlich: im Vergleich mit diesen Menschen sind wir alle reich -, – nachdem also auch das erledigt war, ging ich weiter auf Instinkt, um die kleine Piazza mit meinem Weinbauern wiederzufinden. Und fand sie. Wer sehr viel zu Fuß geht, bekommt eine so irre Sicherheit, daß sie allen blöden Zahnschmerz überstrahlt; man merkt ihn rein gar nicht mehr. – Drei Flaschen hab ich gekauft, weil er, entgegnete er auf mein „à lunedì!“ am Montag geschlossen habe.
als moloch ist mir rom nie erschienen, da muß ich abwinken. die flucht hat eher mit einem wunsch nach weite und befreiung von lästigen nachbarn zu tun und manchem anderen, was eher persönliche hintergründe hat. dahinter steckt kein programmatisches rom-feindbild. seit ich in dieser gegend lebe, hat sich mein rom-bild zunächst zum positiven gewendet, aber mitterweile herrscht eher ein gefühl der gleichgültigkeit der stadt gegenüber, die sich nur noch an personen knüpft, die mir lieb und dort leben. immerhin die stadt, in der ich am längsten weilte. – außerdem lebt “man” dort nicht im museum, sondern wahrscheinlicher in irgendeinem allerweltsviertel (also in seinem jeweiligen kiez), und ins museum zu kommen, kostet immer bus- oder auto-/parkplatz-geduld, die oft alle geduldsfäden aufs höchste strapazieren.