[Alloggio del Conte, Rione Mercato (Quart. Pendino).]
Ich war also schon draußen für meinen ersten Caffè, machte zum zweiten Mal den „Fehler“, mir einen Latte macchiato zu bestellen, und abermals traf mich ein Blick wie von mit einer Spur von Verachtung durchsetztem Mitleid. Man trinkt den Caffè wie Caffè: als, wie wir sagen, Espresso also, mit oder ohne Zucker, aber erlaubt sich die Weichlichkeit nicht der Milch. Er ist s e h r schwarz im Pendino, s e h r stark, fließt wie Erdöl, zumal dem, der ihn süßt. Und heiß ist er, du verbrühst dir die Lippen: erster Kuß jedes Tages, das reimt sich, der beißt. Und ich begriff, daß die dieser Stadt einzig angemessene Kunstform die Collage ist; genau deshalb spüre ich nicht nur den Impuls, meine Fotografien zu collagieren, was ich, wie Sie sehen können, oft auch tu‘, sondern fast einen Zwang: weil alles, das aus einem Blick etwas Spezielles herausnimmt, sei es ein Gebäude, sei es ein Mensch, sei es eine Wand, dieses Spezielle verfälscht, zumindest ihm und dem, was es umgibt und woraus es gelöst wird, nicht gerecht wird. So ist hier gebaut, so wird hier gelebt; deshalb ist zwar der Posillipo, von dem ich gestern erzählte, ein Teil von Neapel, aber ohne Neapel wäre er nicht, wär nicht das, was er ist, sondern Liegenschaft auf, sagen wir, Sorrent: abgeschieden und ohne lebendige Bedeutung – so, wie mir gestern am Telefon der Profi erzählte, als ich vom America’s Cup, der hier stattfinde, berichtete: er winkte gleichsam müde ab: Veranstaltung für Leute, die zeigen wollen, wie reich sie sind und daß sie sich Hightech-Yachten leisten können, deren Spezialisierung es ihnen nicht einmal erlaubte, von Hamburg nach Helgoland zu segeln. Sie brächen in der Dünung durch, seien rein fürs schöne Wetter gemacht, wenn das Wasser glatt wie stehender Honig; „auch ein Formel-1-Rennwagen schaffte nicht den Weg vom Kanzleramt auf den Prenzlauer Berg; so ist es dort mit den Booten“.
Andererseits ist man doch konservativ, hier, in Neapel; die liberalen Ideen des 18. Jahrhunderts, übrigens auch in Frankreich anfangs allein von Intellektuellen entwickelt, getragen und verbreitet, wurden hier, anders als dort, quasi dekretiert von den führenden Ständen, dem – sofern sich davon schon sprechen läßt – „gehobenen“ Bürgertum und einiger Aristokratie. Es gab eine frühe Repubik, 1798, die Parthenopäische, wenige Monate lang; dann kamen die >>>> Sanfedisten, dann kam ein ungeheures Blutbad, angerichtet von eben diesem freiheitsliebenden Volk. Unweit von hier, wo ich jetzt schreibe, wurden Menschen geschlachtet und geröstet, das Fleisch auf den Garküchenstraße gegessen. So jedenfalls Berichte. Der Sanfedismo war katholischen Ursprungs, von der Kirche, quasi, subversiv geführt, die bis heute auf nicht ganz andre Weise leitet. „Hier wurde“, schreibt Walter Benjamin 1924, und er meint Neapel, „Alfons von Liguori geboren, der Heilige, der die Praxis der Katholischen Kirche geschmeidig gemacht hat, sachverständig dem Handwerk der Gauner und Huren zu folgen, um in der Beichte, deren dreibändiges Kompendium er schrieb, es mit gespannteren oder läßlicheren Kirchenstrafen zu kontrollieren. Sie allein, nicht die Polizei, ist der Selbstverwaltung des Verbrechertum, der Kamorra, gewachsen.“ Nicht „ist“, sondern „wäre“ muß das heißen, wenn es denn eine „Kirche der Befreiung“ gäbe in Italien, vielleicht aber auch so nur, wie der tapfere Don Antonio Loffredo, der“, schrieb mir >>>> Dieter Richter, „Priester von Santa Maria della Sanità, der eine Jugend-Kooperative „La Paranza“ (siehe >>>> Website) ins Leben gerufen hat, die dort allerlei auf die Beine stellt, um aus Gomorrha zwar nicht Il paradiso, aber eben wieder La Sanità zu machen.“ Den Heiligen, vielleicht, würde geglaubt. Heilige, aber, weltliche Heilige, sind andere auch, den Jugendlichen nämlich; es sind die Stars des Pops, den sich „il sistema“ zur Zeit, noch einmal Benjamins böses Wort, „geschmeidig“ macht: >>>> Neomelodici.
Dem gegenüber die Freundlichkeit, Herzlichkeit, ja Unbefangenheit, mit der man aufgenommen wird – wie gestern abend ich zur Cena, quasi, wo es immer wieder hieß „una familia“, zu der nun auch dieser Fremde gehörte, der ich trotz allem hier doch bin. Den Anlaß für die Einladung bekam ich überhaupt erst gegen Ende des Abends heraus: Micheles kleiner Neffe wurde acht. Da saß ich dann mit der Tante, der Großtante, dem Onkel, der Padrona des Hauses und dem Padrone beisammen, und wir speisten vorzüglich Pasta alla vongole mit zudem gereichten Garnelen, danach Doraden, dann erst kam der Geburtstagskuchen. Eine Diskussion entspann sich, leidenschaftlich, manchmal dachte ich, der Nordeuropäer, gleich kippt das in Streit, aber es fing sich sehr bald wieder, man gehört zueinander, trotz der politischen Differenzen insbesondere zwischen der jüngeren Tante und dem älteren Mann, der von der Arbeitslosigkeit sprach, der horrenden, darauf beharrend, daß die Republik Italien doch in der Verfassung schon auf Arbeit gegründet sei, a l l e r; was solle man tun, wenn’s keine gebe? Die Wogen schlugen hoch, als Mussolini – ausgerechnet! aber ich habe das immer wieder gerade im Süden erlebt – ins Gespräch geworfen wurde. Anlaß war aber etwas ganz anderes gewesen. Hier fahren auf einem hochfrisierten kleinen Motorrad auch schon Kinder herum, sieben-, achtjährige, und sie fegen wirklich wie röhrende Blitze durch die Passanten, alles andere als ungefährlich. Gestern wurden sie von zwei aber eher müden Carabinieri verfolgt, deren blauweißer Polizeiwagen in den engen Gassen indes gar keine Chance hat; wahrscheinlich waren sie deshalb so müde. Die Kinder röhrten und jagten und pesten nur so um die Ecken und mitten in die Pulks von Menschen hinein, jubelnd dabei, wenn diese Menschen erschrocken auseinanderpesten. So ging das einige Zeit immer im Rund.
Die Damen nun des Abends fanden das unmöglich, verantwortungslos; es sei gegen das Gesetz. Michele verteidigte die Kinder und ihre Eltern: es sei rein deren Sache, ob man die Kinder fahren lasse. Er solle sich nicht einmischen, der Staat, der ja nicht einmal, und nun ging das politische Gespräch los, für die Arbeit sorge, die er versprochen. Er hat auch die Bereinigung des Müllproblems versprochen, aber ist durchwirkt vom „System“ wie das einfache Volk von der Kirche, und in den oberen Etagen geben Kirche und das System sich die Hand. Das zum Beispiel hätte nun ich sagen können, als Michele sich, um weitere Argumente bemüht, an mich wandte: „Was sagst denn du, Nicolà, dazu?“ Er ist von „Nikolai“ unterdessen zu „Nicolà“ übergegangen; die Damen hingegen bevorzugen „Alban“, Albanos, des Sängers, wegen, den sie verehren: Der habe solch eine Stimme! – Aber wie Sie’s nun auch drehen mögen, ob als Pfiffigkeit, ob als Schwäche -: es tue mir leid, doch um solch komplizierten Zusammenhang mitzudiskutieren, ermangl‘ es mir an Sprache, der italienischen also. Jedenfalls so kam ich aus meiner Klemme raus.
Der Streit ebbte aus. Wir gingen auf die Terrasse, wo andere Hotelgäste saßen, und wurden mit ihnen porös: durchdrangen uns. Der Wein wanderte weiter, nunmehr meiner. Man trinkt hier nur sehr wenig, auch zum Essen, die Gläser, kleine Wassergläser, werden kaum drittels gefüllt. Auch das kenne ich aus dem Süden sehr gut: wie Betrunkenheit vermieden wird.
Die Napoli wirklich angemessene Kunstform ist die Collage. Ich kann das mit Fotografien zeigen, wahrscheinlich auch mit Text, muß aber einen Ansatz finden, dies hörbar zu machen in meinem Radiostück. Und wieder habe ich das Aufnahmegerät, während ich dies schreibe, mitlaufen lassen, hinaus auf die Gasse gerichtet. Es wird viel auszuwerten sein in Berlin.
Die Dusche jetzt, mich umziehn, dann über Spaccanapoli zur Via Toledo, diese hinunter über die Piazza del Plebiscito auf den Pizzofalcone, um den Palazzo Serra di Cassano zu besuchen, dessen große Pforte der Vater Gennaro Serra di Cassanos hat für immer verschließen lassen, nachdem man seinen Sohn, einen jungen Führer und Denker der Repubblica Partenopeia von 1789, zur Hinrichtung abgeholt hat, die unweit von meinem Alloggio eben dort stattgefunden hat, wo vor ihm schon Masaniello hingerichtet wurde: auf der Piazza Mercato vorm – heute hinteren, d.h. östlichen – Hafen, wo sich seeseits die grauen Lagerhallen hinziehn.
Als ich morgens von meinem Caffè`in der Bar heimkomme, tiptoe’nd auf mein Zimmerchen will, steht im türkisen Schlafanzug Michele vor mir und hat seinerseits einen Caffè für mich bereitet. Und eben, noch so ein Zeichen dieser Porosität meines Privaten mit dem seinen, und weil ich auf der Terrasse sitze und arbeite, die eben ein öffentlicher Raum ist, bringt er den zweiten Caffè, sieht den Bildschirm meines Laptops, ruft etwas im Dialekt, ist weg, kommt wieder – und wischt den Bildschirm sauber. Und beide, aus einem Herzen, das so tief ist, bis in den Bauch zu reichen, fangen wir zu lachen an. Er jedenfalls, beharrt Michele, brauche Caffè, wenn er arbeite – und überträgt das ganz selbstverständlich auf mich. Wieder einmal muß ich an लक्ष्मीs Tante denken, die, als wir sie in Agra besuchten – Jahre ist das her! und ich kann es nicht vergessen -, mich einmal kurz beiseite nahm, sehr ernst ansah und dann fragte: „Wo fange ich an, wo höre ich auf?“ Wo fängt Ich an, wo hört Ich auf: radikalste Frage an die europiden Mentalitäten der Trennung.
Ich habe mir eingangs dieser Journale die Frage gestellt, was es denn sei, das ich so liebe an dieser Stadt. Dieses gehört hinzu: daß sie Trennung unterläuft. Wenn, was ich auch schon erzählte, Neapel die „erste Stadt der Dritten Welt in Europa“ sei, dann meint das für mich sehr viel weniger ihre, unfraglich, ökonomische Misere als daß sich die Subjekt-Objekt-Beziehungen hier bereits auflösen. Wenn ich mein literarisches Werk überschaue, soweit es bisher existiert, ist genau dieses einer seiner Motoren fast seit jeher – und vielleicht sogar o h n e dieses „fast“.
Ich stehe auf dem Posillipo, stehe auf der via Posillipo und sehe zum Vulkan hinüber, dem schlafenden. Er muß sich nur regen, und alles wird zerfallen, jede dieser prächtigen Villen ist wie wir selbst dem Tod preisgegeben. Ich sehe die Trümmer schon, aber, >>>> wie ich heute früh las: einer lebenden, lebendigen „Freilichtbühne, auf der das Alte obsolet, das Neue provisorisch wirkt und nur der alles überstrahlenden Natur des Golfes Dauer zukommt“ (Christof Thoenes). Dafür, als ein Fremder, der fremd bleiben w i r d, dennoch aber dazugehört, möchte ich die, nein… n i c h t „die“, sondern eine Poetik finden.
[Zwischenbemerkung >>>> um 15.30 im Kommentar.]
20.55 Uhr:
[Alloggio del Conte, Camera.]
Mit ein bißchen Pech werde ich hier zum Zahnarzt müssen; mit ein bißchen Glück bleibt das dumpfe Pochen gelinde. Meine eigene Schuld; ich wußte schon in Deutschland, daß ich überfällig war. Andererseits würd es zu mir passen, die Porosität auch körperlich sich vollziehen zu lassen, durchaus eingedenk des schiefen Witzes, der in meiner Zeit in der Villa Massimo kursierte: „Was tust du, wenn du in Italien krank wirst?“ Einen Augenblick wird gestutzt, der Frager selbst gibt die Antwort: „Du rufst die Lufthansa an.“ So viel zu dem, nichts darüber hinaus.
Aber die Fotos, so schön sie sind, nerven ein wenig, weil ich sie eigentlich nur zu meiner Gedächtnisstütze aufnehme, ich bin ja kein Fotograf, und dann brauche ich doch wieder ganze halbe Stunden, um sie einzustellen. Dabei geht es mir viel weniger um äußere als um innere Bilder: Filme, die eine Erzählung bewirkt, ungefähre Bilder, weil alles, was wir sehen und wir wir es erleben, zu einem Teil auch kreative Projektion ist; Fotos hingegen schreiben uns fest.
Dennoch.
Neapolitanerinnen standen seit dreivierfünf Jahrhunderten im Ruf besonderer Sinnlichkeit und Schönheit. Eigentlich ist das – im Vergleich zu anderen europäischen Städten – nicht sonderlich zu merken, vielleicht nur nicht mehr, wenn man von den englischen absieht. Aber es hieß, so jedenfalls Boccaccio, manch ein Mädchen sei als keusche Lukrezia hierher gekommen, als Kleopatra aber zurückgekehrt. Seit der Antike gehe das so.
Nun ist Armut ein Widersacher der Schönheit. Politische Korrektheit erlaubt uns nicht, das zu schreiben, aber reiche Menschen – wenigstens solche aus wohlhabenden Elternhäusern – sind in aller Regel, und zwar deutlich, schöner als arme; dem ökonomischen Unrecht entspricht die Ästhetik: Sie affirmiert es. Zumindest halten begüterter Menschen ihr gutes Aussehen länger. Was man leicht begreifen kann, wenn man die Umstände vor Augen hat, die das arme Leben quält. Meine Kleopatra also war entweder von ihrem date im Virgiliano gekommen – dafür sprach ihre Jugend -, oder sie wohnte auf Posillipo – dafür sprachen ihre Haltung, ihre Kleidung, ihre Gestik und nicht zuletzt die selbstbewußte Arroganz ihres Blicks. Ein armer Mann, der hier herumlungerte, versuchte, sie vermittels einer Berührung anzugraben; sie schritt durch ihn hindurch, und er zog sich zurück wie ein getretener Hund, nur daß er nicht jaulte.
Ich war versucht. Doch wie gesagt, mein Italienisch… – Sie warf nicht, sondern versteckte die Blicke, ich tat’s ihr gleich. Also sowas von verloren. Man kann daran wahnsinnig werden, erotisch nicht satisfaktionsfähig zu sein – wäre es nicht zugleich so komisch, so daß man weiß, welch eine schöne Geschichte sowas ergibt, und zwar immer wieder, in jedem fremden Land.
Wir rückten einander sogar näher im Bus; sie setzte sich, ich setzte mich. Sie wandte, auf ihre Buchkopien gesenkt, sich mir zu. Klar, Studentin, ich hatte’s mir gedacht. In Deutschland hätte ich sie angespottet: „Meine Güte, jede Zeile highlinern Sie!“ So war es nämlich. Anstelle ihrer Exzerpte später, die quasi das ganze Buch abschreiben würden, wäre es sinnvoller gewesen, es gleich auswenig zu lernen. Ich tippte auf Jura, schon, weil der Bus diese Richtung nahm; aber ich konnte meine Vermutung nicht verifizieren, weil ich vorher ausstieg. Aber ich schaute noch, direkt vor der Galeria, die den Pizzofalcone unterschneidet, ob sie noch mal nach mir sah.
Tat sie nicht, stur das Gesicht, geradezu zickig, hinab aufs Papier. Wahrscheinlich war ich einfach nur uninteressant. Schon komisch, wie uns so etwas lockt.
Ach Kleopatra – nein! sondern Parthenope-selbst, wiedererstanden: afrodite partenopeia.
So weit meine affaire d’amour. Es will mir als eine ihrer Folgen erscheinen, daß heute zunehmend mehr Aphroditen erschienen – Schönheit, die mir zuvor nicht aufgefallen war. Ich bastle vielleicht ein Gedicht.
Mehr, von Gennaro Serra die Cassano etwa, morgen, ebenfalls vom PAN, das ist der Palazzo delle Arti di Napoli; wenn etwas Pan heißt, muß ich hin. Und davon, daß man, beginnt man, diese Stadt zu kennen, sie wirklich auch übern Berg durchschneiden kann; Wege von normalerweise einer Stunde dauern dann nur noch dreißig Minuten. Man darf sich nur nicht verlaufen in den Gassen, sondern muß sicher nach Instinkt gehn.
Vielleicht aber auch übermorgen erst. Es ist sehr viel passiert. Lesen Sie diese Aufzeichnungen bitte als Skizzen für etwas, das werden könnte, Irrealis, das sich auch auffüllen könnte, meinethalben sogar mit einem – wie geht das Wort? ah richtig! – Plot. Nicht alles, weil ich auch (das Wort ist emphatisch gemeint:) leben möchte, kann ich ad hoc zu Festplatte bringen, nicht mangels Willen, sondern Zeit. Und außerdem: Morgen geht es erstmal hinab:
15.30 Uhr, Nachsiesta. Eingefangene Töne überspielt, im Kreuzgang des Konservatoriums via San Pietro à Maiello wußte ich plötzlich: Ich habe für das Hörstück die Grundmusik. Sie vermischt sich aus den Klängen von draußen und drinnen, entspricht als erlebter, teils gestalteter, teils „zufälliger“ Ton genau dem Stadtbild, das ich vermitteln möchte. – Zu Pizzofalcone später.
Will wieder los.